Achtzehntes Kapitel

Wieder rüttelte der Wind an dem Planwagen wie ein wütendes Tier. Er kreischte über die Prärie, trieb büschelweise das strohtrockene Gras vor sich her. Jane versuchte mit Amys Hilfe, ein Feuer in Gang zu setzen und Wasser heiß zu machen. Cherry saß bleich und angstvoll in der Nähe und riss trockene, harte Grasbüschel aus, um sie ins Feuer zu werfen, während Rose Büffeldung sammelte.

Drinnen im Wagen lag Susanne auf dem Wollballen, die Beine gespreizt. «Du bist bald so weit», erklärte Madame Joyce.

Eine neue Wehe durchzuckte Susanne, ergriff ihren Leib in Wellen und brachte sie zum Aufstöhnen. «Schrei ruhig, wenn du willst. Hier draußen hört dich niemand.» Madame Joyce tupfte Susanne mit einem Tuch die feuchte Stirn trocken. Susanne schloss die Augen. «Wird es am Leben bleiben?», flüsterte sie. «Das hier ist doch nichts für ein Neugeborenes. Die lange Reise, der Staub, der Wind. Ein Baby sollte in einer Wiege liegen.»

«Du bist stark, und dein Kind wird auch stark sein. Hast du dir denn schon einen Namen überlegt? Ich werde es nämlich gleich nach der Geburt taufen.»

Susanne musste wider Willen lächeln. «Sie?»

«Ja. Ich. Es wird eine Nottaufe geben. Die richtige Taufe feiern wir, wenn wir im Westen angekommen sind. Ich war im letzten Städtchen extra in der Kirche und habe mir ein winziges Fläschchen mit Weihwasser abgefüllt.»

Da traten Susanne Tränen in die Augen. «Weihwasser? Sie haben an mein Baby gedacht, während ich die Taufe vollkommen vergessen hatte?»

Susanne verzog das Gesicht, presste die Zähne fest aufeinander, doch dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen und schrie. Von draußen fragte Cherry: «Ist es so weit? Ist es so weit? Soll ich kommen und helfen?»

Und Madame Joyce rief: «Wir brauchen das heiße Wasser. Jetzt.»

Und schon riss Amy den Kessel vom Feuer und schleppte ihn zum Wagen, während Rose noch mehr Büffeldung auf die Glut warf.

Susanne schwitzte jetzt. Ihre Stirn, die Haare, die Haut, alles an ihr war feucht. Und die Wehen kamen immer schneller. «Du musst pressen, mein Kind. Presse den Säugling aus dir heraus.»

Und dann, als Susanne schon meinte, ihre Kräfte reichten nicht und sie würde hier auf dem Wollballen sterben, da rief Madame Joyce: «Ich sehe den Kopf. Das Kind kommt!» Cherry eilte Madame Joyce zu Hilfe, Susanne presste mit geschlossenen Augen und spürte endlich, endlich, wie der kleine nasse Leib aus ihr herausglitt, in einem warmen Tuch aufgefangen von Madame Joyce.

«Du hast eine Tochter», sagte Letztere bewegt. Cherry brach in Schluchzen aus. «Sie ist so schön, deine Kleine. Schön wie die Sonne.»

Und dann versammelten sich die Frauen unter der Plane im Wagen, betrachteten das Kind und vergossen Tränen der Rührung. Amy strich der Kleinen sanft über die Wange, Jane hüllte die Füßchen in ein Schafsfell, und Rose zählte die winzigen Fingerchen nach. Susanne lag erschöpft, aber lächelnd auf dem Wollballen. «Wie soll der Wurm denn heißen?», fragte Madame Joyce mit belegter Stimme.

Susanne betrachtete ihre Tochter. Nie zuvor hatte sie etwas so Schönes gesehen. Fasziniert lag ihr Blick auf dem kleinen Gesicht, auf den großen, hellen Augen, die sie zu mustern schienen. Augen, die alt waren wie die Welt und alles wussten. «Hm, das ist nicht leicht. Lasst mich einen Augenblick mit ihr allein, dann suche ich den passenden Namen.»

Und die Frauen verstanden und verließen den Planwagen. Susanne aber betrachtete noch immer ungläubig das kleine Ding, welches sie zur Welt gebracht hatte. Es hatte die Äuglein jetzt fest geschlossen, die winzigen Hände zu Fäustchen geballt, das Mündchen ein kleines Stück geöffnet. «Wer möchtest du sein?», flüsterte Susanne leise und strich ihrer Tochter sanft über die Wange. «Wer bist du? Welchen Namen würdest du dir für dich aussuchen?»

Sie seufzte, dann sprach sie weiter mit der Kleinen: «Der Name, weißt du, ist sehr wichtig. Wenn ich dich Anna nennen würde, dann wäre dir ein Leben als Dienstmagd gewiss. Ich möchte für dich den einen Namen finden, der zu dir passt wie nichts sonst.» Aber sosehr Susanne auch überlegte, ihr fiel nichts ein. Also gab sie die Kleine den Frauen, damit sie sie badeten. Und dabei hörte sie ihren ersten Schrei. Empört und zornig. Und Susanne wollte aufstehen, wollte ihr Kind retten, an sich drücken und erfuhr so, was es heißt, eine Mutter zu sein.

