Sechzehntes Kapitel

Wochenlang hatte Gottwitha ihren Mann beobachtet. Sie hatte ihn am Morgen betrachtet, wenn er gerade aus dem Schlaf erwacht war, blinzelte und sich mit der Hand über die Stirn strich, als wollte er die Träume wegstreichen. Sie hatte ihn am Mittag betrachtet, wenn er am Küchentisch saß und das von ihr Gekochte aß. Gedankenverloren löffelte er seine Suppe, nur körperlich anwesend, ansonsten noch immer auf dem Feld. Sie hatte ihn am Abend betrachtet, wenn er in der alten Bibel blätterte und hin und wieder einen Satz vor sich hin murmelte, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Und sie hatte ihn nachts gespürt, sein heimliches Beben, wenn sie ihn streichelte. Kurz nur, ganz kurz, weil er ihre Berührungen nicht ertragen konnte. Und sie hatte nachgedacht über ihn, hatte in seinem Gesicht nach dem Mann geforscht, den er hinter seiner Maske der Rechtschaffenheit, Schweigsamkeit und Frömmigkeit verbarg. Manchmal blieb er in der Küche plötzlich stehen, als nähme er den Gegenstand, den er gerade in der Hand hielt, jetzt erst wahr, und sah sich verwirrt um. Dann wirkte er wie ein kleiner hilfloser Junge. Und allmählich beschlich Gottwitha der Verdacht, dass Samuel in Wirklichkeit vielleicht noch immer dieser kleine Junge war.

Heute Abend wirkte er entspannt. Er hatte die langen Beine von sich gestreckt, die Bibel vor sich auf dem Tisch liegen und fuhr mit dem Finger die einzelnen Zeilen auf und ab. Gottwitha saß neben ihm, stopfte seine Strümpfe und behielt dabei die Suppe im Auge, die schon für den nächsten Tag im Topf brodelte.

«Liest du mir etwas vor?», bat sie leise und lächelte ihn an. Samuel blickte erstaunt auf. «Du möchtest, dass ich dir aus der Bibel vorlese?»

«Ja.» Sie lächelte noch immer, hielt den Stopfpilz in der Hand und suchte in ihrem Nähkorb nach der passenden Nadel.

Da lächelte endlich auch Samuel. «Das habe ich mir immer gewünscht, weißt du», sagte er leise.

«Was hast du dir gewünscht?» Gottwitha tat, als würde sie die Bewegung in seiner Stimme nicht hören.

«Abends mit meiner Frau hier zu sitzen und gemeinsam in der Bibel zu lesen. Warum hast du mich noch nie darum gebeten?»

«Du hast immer so konzentriert gewirkt. Ich wollte dich nicht beim Nachdenken stören.»

Dann herrschte eine Weile Stille. Aber es war eine gute Stille. Eine Stille der Einigkeit und nicht der Verlegenheit. Schließlich räusperte sich Samuel und begann zu lesen. Er las gut, mit gekonnter Betonung. Seine Stimme war dunkel und leise, und zum ersten Mal erkannte Gottwitha in der Heiligen Schrift mehr als nur eine Ansammlung von Worten. Viel zu schnell ging der Abend für sie zu Ende, aber als sie einschlief, tat sie das mit ruhigem, zufriedenem Herzen.

Zwei Wochen lang las Samuel Gottwitha aus der Bibel vor. Und er änderte sich, verlor ein klein wenig seiner Steifheit. Ja, es kam sogar vor, dass er sie grundlos anlächelte, ihr Essen lobte oder die Ordnung im Haus. Und eines Nachts fasste sich Gottwitha ein Herz. Samuel lag bereits im Bett und wartete auf sie. Sie zog sich betont langsam aus, schlüpfte dann unter die Decke, und noch bevor er sich ihr zuwenden konnte, begann sie, sein Gesicht zu streicheln.

«Was machst du da?», fragte er verblüfft.

