Siebzehntes Kapitel

Sie war in New York. Erst jetzt, als sie mitten auf der Fifth Avenue stand, dort, wo der große Park begann, wurde ihr diese Tatsache bewusst. Sie war in New York. Und das hieß nicht nur, dass sie in einer fremden Stadt, in einem fremden Land war, sondern es hieß, dass für sie ein neues Leben begonnen hatte. Drüben, in Brooklyn, da war ihr ganzer Tag von der Brücke bestimmt. Sie kannte die Wege zwischen der Columbia Street und der Baustelle im Schlaf, ansonsten aber hatte sie noch nichts von ihrer Umgebung gesehen.

Der Tag war recht warm gewesen, doch nun, am frühen Abend, kam ein leichter Wind auf, der anzeigte, dass der Winter noch nicht allzu lange vorüber war. Annett setzte sich auf eine Bank, schlug ihr Tuch enger um sich und streckte die Füße aus. Sie wusste nicht, ob eine Frau in New York so frei sein konnte, sich allein in einen Park zu setzen, aber sie tat es jetzt einfach. Sie musste nachdenken. Im Hause der Roeblings hatte sie dafür bisher nicht eine einzige Minute Zeit gehabt. Annett ließ den Blick schweifen. Sie sah die Bäume des Parks, die noch nicht besonders groß und kräftig waren, aber schön grün. Sie sah auch die Steine, auf denen der Park gebaut war, die großen dunkelgrauen Schieferblöcke. Ein Mann in einer Uniform und bekleidet mit weißen Handschuhen führte einen vornehmen Pudel aus. Eine junge Schwarze trug ein weißes Kleinkind auf dem Arm durch den Park. Zwei junge Männer kamen rauchend und laut redend an der Bank vorüber, und ein älteres Ehepaar streute ein paar Brotkrumen aus, wohl um die Vögel anzulocken. Mehrere Kutschen, einige davon bereits offen, fuhren vorbei. Niemand schenkte Annett größere Beachtung, nur einer der jungen Männer bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. Auf der Herfahrt von Brooklyn hatte sie sich vorgenommen, die Fifth Avenue einmal herauf- und herunterzugehen und danach die Library aufzusuchen. Aber jetzt war es wahrscheinlich für beides schon zu spät. Emily hatte sie dazu ermutigt, sich die Schaufenster der zahllosen Salons und Geschäfte anzusehen. Was Annett liebend gern gemacht hätte, wäre der Nachmittag so verlaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Aber wer hatte ahnen können, dass dieser Milchbubi Arthur Munroe ein so unangenehmer Zeitgenosse war? Er hatte ihr mehr Zeit gestohlen, als sie gedacht hatte. Und nun war sie verwirrt, ein wenig aufgewühlt, auf jeden Fall verärgert und ganz und gar nicht in der Stimmung für einen Schaufensterbummel.

Von der Straße her hörte sie den Lärm des Pferdeomnibusses, die Rufe der Kutscher, das Rumpeln von eisenbeschlagenen Rädern, das Klappern von Hufen, die Schreie der Schuhputz- und Zeitungsjungen. Sie lächelte. Noch kaum hatte sie sich an den Lärm gewöhnt, noch dröhnten ihr davon die Ohren, aber schon konnte sie sich nicht mehr vorstellen, ohne diesen Krach zu leben. Ähnlich war es mit den Gerüchen. Bisher hatte sie nur die gesunde Luft des Thüringer Waldes gekannt, jetzt roch es nach verbranntem Öl, nach dem Rauch aus den Kohleschornsteinen, nach Pferdemist, Staub, menschlichen Ausdünstungen, ein kleines bisschen nach Fisch und Meer, nach Teer und Pech, und über alldem lag der süße Geruch der Freiheit. Sie wäre so gerne glücklich gewesen, doch sie war es nicht. Nicht jetzt. Jetzt ärgerte sie sich über Arthur Munroe, der ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass Frauen seiner Ansicht nach beim Brückenbau nicht nur unbrauchbar waren, sondern überdies störten. Er hatte es so nicht gesagt, aber Annett hatte es aus seinen Worten deutlich herausgehört. Sie biss die Zähne aufeinander. Zu gern würde sie diesem Milchbubi zeigen, was in einer Frau so alles steckte, aber dazu würde sie gewiss nicht mehr kommen. Und gerade das ärgerte sie am meisten! Sie hatte es sich mit Munroe verdorben. Emily würde verärgert sein, denn die Brücke brauchte gute Besprechungen in der Zeitung. Annett hatte keine Ahnung, was Munroe jetzt schreiben würde, aber nach ihrem Abgang würden das hundertprozentig keine Lobeshymnen sein. Am allermeisten aber ärgerte sie sich darüber, dass sie nun hier saß, anstatt die Library zu suchen. Wenigstens hatte sie sich nach den Tageskursen am Cooper Institute erkundigt.