Zwei ganze Tage verbrachte Susanne liegend auf dem Wollballen, ihre Tochter, gehüllt in eine warme Decke, schlafend neben sich. Ab und an schaute Madame Joyce nach ihr, brachte einen stärkenden Trunk, ein rohes Ei im Becher oder ein zartes Stück Fleisch. «Eine Geburt ist anstrengend, du musst zu Kräften kommen.» Susanne aß die guten Dinge, aber eigentlich hätte es ihr gereicht, mit ihrem kleinen Mädchen allein zu sein. Sie konnte sich nicht sattsehen an dem Gesicht, das sich täglich änderte. Nur die Augen blieben, wie sie vom ersten Moment an waren: groß, hell, alt. Einmal dachte Susanne an den Grobian, der jetzt am Grunde des Meeres trieb, und sie fragte sich, was die Kleine wohl von ihm haben könnte. Sie suchte nach Ähnlichkeiten, doch sie fand keine und war darüber so erleichtert, dass sie aufstöhnte. Aber einen Namen hatte sie noch immer nicht für das Kind. Jedes Mal, wenn Madame Joyce den Wagen betrat, fragte diese: «Und?» Und Susanne schüttelte den Kopf. «Ich brauche noch ein wenig.»

Sie dachte an den Namen ihrer Großmutter, Margarete. Ob dieser Name für ihre Tochter passend wäre? Ihre Großmutter war eine freundliche Frau gewesen, die stets gelächelt hatte, aber doch in ihrem Herzen nicht glücklich war. Sie lief bei jeder Gelegenheit in die Kirche und beichtete, und manchmal hatte Susanne sich gefragt, was in aller Welt sie denn jeden Tag für Sünden begangen haben mochte. Ihre Mutter hieß Gertraude. Ein Name, der, wie Susanne fand, gut zu der hochgewachsenen, knorrigen Person passte, die sie war. Sie sprach selten, ihre Mutter, aber sie strafte schnell. Dafür hatte sie den Kochlöffel stets griffbereit. Sogar beim Abendbrot lag er direkt neben ihrem Teller. Manche hielten Gertraude für hartherzig, aber Susanne wusste, dass sie nicht hartherzig, sondern hilflos war. Susannes Vater hatte das Sagen im Haus. Und er duldete keinen Widerspruch. Ihr Vater. Josef. Sollte sie die Kleine Josefa nennen? Damit sie ebenso störrisch wurde wie ihr Großvater?

«Und?» Madame Joyce schlug die Plane auseinander und sah Susanne fragend an.

«Noch immer nichts. Ich dachte nicht, dass es so schwer werden würde.»

Madame Joyce kletterte neben den Wollballen. «Es ist keine leichte Aufgabe. Immerhin muss sie ihr ganzes Leben lang diesen Namen tragen. Was wünschst du ihr am meisten auf der Welt?»

Susanne überlegte nicht lange. «Ich wünsche ihr Freiheit. Ich möchte, dass sie immer selbst über ihr Leben bestimmen kann.»

Madame Joyce schürzte die Lippen. «Dann könntest du sie ‹Liberty› nennen.»

Susanne schüttelte den Kopf. «Sie ist ein Mensch, keine Zeitungsschlagzeile.» Sie richtete sich ein wenig auf. «Wenn es Ihre Tochter wäre – wie würden Sie sie nennen?»

«Wenn sie meine Tochter wäre?» Madame Joyce seufzte. «Tatsächlich habe ich nie ein Kind gehabt. Leider. Aber hätte ich eine Tochter geboren, so hätte ich sie Tuuli genannt. Das ist finnisch und bedeutet ‹Wind›. Meine Mutter kam aus Finnland, weißt du. Ich hätte gewollt, dass meine Tochter schnell wie der Wind wäre, frei wie der Wind und mächtig wie der Wind.» Sie strich ihr Kleid glatt und stand auf. «Der richtige Name ist das eigentliche Siegel auf der Geburtsurkunde. Er prägt seinen Träger.»

Eine Stunde später rief Susanne ihre Freundinnen. «Ich weiß nun, wie das Mädchen heißen soll: Tuuli, der Wind.»

Und die Mädchen freuten sich, lobten die Wahl. Madame Joyce standen Tränen in den Augen. Susanne legte ihr eine Hand auf die Schulter: «Ich möchte gern, dass Sie Tuulis Taufpatin werden. Wären Sie damit einverstanden?»

Und damit war das Kind endlich auf der Erde angekommen. Es hatte einen Namen, es war getauft, und am nächsten Morgen zog der kleine Treck weiter. Susanne saß neben Madame Joyce auf dem Kutschbock, die Flinte griffbereit, und hinten auf dem Wollballen wechselten sich die Mädchen damit ab, die kleine Tuuli zu wiegen und ihr Lieder vorzusingen.