«Ich streichle dich», erklärte Gottwitha. «Ich streichle dich, wie eine Ehefrau ihren Ehemann streicheln sollte, damit er gut in den Schlaf findet.» Und ihre Hand fuhr an seinem Hals entlang, streichelte die harten, breiten Schultern, ganz sanft, ganz leicht, ganz langsam. Samuel gab einen brummenden Laut von sich, den Gottwitha nicht deuten konnte. Sie spürte, wie er sich verspannte, wie sein Leib noch härter und steifer wurde. Aber sie ließ nicht nach. Ihre Hände fuhren über seinen Brustkorb, über den Bauch, glitten wieder nach oben zu den Schultern und über die Arme hinab zu den Händen.

Samuels Atem wurde schneller. Er packte ihr Handgelenk und zwang sie so, das Streicheln einzustellen. «Was soll das?», fragte er.

«Gefällt es dir nicht? Jeder Mensch braucht Zärtlichkeit.» Sie machte sich behutsam los und streichelte weiter ihren fremden Mann. Sie streichelte die Verspannung weg, spürte, wie er unter ihren Händen dahinschmolz, weich und nachgiebig wurde. Der Mond schien durch das Fenster, und Gottwitha sah, dass Samuel weinte. Große Tränen rollten lautlos über seine Wangen, die Lippen zitterten, die Nasenflügel bebten. Und dann schluchzte er laut auf, warf sich herum, sodass sie seinen Rücken vor sich hatte. Er krümmte sich wie ein Kind im Mutterleib, machte sich klein, ganz klein, und Gottwitha strich über seinen Rücken, wieder und immer wieder, bis Samuel sich aufblätterte, sich ihr ganz zuwandte und ihr in die Augen sah. «Was machst du nur mit mir?», fragte er, noch immer zitternd. Und Gottwitha erwiderte leise: «Ich mache das, was du brauchst. Nicht mehr. Es wird dir nichts geschehen.»

Und Samuel schluckte und flüsterte: «Du weichst mich auf.»

«Ist das so schlimm?»

Samuel schüttelte leicht den Kopf. «Es ist … es ist … etwas, was ich noch nie erlebt habe.»

Und dann schloss er die Augen, als schäme er sich, und ließ sich weiter und weiter streicheln, wurde weicher und weicher in ihren Armen, bis sie ihn schließlich sanft auf die Stirn küsste, die Decke um ihn feststeckte und befriedigt einschlief. Obwohl diese Nacht die erste Nacht seit der Hochzeit war, in der er sie nicht beschlief, war sie ausgefüllt.

Am nächsten Morgen stand sie schon auf, als Samuel noch schlief. Sie kochte ihm eine Grütze, brühte Tee auf und wartete dann auf ihn. Sie hatte Angst. Hatte sie ihn gestern so beschämt, dass er sich heute darüber ärgerte? Da hörte sie seine Schritte auf der Treppe, senkte die Augen und wünschte ihrem Mann einen guten Morgen. Samuel räusperte sich, ging hinter ihrem Stuhl vorbei und tat, als wäre sie gar nicht anwesend. Dann aber sah er auf und dankte ihr für das Frühstück. Er lächelte nicht dabei, aber seine Augen waren ganz dunkel, sein Mund rot und gesund. Er erhob sich, kaum, dass er aufgegessen hatte. «Du kannst aus einem Ochsen kein Pferd machen», erklärte er dann. «Auch wenn du ihn vor eine Kutsche spannst.» Dann ging er hinaus, und Gottwitha schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.

An diesem Abend schickte Samuel seine Frau gleich nach dem Abendessen zu Bett. Aber sie schlief noch immer nicht, als auch er endlich kam. Sie überlegte, ob sie ihn wieder streicheln sollte, doch er drückte sich an den äußersten Rand seiner Bettseite und achtete darauf, so viel Platz wie möglich zwischen ihnen zu schaffen. An den folgenden Abenden war es ähnlich. Früher war er jede Nacht zu ihr gekommen, doch das hatte mit jener Nacht abrupt aufgehört. Gottwitha bemerkte, dass ihr etwas fehlte. Nie war Samuel wortkarger und kälter gewesen, und sie begriff, dass sie ihn so tief beschämt hatte, dass er darauf nur mit Rückzug reagieren konnte.

