Anfangs waren Susanne und die Mädchen traurig gewesen, wenn sie an einem der zahlreichen Grabsteine, die am Weg standen, vorüberkamen. Beim ersten hatten sie sogar angehalten und die Inschrift gelesen. «Hier ruhen Annemarie Jordan und ihr Baby.» Sie hatten ein Gebet gesprochen. Und Cherry hatte ein paar Blumen gepflückt und unter das rohgezimmerte Holzkreuz gelegt. Später hatten die Grabsteine dichter gestanden, und nun waren sie so häufig, dass keine Meile verging, ohne dass der Tod sein Zeichen gesetzt hatte. Keine von ihnen kümmerte sich mehr um die schwarzen Hügel, es wurden keine Gebete mehr gesprochen, denn der gesamte Glaube war nun auf die eigene Person ausgerichtet. Rose und Mary weinten oft vor Erschöpfung, während Cherry aufgehört hatte zu sprechen. Manchmal aber, wenn sie am Abend um das Feuer herumsaßen, Zigaretten rauchten und verdünnten Wein tranken, dann versuchte Madame Joyce ihre kleine Gruppe etwas aufzumuntern. «Wisst ihr eigentlich, wie ich aufgewachsen bin?», fragte sie und erzählte, ohne die Antwort abzuwarten. «Ich bin in Newark, New Jersey geboren. In einem Bordell. Meine Mutter war Prostituierte und hatte nicht die geringste Ahnung, wer von all ihren Freiern mein Vater sein könnte. Wir wohnten in einem Zimmer mit dunkelroten Vorhängen und einer verschlissenen, staubigen Brokatdecke auf dem Bett. Wenn meine Mutter einen Freier hatte, musste ich unser Zimmer verlassen. Ich wurde in eine dunkle Besenkammer gesteckt und bekam einen alten Stofflappen, auf den ich beißen sollte, wenn die Angst so groß wurde, dass ich schreien wollte. Vier-, fünf-, selten sogar sechsmal täglich wurde ich in die Besenkammer gesperrt. Immerhin konnte ich die dunkle, satte Stimme meiner Mutter, im Übrigen eine sehr liebevolle Frau, durch die Wände hindurchhören, und das beruhigte mich. Oft aber hörte ich sie dort auch stöhnen und schreien, und ich machte mir die allergrößten Sorgen um sie. Ich versuchte, aus der zugesperrten Besenkammer auszubrechen, um ihr zu Hilfe zu eilen, und es dauerte ein paar lange Jahre, bis mir klar wurde, dass sie ausgerechnet in diesem Augenblick meine Hilfe überhaupt nicht benötigte.»
«Das muss schrecklich gewesen sein», erklärte Cherry.
Madame Joyce schüttelte den Kopf. «Nein, eigentlich nicht. Nur die Stunden in der Besenkammer waren schlimm. Ansonsten wurde ich verhätschelt und verwöhnt. Die anderen Huren streichelten mich, steckten mir Zuckerstücke zu, nahmen mich auf ihre Knie. Ich war wie ein Schoßhündchen, und alle nannten mich Joyce, obwohl mein richtiger Name eigentlich Violet lautet. War es Violet? Oder Vivian?» Madame Joyce lachte. «Seht ihr, ich kann mich nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern. Jedenfalls verbrachte ich meine gesamte Kindheit in diesem Puff. Aber an meinem dreizehnten Geburtstag beschloss die Bordellbetreiberin, dass ich nun alt genug wäre, um mein eigenes Geld zu verdienen. Sie wollte mir eine kleine Kammer vermieten, in der ich dann die Kunden empfangen sollte. Meine Mutter aber war dagegen. Sie hatte heimlich Geld gespart. Fünfzig Dollar. Viel, sehr viel Geld für die damalige Zeit. Sie gab mir das Geld, küsste mich und schickte mich weg.»
Rose schüttelte den Kopf. «Sie standen mit dreizehn Jahren allein auf der Straße?»
Madame Joyce nickte. «Ja, ich bin sehr früh selbständig geworden.»
«Und dann? Wie ging es weiter mit Ihnen?», wollte Amy wissen.
Das Gesicht von Madame Joyce umwölkte sich. «Das ist eine andere Geschichte für einen anderen Abend. Jetzt erzählt mir von euch.» Sie blickte die Mädchen auffordernd an und fügte hinzu: «Es ist doch merkwürdig. Wir kennen uns nun schon eine geraume Zeit, aber bisher hat sich nie die Gelegenheit gefunden, darüber zu sprechen, wo wir herkommen.»
