Vierzehntes Kapitel

Riesig und dunkelrot ragte das Cooper Institute vor Annett auf. Sie hatte noch nie ein so gewaltiges Gebäude gesehen, imposanter noch als die hochaufragende Trinity Church, das höchste Bauwerk von ganz New York. Sie zahlte den Kutscher, blieb einen Augenblick auf der Straße stehen und blickte bis zum Dach empor. Für einen Augenblick wurde ihr schwindelig, und sie staunte darüber, dass ein Haus so hoch sein konnte, dass menschliche Blicke es kaum erfassen konnten. Dann raffte sie mit einer Hand ihren Rock und begab sich zum Eingang. Mit goldenen Lettern stand der Name des Instituts über der Doppeltür, die sich genau an der Ecke Third Avenue und Astor Place befand. Ein Schild im Inneren, gleich neben dem Eingang, informierte zunächst darüber, wer Peter Cooper, der Namensgeber des Instituts, war. Cooper hatte nie studiert oder wenigstens ein Technikum besucht. Alles, was er wusste, hatte er sich selbst beigebracht. Als Annett dies las, musste sie unwillkürlich lächeln. Cooper hatte die erste Dampflokomotive Amerikas gebaut und dann dieses wundervolle College gestiftet. Hier wurden sogar Tageskurse für Frauen angeboten, wie Annett mit einem plötzlichen Kribbeln im Bauch feststellte. Sie schlenderte durch die beeindruckende Eingangshalle, besah aufmerksam jeden Anschlag, nickte zwei jungen Frauen freundlich zu, die kichernd und eingehakt an ihr vorbeiliefen. Sie hatte es nicht eilig, wirklich nicht. Die Halle war schön, groß und hell. Es roch ein wenig nach Büchern und Kreide, und Annett hatte augenblicklich den Eindruck, in längst vertrauter Umgebung zu sein. Sie bildete sich ein, sie wäre auf dem Weg zu einem Kurs in höherer Mathematik, und sie konnte förmlich die Mappe mit Block und Stiften unter ihrem Arm fühlen. Doch dann schlug eine Uhr die halbe Stunde, und Annett erschrak. Sie hatte Arthur Munroe nun schon dreißig Minuten warten lassen. Und auch wenn sie hoffte, dass er mittlerweile gegangen war, so hätte das vermutlich ungeahnte Konsequenzen für den Ruf der Brücke. Also raffte sie ihren Rock mit beiden Händen, eilte durch die Eingangshalle zu einem kleinen Café, welches so angelegt war, dass es auch für Frauen ein Ort der Erholung war, und sah sich um. Ihr Atem ging heftig, und die Eile hatte ihr die Wangen rot gefärbt, aber ach, Munroe musste schon gegangen sein! Hier saßen nur zwei Männer. Einer davon trug einen weißen Kittel und hatte die Hände voller Kreidestaub, und der andere, Herrgott, das war kein Mann, das war ein Jüngelchen, dem kaum der Bart spross. Wahrscheinlich gehörte er zu denen, die hier eine Ausbildung bekamen. Noch einmal ließ Annett ihren Blick schweifen, und als das Jüngelchen ihr zuwinkte, wandte sie sich hoheitsvoll ab. Was glaubt der denn?, dachte sie empört. Sehe ich etwa aus wie eine, die sich ansprechen lässt? Für einen winzigen Moment schoss ein Gedanke in ihr hoch, der gut von ihrer Mutter hätte sein können: So ein Ort ist eben doch nichts für ein junges Mädchen. Doch dann musste sie lächeln. Sie war nicht mehr in Mühlhausen, nicht mehr in den engen Gassen und den kleingläubigen Köpfen zu Hause. Sie war in New York, der aufregendsten und modernsten Stadt der Welt.

«Verzeihen Sie mir bitte: Sind Sie vielleicht Miss Singer?»

«Bitte?» Annett fuhr herum. Vor ihr stand das Jüngelchen.

«Miss Singer vom Chefbüro der Brooklyn Bridge. Sind Sie das?»

Miss Singer vom Chefbüro der Brooklyn Bridge. Das klingt nicht schlecht, dachte Annett, betrachtete das Jüngelchen noch einmal von oben bis unten und nickte hoheitsvoll. «Haben Sie eine Nachricht für mich?»

Das Jüngelchen lachte. «Nein, das habe ich nicht. Ich warte nur schon eine halbe Stunde auf Sie. Gestatten? Ich bin Arthur Munroe von der New York Times.»

«Sie?», entfuhr es Annett.

Munroe verzog ein wenig beleidigt den Mund. «Ja, ich, wenn Sie nichts dagegen haben. Wollen wir uns setzen? Ich habe einen Tisch dort hinten, da sind wir ganz ungestört.»