Am Samstagnachmittag saßen die Frauen bei Rebecca zusammen und nähten Quilte. Auch Samuels Mutter Rachel war dabei. Gottwitha gab sich Mühe, ihre Stiche gerade und ordentlich auszuführen, doch die Alte griff immer wieder nach ihrem Deckenstück und betrachtete es abfällig. «So wird das nichts.» Zehnmal hintereinander sagte sie es, ehe Gottwitha barsch zurückgab: «Und wie wird es etwas?» Da blickte die Alte sie an, verzog abschätzig den Mund und antwortete: «Nichts wird bei dir jemals etwas werden. Dir fehlt es am Glauben. Und wem es am Glauben fehlt, der steht schon mit einem Bein in der Hölle.»

Gottwitha fuhr zurück. Sie hatte keine Ahnung, was sie nun wieder falsch gemacht haben sollte. Die Alte stand auf, stützte sich dabei auf den Tisch und verließ Rebeccas Küche mit einem Schluchzen.

Rebecca stichelte an ihrer Decke und tat, als hätte sie nichts gesehen und gehört. Auch die anderen beiden Frauen taten sehr beschäftigt. Gottwitha schluckte. Dann nahm sie ihren Mut zusammen: «Was habe ich getan? Warum hasst sie mich so?»

Die Frauen stichelten weiter, keine sagte ein Wort. Da riss Gottwitha Rebecca den Quilt aus der Hand. «Antworte mir. Ich bitte dich.»

Und Rebecca blickte auf, und in ihrem Blick flackerte Besorgnis. «Du bist anders. Bist nicht wie wir», erwiderte sie leise.

Gottwitha schüttelte den Kopf. «Was ist anders an mir? Was mache ich falsch?»

Die beiden anderen Frauen erhoben sich, packten ihre Nähsachen zusammen und verschwanden. Auch Rebecca blickte nach draußen und meinte: «Es ist spät geworden; ich sollte das Abendessen für Noah richten.»

Da brach Gottwitha in Tränen aus, fühlte sich wieder einmal mutterseelenallein. «Wenn ihr mir nicht sagt, was ich falsch mache, wie kann ich es dann richtig machen?», fragte sie mit tränenüberströmtem Gesicht. Rebecca blickte sich um, als hielten sich in den Küchenecken Spione versteckt.

«Es heißt von dir, du wärst nicht fromm genug.»

«Aber wieso denn? Ich bete jeden Tag, gehe zu jedem Gottesdienst, zeige meinem Mann Respekt.»

Wieder seufzte Rebecca. «Ich weiß nicht, was zwischen dir und Samuel vorgefallen ist, aber Noah berichtete mir, wie verstört Samuel war. Er hat ihn gefragt, woran man eine Hexe erkennt, eine Ungläubige.»

Gottwitha sah Rebecca mit weit aufgerissenen Augen an. «Das ist nicht wahr. So hat mein Mann nicht über mich gesprochen!»

Rebecca erwiderte nichts darauf.

«Er kann das nicht gesagt haben», insistierte Gottwitha.

Da senkte Rebecca den Blick, und Gottwitha erkannte, dass das ganze Dorf ihr gegenüber misstrauisch war. Sie breitete verzweifelt die Arme aus. «Was habe ich denn Schlechtes getan?»

Rebecca legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. «Wie schon gesagt: Ich weiß nicht, was zwischen dir und Samuel vorgefallen ist, doch er ist der Ansicht, dass du fähig bist, ihn zu Dingen zu drängen, die er nicht will. Verstehst du, Gottwitha? Er ist der Meinung, du wärst durch eine Teufelei in seinen Kopf gekrochen. So als wäre er plötzlich nicht mehr dein Gebieter, sondern du seine Gebieterin.»