Amy räusperte sich. «Meine Geschichte ist einfach. Meine Mutter war Dienstmädchen bei einem Farmer im Süden. Er hat sie vergewaltigt, sie wurde schwanger mit mir. Danach habe ich bei den Sklaven in ihren Hütten gehaust. Die einzige Weiße unter all den Schwarzen. Als meine Mutter starb, ging ich weg. Ich war vierzehn, konnte weder lesen noch schreiben, wusste nichts von der Welt. Ich ging einfach in die nächste Stadt und verdingte mich genauso als Dienstmädchen, wie meine Mutter es getan hatte. Als mein Herr mir zu nahe kam, floh ich. Ich wollte nicht, dass mein Kind auch bei den Schwarzen aufwachsen musste. Sie waren nett und fröhlich, aber trotzdem habe ich immer gewusst, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Beim nächsten Dienstherrn geschah mir dasselbe, und ich begriff, dass es immer so weitergehen würde. Also beschloss ich, mein Geld gleich als Hure zu verdienen.»
«Hast du nie Kinder und eine Familie gewollt?», fragte Susanne.
«Doch. Natürlich. Welche Hure träumt nicht davon, wie eine anständige Frau zu leben. Aber ich merkte rasch, dass ich wohl keine Kinder bekommen konnte. Ein Arzt hat es mir bestätigt. Also machte ich weiter das, was ich begonnen hatte. Zuerst war es schwer, mich mit meiner Kinderlosigkeit zu arrangieren, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt.» Sie lachte auf. Es war ein bitteres Lachen. «Einen Vorteil hat das Ganze. Ich muss bei den Freiern nicht ständig darauf achten, nicht schwanger zu werden.»
Die anderen Frauen seufzten und blickten nachdenklich ins Feuer, bis Madame Joyce schließlich in die Hände klatschte. «Es ist nicht richtig, in der Vergangenheit zu kramen. Das macht uns nur traurig. Und was sind traurige Huren schon wert? Wir gehen in den Westen. Wir machen dort unser Glück. Eine jede von uns. Und wenn wir eines Tages zurückkehren in die Five Points, dann mit den Taschen voller Gold.» Die Frauen lachten. Rau und ungläubig, aber sie lachten. Susanne betrachtete jede einzelne von ihnen. Hier, mitten in der Wildnis, wirkten die Frauen anders als in den Five Points. Hier, mitten in der Nacht, wirkten sie anders als am Tag. Nichts verstellte ihre Gesichter, keine Schminke, kein aufgesetztes Lächeln. Im Schein des Feuers kam Amy ihr so schutzlos vor, wie es tagsüber niemals der Fall war. Sie war noch so jung, doch jetzt zogen sich zwei steile Falten von der Nase bis zu den Mundwinkeln herab. Bei Cherry war es ähnlich. Ihre sonst so vollen Lippen wirkten schmal, als würden sie aufeinandergepresst. Ihre Haut war unter der Schminke keinesfalls rein und prall, sondern fahl und mit kleinen Pickeln übersät. Rose, die Älteste, machte sich auf dem Treck gar keine Mühe mehr mit ihrem Aussehen. Sie steckte das lange, einst glänzende, jetzt aber stumpfe Haar einfach mit ein paar Nadeln hoch. Ihre Augenringe wurden von Tag zu Tag dunkler und ihr Gang schleppender. Jane dagegen war aufgeblüht. In New York hatte Susanne sie mürrisch erlebt. Doch jetzt lachte sie oft, wirkte wie befreit. Und Susanne hätte zu gern ihre Geschichte gehört. Doch jetzt war es spät. Madame Joyce hatte einen Eimer Wasser über das Feuer gegossen, und die Mädchen kletterten nacheinander in den Planwagen. Dort lagen sie nebeneinander wie Schwefelhölzer in einer Schachtel. Gegen die Kälte hatten sie sich Decken übergeworfen, und jede von ihnen hatte unter ihrem Kopf ein kleines Bündel mit ihren Wertsachen. Es war still im Wagen, aber von draußen erklangen die Geräusche der Nacht, in denen Susanne vergeblich nach den Geräuschen aus der Heimat suchte. Da strich der Wind durchs Gesträuch, ließ die Äste knacken, dass es klang, als näherten sich Diebe dem Wagen. Da heulten Kojoten, da schrie ein Käuzchen. Es raschelte und rumorte, summte und brummte, knackte und knarzte. Und Susanne lag da, die Augen weit offen, starrte in die Dunkelheit