In Mühlhausen hätte dieser letzte Satz beinahe anzüglich geklungen, aber hier in New York hieß er nur, dass man bei der Arbeit nicht unterbrochen werden wollte. Annett setzte sich, schon kam der Kellner, und sie bestellte etwas, das sie noch nie in ihrem Leben getrunken und worüber sie nur in einer von Emilys vornehmen Zeitschriften gelesen hatte, nämlich Irish Coffee. Natürlich hatte es auch in Mühlhausen Kaffee gegeben, aber dort war es ein Getränk für die reichen Leute gewesen, für die mit Lebensart. In ihrem Elternhaus gab es Kaffee nur an besonderen Feiertagen und dann auch nur für die Erwachsenen. Die anderen mussten sich mit Kaffeeersatz aus Zichorie oder Malz begnügen. Bei den Roeblings gab es zwar jeden Tag Kaffee, so viel man nur wollte, aber Irish Coffee war noch nie dabei gewesen. Jetzt also bestellte sie sich einen solchen irischen Kaffee. Als er kam, nahm sie die Tasse am Henkel, betrachtete hingerissen die Sahnehaube, spreizte den kleinen Finger ab und trank einen Schluck. Auf der Stelle musste sie husten – der Kaffee war viel zu heiß und überdies reichlich mit irischem Whiskey verdünnt – und sprühte nun über den halben Tisch. Arthur Munroe reichte ihr sein Wasserglas, und sie nahm es und trank es eilig in einem Zug leer. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund, zwinkerte die Tränen weg, die ihr der Husten in die Augen getrieben hatte, und wandte sich entschlossen an Arthur Munroe: «So. Was möchten Sie wissen?»

Munroe betrachtete sie amüsiert, winkte der Kellnerin, die den Tisch von den Kaffeeflecken säuberte und eine neue Decke auflegte, und fragte dann: «Was gibt es denn Neues und Interessantes beim Brückenbau? Und wer genau sind Sie eigentlich?»

Annett reckte das Kinn. «Ich bin, wie Sie ja schon wissen, Annett Singer, die rechte Hand von Emily Warren Roebling.»

«Ach so?» Munroe betrachtete sie erstaunt. «Ich dachte bis vor kurzem noch, dass die hübschen Frauen nicht unbedingt die schlausten sind.»

«Pft», machte Annett und drehte sich weg. Dann schob sie die Tasse ein Stück von sich. «So beurteilen Sie also die Frauen, ja? Nun, wenn ich diesen Maßstab bei Ihnen anlege, so sehe ich vor mir einen Mann von absoluter Durchschnittlichkeit.» Sie schob trotzig die Unterlippe vor. Wenn er jetzt empört aufstünde und ginge, dann war es eben so. Emily würde das sicher verstehen. Außerdem war die New York Times bestimmt nicht die einzige Zeitung in dieser riesigen Stadt. Sie warf den Kopf ein wenig zurück und achtete dabei darauf, dass ihr Hut nicht verrutschte. Arthur Munroe aber starrte sie einen Augenblick lang vollkommen verblüfft an, um dann mit weit offenem Mund zu lachen. Er lachte so herzerfrischend und laut, dass sich Annett ausgelacht vorkam. «Was brüllen Sie hier herum wie ein Stier?», fauchte sie ihn an. «Halten Sie an sich, die Leute gucken schon!»

Aber Arthur Munroe lachte weiter. Als er sich endlich beruhigt hatte, nickte er jedoch respektvoll. «Eine junge Frau, die es wagt, einem Mann Kontra zu geben. Sie mögen zwar aus Deutschland sein, aber Ihr Benehmen ist schon jetzt das einer echten New Yorkerin.»

Annett fühlte sich geschmeichelt, wenngleich sie nicht wusste, ob Arthur Munroe das als Kompliment gemeint hatte. Jedenfalls lächelte sie ein wenig, stützte die Ellbogen auf den Tisch und fragte: «Was wollen Sie über die Brücke wissen?»

«Nun, zunächst einmal interessiert mich, wie es dem Baumeister Washington Roebling geht. Hat er sich ein wenig erholt?»

«Ich denke, es geht ihm so gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann», erwiderte sie ein wenig hochmütig. Sie hatte diesen Satz einmal den Mühlhausener Arzt sagen hören und fand jetzt, dass er gut passte.

«Wollen Sie damit andeuten, dass sich sein Befinden nicht gebessert hat?»

Annett zuckte vage mit den Schultern. «Es gibt gute, und es gibt schlechte Tage», zitierte sie wieder den Mühlhausener Arzt.

Munroe gab sich zufrieden. «Und sonst? Wie weit ist der Bau vorangekommen?»

Annett schloss für einen Moment die Augen. Emily hatte ihr genau gesagt, was sie Munroe vom Bau erzählen sollte. «Es hat sich einiges getan. Es würde mich wundern, wenn Sie es nicht schon bemerkt hätten. Die beiden Türme sind fertig. Der Brooklyn-Turm steht ebenso fest wie der Manhattan-Turm, die beiden riesigen Ankerblöcke sind gegründet und gemauert. Jetzt beginnen die Vorbereitungen zur Herstellung der Kabel.»

Munroe hatte einen Block auf den Tisch gelegt und machte sich Notizen. «In welcher Kabelfabrik werden die Drähte gesponnen?»