Es wurde kälter, und Annett erhob sich, rief nach einer Mietkutsche. Als sie endlich in den Brooklyn Heights ankam, war es Abend geworden.

«Und? Wie ist es gelaufen?», fragte Emily, die im Salon auf Annett gewartet hatte.

«Ich fürchte, nicht so gut. Munroe ist ein eingebildeter Knilch, der von nichts eine Ahnung hat.»

Emily lachte. «Na ja, er ist ein Spötter, aber ich glaube, er spottet nur dann, wenn er sicher ist, dass sein Gegner ihm gewachsen ist. Eigentlich ist es dann wohl ein Kompliment, meinst du nicht?»

«Pft. Darauf kann ich verzichten.» Annett musste an sich halten, um ihre Arme nicht bockig vor der Brust zu verschränken. Sie beugte sich ein wenig vor. «Die Kabel. Das wird eine große Sache, nicht wahr? Etwas, das die Welt so noch nie gesehen hat, oder?»

«Ja, das stimmt. Und wenn ich daran denke, raubt es mir den Schlaf.» Emily seufzte.

«Ich möchte alles darüber wissen. Kannst du es mir erklären?»

Emily schüttelte den Kopf. «Washington wird dir sagen, was du wissen musst. Er brennt ohnehin darauf, dich zu sehen.»

«Kann ich jetzt gleich zu ihm gehen?»

Emily nickte. «In einer halben Stunde wird das Abendbrot eingenommen. So lange hast du Zeit.»

Eine halbe Stunde nur? Annett runzelte die Stirn.

«Washington kann sich nicht länger konzentrieren. Und am Abend schlechter noch als am Morgen.» Emily lächelte sie an. «Aber ich bin sicher, du brauchst auch nur eine halbe Stunde, um die Funktionsweise unserer Brückenkabel zu verstehen.»

Washingtons Sprache war durch die Taucherkrankheit in Mitleidenschaft gezogen. Ein Teil seines Gesichtes war noch immer gelähmt. Er saß in seinem Rollstuhl am großen Zeichentisch, vor sich ein paar Berechnungen, an denen er offenbar gerade gearbeitet hatte. Das Haar hing ihm vorn ein wenig in die Stirn, der Anzug war mit den Resten vom Bleistiftspitzen bedeckt. Doch in seinen Augen loderte noch immer dieselbe Leidenschaft für die Brücke wie Jahre zuvor in Mühlhausen. Am Anfang hatte Annett sein Nuscheln kaum verstanden, aber bald hatte sie sich daran gewöhnt und erkannte die einzelnen Worte.

«Zuerst», erklärte Washington jetzt, «muss das Hauptkabel zwischen den beiden Pfeilern gespannt werden. Jeder einzelne Pfeiler wiegt 120000000 Pfund. Deshalb muss das Kabel so fest sein, dass 12000 Elefanten daranhängen könnten.»

Annett musste kichern, als sie sich vorstellte, wie 12000 Elefanten an dem Hauptseil hingen, doch Washington redete bereits weiter: «Danach müssen Tausende von dünnen Stahlverbindungen zwischen Brooklyn und Manhattan gezogen werden. Das nennt man ‹Kabel spinnen›. Die Stahldrahtbündel werden zusammengepackt zu weiteren vier Hauptkabeln. Jedes einzelne Kabel besteht aus 3,5 Meilen Stahlverbindung, genug, um sie von Brooklyn über den ganzen Kontinent bis nach Los Angeles zu spannen.»

«Stahlkabel?», fragte Annett mit großen Augen. «Ich glaube nicht, dass ich jemals eine solche Brücke in Thüringen gesehen habe.»