und sprach mit ihrem Kind. «Es dauert nicht mehr lange, mein Kleines», flüsterte sie. «In wenigen Wochen wirst du zur Welt kommen. Und ich werde dich beschützen wie den größten Schatz der Welt. Ich verspreche dir, dass du niemals Not leiden wirst. Und vor allem wirst du niemals allein sein. Denn das Alleinsein ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann.» Und dann weinte Susanne ein paar Tränen und dachte an ihren Mann, den Grobian. Er war tot. Und eigentlich war das auch gut so. Aber häufig fehlte er ihr auch. Sie fühlte sich wohl in der Gruppe von Madame Joyce, aber sie fragte sich auch, was geschehen würde, wenn sie am Ziel angelangt wären. Sie wollte nicht als Hure arbeiten. Niemals mehr wollte sie einen Mann über sich bestimmen lassen. Was sollte sie tun? Sie konnte nichts außer dem bisschen, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte. Sie war eine Frau. Dazu bestimmt, zu gehorchen. Doch mit jedem neuen Tag in der Freiheit gewöhnte sie sich wieder daran, das zu tun, was getan werden musste, ohne dass ihr jemand sagte, was es war. So wie damals im heimatlichen Weiler. Und sie empfand ganz neue Gefühle dabei. Aber ebendiese Gefühle waren es, die ihr ein wenig Angst machten. Ein Weib, hatte sie immer gehört, das sich nicht nach seinem Manne richtete, war dem Untergang geweiht. War es überhaupt möglich, ohne Mann zu leben? Sie dachte an das Dorf zurück, in dem der Vater seine Brote verkauft hatte. Da gab es eine Witwe, die einen Lebensmittelladen führte und den ganzen Tag über den Kunden die Ohren volljammerte. Und dann gab es die alte Hedwig, zu der die Frauen mit ihrem Kummer und ihren Gebrechen gingen. Das waren die Einzigen. Und das Leben, das sie führten, erschien ihr nicht gerade nachahmenswert. Dann fielen ihr Annett und Gottwitha ein. Wie es ihnen wohl gehen mochte? Sie sehnte sich nach den Freundinnen, und sie beschloss, bei nächster Gelegenheit einen Brief an Annett zu schreiben. So bald wie möglich würde sie Papier und Tinte kaufen.
Die Tage gingen dahin. Bei einem Gewitter wurde ein Ochse erschlagen, ein anderes Mal brach die Vorderachse, ein drittes Mal mussten sie zwei Tage lang auf frisches Trinkwasser warten. Die Mädchen hatten große Angst vor den Übergriffen der Indianer, denn sie befanden sich auf deren Land. Sie sprachen nicht darüber, aber immer saß jetzt ein Mädchen neben Madame Joyce auf dem Kutschbock und hielt nach allen Seiten Ausschau, Susannes Flinte auf dem Schoß. Die Landschaft war derweil rauer geworden. Die Prärie dehnte sich endlos von Horizont zu Horizont, und in den kleinen Städten, die sie durchquerten, wurden die Lebensmittel von Mal zu Mal teurer. Am Anfang ihrer Reise hatten sie für ein Ei nur ein paar Penny bezahlt, jetzt, weitab von jeder größeren Stadt, verlangten die Farmer für ein Ei einen halben Dollar. Die Mädchen waren mager geworden, ihre Haut tiefbraun und trocken. Doch die Reise verlief recht friedlich bis zu dem Morgen, an dem Susanne vor Schmerzen nicht mehr aufstehen konnte.
«Ich glaube, es ist so weit», kommentierte Madame Joyce. «Du wirst sehr bald schon Mutter sein.» Dann wies sie die anderen Mädchen an, Wasser zu holen und es über dem Feuer zu erhitzen. Laken wurden zerrissen und die wärmste Decke hervorgeholt. Susanne aber lag auf dem Wollballen, die Fäuste in den Stoff gekrallt, und biss auf einen Holzkeil. «Ist es immer so?», jammerte sie, während Madame Joyce ihr befahl, die Pumphose auszuziehen.
«Ich glaube schon», erwiderte die Bordellbesitzerin. «Und jetzt lass mich schauen, wie weit du schon bist.»
Susanne presste die Beine zusammen. «Sie sind keine Hebamme.»
«Vielleicht nicht, aber ich habe schon mehr Kindern auf die Welt geholfen, als du dir denken kannst. Auch wir Huren werden Mütter, zumindest manche von uns. Und nun stell dich nicht so an. Mach die Beine breit.»