Auch das wusste Annett, allerdings nur so ungefähr. «Ein großer Teil wird natürlich in der Roebling’schen Fabrik in Trenton hergestellt, aber auch andere große Unternehmen werden beteiligt sein.»

«In welchem Ausmaß?»

Wieder zuckte Annett vage mit den Schultern. «Die Familie Roebling hat das amerikanische Patent auf das Spinnen von Kabeln. Und sie ist auch die Einzige, die damit Erfahrungen hat. John Roebling hat schon die Cincinatti-Covington Bridge auf diese Art erbaut.»

Munroe nickte und schrieb. «Wann werden die ersten Kabel gezogen?»

«Im Hochsommer wird es so weit sein», erklärte Annett, die gerade mit größter Verblüffung feststellte, dass sie erst wenige Wochen in dieser Stadt war, sich aber bereits fühlte, als lebte sie schon immer hier.

Der Kaffee war ausgetrunken und hatte nicht ganz so gut geschmeckt, wie sie sich das vorgestellt hatte. Er war bitter gewesen, und sie hätte zu gern noch mehr Sahne und Zucker in die tintenschwarze Brühe gegeben, doch Munroe hatte seinen Kaffee schwarz und ungesüßt getrunken, und sie wollte vor ihm nicht erscheinen, als würde sie Kaffee nicht richtig vertragen.

«Wären Sie dann so weit?», fragte sie und richtete sich kerzengerade auf. «Ich habe noch einen Weg zu erledigen.»

Munroe lächelte. «Ich wette, Sie werden noch einen Bummel die Fifth Avenue entlang machen, um sich die schönen Geschäfte anzusehen.»

Er lächelte dabei ein wenig herablassend, wie Annett fand. «Natürlich nicht», fauchte sie. «Eine Frau wie ich hat andere Interessen als Kleidung und Schmuck.»

Sie warf den Kopf in den Nacken und stand empört auf.

«Der neue Hut steht Ihnen übrigens ausgezeichnet. Aber hinten in der Krempe steckt noch eine Nadel, die muss die Putzmacherin vergessen haben!» Munroe deutete grinsend auf ihren Kopf.

Annett riss sich den Hut herunter, drehte ihn hin und her, fand aber keine Nadel. Sie warf Munroe einen giftigen Blick zu und wandte sich so brüsk ab, dass ihr Rock flatterte wie eine Fahne im Wind.

«Warten Sie!» Auch Munroe war aufgesprungen, stand ihr jetzt im Weg. Annett wich zurück. «Was wollen Sie denn noch?»

Er lächelte, und Annett fand, dass er nicht mehr so ganz nach einem grünen Jüngelchen aussah, wenn er das tat. Sein Kinn wurde kantiger, der schmale Mund ein wenig breiter. Außerdem kniff er beim Lächeln seine ein wenig zu runden Augen zusammen. Runde Augen nämlich, fand Annett, gaben jedem Menschen einen leicht dümmlichen Gesichtsausdruck, der höchstens von einem Binokel gemildert wurde. Munroe fuhr sich verlegen mit der rechten Hand durchs Haar, das hernach wild nach allen Seiten abstand und ihn nun sogar wie einen zerstreuten Professor aussehen ließ, wenn auch wie einen sehr jungen.

«Was ist noch?», wiederholte Annett und tippte ungeduldig mit der linken Fußspitze auf die Fliesen.

«Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, einmal mit mir essen zu gehen. Oder ob ich Sie womöglich gar zu einer Broadway-Revue einladen darf.»

Annett stand vor Überraschung der Mund offen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine Verabredung mit einem Mann gehabt. Es war nicht so, dass sie eine graue Maus war, im Gegenteil. Sie war klein und zierlich, das ovale Gesicht von braunen Locken umrahmt und mit der gesunden, frischen Haut eines Milchmädchens. Allerdings hatte sie sich bisher nie für Männer interessiert. Es sei denn, sie gingen interessanten Mathematikfragen nach. Und jetzt fragte dieser Munroe einfach so drauflos. Was sollte sie antworten? Gut, sie war gerade 18 Jahre alt geworden und hatte von daher das Recht, gewisse Entscheidungen allein zu treffen. So wäre es zumindest in Mühlhausen der Fall gewesen. Aber wie waren die Gepflogenheiten hier, in New York?

«Ich weiß nicht. Ich habe in der nächsten Zeit sehr viel zu tun, wissen Sie. Die Kabel.»

«Ich verstehe. Und Washington Roebling verlangt von Ihnen, diese ganz allein über den East River zu ziehen, nicht wahr? Eine Brücke, im Alleingang gebaut von zwei Frauen!» Sein Spott klang beißend, wenngleich er ein schmales Lächeln beibehielt.

«Ganz genau, lieber Mister Munroe. Mit der linken Hand werde ich die Kabel über den Fluss ziehen, während ich mit der rechten Hand die Schienen über die Brücke lege und Emily die Pfeiler stützt.»

Sie bedachte Munroe mit einem abschätzigen Lächeln, dann raffte sie ihren Rock und ging hocherhobenen Hauptes davon.