Washington lachte leise. Dabei verzog sich sein Mund. Der linke Mundwinkel bog sich nach oben, während der rechte blieb, wo er war. Es sieht aus, als habe er Schmerzen, dachte Annett, dabei lacht er.

«Es ist das allererste Mal auf der ganzen Welt, dass eine Brücke auf diese Art gebaut wird. Bislang benutzte man Eisenverbindungen, Ketten oder Ähnliches. Oft sind diese Verbindungen gerissen. Es gab jedes Mal ein Desaster.»

«Sie sind sicher, Sir, dass dies bei Ihrer Brücke nicht passieren kann?»

«Ganz sicher. Aber sag Washington zu mir. Emily und du, ihr sprecht euch doch auch mit den Vornamen an.»

Annett wurde rot und senkte vor Verlegenheit den Kopf. Ein von einem Älteren angebotenes «Du» war ihr immer wie ein großes Kompliment erschienen. Eine Vertrautheit, die man sich erarbeiten musste, bevor man sie geschenkt bekam. Hier, in Amerika, war das anders. Hier gab es gar keine Form des «Sie». Aber trotzdem. Annett wusste nicht, wie sie reagieren sollte, ja, sie wusste nicht einmal, ob sie es hinbekam, diesen berühmten Mann einfach so mit dem Vornamen anzureden, wenn sie einmal Deutsch miteinander sprechen sollten.

«Noch einmal: Ich bin ganz sicher, dass meine Brücke hält, denn Stahl ist stärker als Eisen. Sieh einmal, ein Kabel besteht in sich aus neunzehn dicken Kabelsträngen, jedes davon neunzehn Inches im Durchmesser, ein ganzes, dickes Kabelbündel sozusagen. Jedes einzelne der neunzehn Kabel besteht wiederum aus 278 Stahlkabeln, von denen jedes so dick wie ein Bleistift ist. Kannst du dir jetzt vorstellen, dass die fertige Brücke leicht 12000 Elefanten halten kann?»

Annett nickte. Was hätte sie auch sagen sollen? Bisher hatte sie keine Ahnung vom Brückenbau, aber das änderte sich ja nun. Und außerdem gehörte den Roeblings ja seit Jahrzehnten schon ein riesiges Unternehmen. «Roebling’s Steel and Iron Wire Rope Company» – seit fast zehn Jahren war dieses Werk das größte im ganzen Land, und der meiste Stahl, der in diesem Werk hergestellt wurde, wurde in der Brücke verbaut.

«Gibt es ein Buch, das ich dazu lesen kann?», fragte Annett.

«Ein Buch über Stahl?»

«Nein. Ein Buch über Statik und Vermessung. Und vielleicht noch ein Buch über Werkstoffe. Ein Lehrbuch am besten. Ich habe es heute versäumt, in die Library zu gehen. Aber am Cooper Institute gibt es Tageskurse in Mathematik für Frauen.»

Washington nickte. «Wenn du magst, kannst du gern einige davon besuchen. Aber erst müssen die Kabelarbeiten begonnen haben. Ich glaube nicht, dass Emily dich bis dahin entbehren kann. Doch an Büchern kannst du dir so viele nehmen, wie du nur magst. Ich habe hier einige, die ich dir empfehlen kann.» Er drehte sich mit seinem Rollstuhl und fuhr damit bis an das deckenhohe Bücherregal, das so beladen war, dass einige Bücher quer über den anderen lagen. Er griff zwei Bücher und reichte sie Annett. «Unten gibt es neben dem Salon eine kleine Bibliothek. Dort stehen ebenfalls eine Reihe technischer Bücher, aber auch ein paar Romane.»

«Danke.» Annett sprach das Wort leise aus, denn sie war so berührt von der Freundlichkeit der Roeblings, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.

«Annett? Wash?» Emilys Stimme drang durch die Tür. «Das Mädchen möchte das Dinner servieren.» Dann ertönte ein Gong, der Emilys Rufen Nachdruck verlieh.

«Danke», sagte Annett noch einmal und schob Washington im Rollstuhl zur Tür.

«Das mache ich gern», erwiderte er. «Du kannst alles von mir lernen, was du möchtest.»

Annett strahlte. Und war einmal mehr sehr, sehr froh, in Amerika zu sein.