Gegen Mittag erreichten sie eine kleine Stadt. Die Sonne stand ein wenig blass am Himmel, und am Horizont ballten sich Wolkentürme zusammen. Nachdenklich sagte Susanne: «Es wird wieder ein Unwetter geben heute Abend. Und das, wo unsere Sachen doch gerade erst getrocknet sind.»

«Wir werden hier in der Stadt übernachten», erklärte Madame Joyce. «Die Pferde und Ochsen werden sich ausruhen, der Wagen wird in einer Scheune stehen, und wir werden endlich mal wieder in einem Bett schlafen. Wenn wir Glück haben, finden wir sogar noch eine Badewanne, heißes Wasser und ein Stück Rosenseife.»

Es war die erste Stadt, die aussah wie eine Goldgräberstadt. Der breite Weg, der hineinführte, war verschlammt, an manchen Stellen mit breiten, splittrigen Holzlatten belegt. Die Fahrrinne für die Fuhrwerke war ausgefahren und an vielen Stellen von Pferdehufen aufgerissen. Gleich das erste Haus beherbergte die Polizeistation. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit abgeblätterter Farbe. Neben der Tür hingen mehrere Plakate. Sie alle trugen die Überschrift «Wanted». Daneben befand sich ein kleines Lebensmittelgeschäft. Ein Chinese mit langem schwarzem Zopf stand in der Tür und rief den Ankömmlingen zu: «Kommt her, ihr Flauen. Bei mil gibt es die besten Walen zu den besten Pleisen.»

«Später vielleicht», rief Madame Joyce zurück und winkte, doch der Chinese spuckte aus und verzog sich zurück in seinen Laden.

Neben dem Lebensmittelladen befand sich ein Saloon. Das schwere Blechschild, auf dem «Zur schwarzen Sau» stand, quietschte leise im Wind. Auf der Veranda saß ein Mann in einem Schaukelstuhl, die langen Beine in den dreckstarren Stiefeln auf das Geländer gelegt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und im Mund eine Zigarette.

«Na, Mädels», rief er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. «Seid ihr durstig?» Er grinste.

«Ist dies das einzige Gasthaus in der Stadt?», wollte Madame Joyce von ihm wissen, ohne auf sein Geplänkel einzugehen.

«Das einzige und das beste, Ma’am.»

«Sind Sie der Wirt?»

«Bedauerlicherweise nicht, Ma’am. Der Wirt ist drinnen.»

«Nun, dann werde ich mit ihm sprechen.»

Madame Joyce drückte Susanne die Zügel in die Hand und kletterte vom Bock. Sie raffte ihren Rock mit beiden Händen und balancierte auf Holzbohlen über die verdreckte Straße. Der Mann beobachtete sie dabei und grinste noch immer. «Ich rate Ihnen, seien Sie vorsichtig», erklärte er, als Madame Joyce die Veranda erreicht hatte.

«Warum?»

«Der Wirt ist übellaunig heute. Er schreit schon den ganzen Tag herum wie ein Ochse.»

«Was ist passiert?»

«Nichts weiter.» Der Mann nahm endlich die Füße vom Geländer. «Bloß gab’s hier gestern Abend eine Messerstecherei. Ein bisschen Blut ist in seinem Boden versickert und ein paar Möbel sind zu Bruch gegangen. Kann sogar sein, dass er heute keinen Whiskey ausschenken kann, weil die Flaschen alle zerbrochen sind.»

«Danke für die Auskunft.» Madame Joyce rümpfte ein wenig die Nase und blickte zu ihrem Wagen. Als sie sah, dass Susanne die Flinte auf dem Schoß hatte, nickte sie zufrieden und betrat den Saloon. Kaum klappten die Türflügel hinter ihr zu, drehte sich Susanne nach hinten um. «Hier, nehmt das Gewehr. Ich habe noch einen Revolver. Passt gut auf Tuuli auf. Ich begleite Madame Joyce. Kann gut sein, dass sie Unterstützung braucht.»

Wenig später drückte Susanne, ohne auf die anzüglichen Blicke und den gellenden Pfiff des Mannes zu reagieren, die halbhohen Saloontüren mit beiden Händen auf. Drinnen fielen zerbrochene Möbel durcheinander, Stühle ohne Beine lagen auf dem Boden, kaputte Flaschen und Scherben verschmutzten die Theke, und ein zertrümmerter Spiegel lag neben dem Klavier, aus dem ein Tischbein herausragte.

«Gut, dass du da bist.» Madame Joyce raffte erneut den Rock und stakste zwischen den Trümmern hin und her. Susanne blickte sich um. «Wo ist der Wirt?», wollte sie wissen.

«Ich habe keine Ahnung.»

Im selben Augenblick erschien ein Mann in der Tür, die von der Bar wohl in die Küche führte. Er trug einen Eimer mit Wasser in der Hand.

«Was wollt ihr?», blaffte er.

«Wir suchen Zimmer für ein, zwei Nächte», erklärte Madame Joyce. «Aber wie ich sehe, kommen wir ungelegen.»

Der Mann stellte den Eimer ab und betrachtete die beiden Frauen genauer. «Wie viel könnt ihr zahlen?»

«Nun, ich dachte, Sie geben uns die Zimmer umsonst, und dafür verschönern meine Mädchen und ich heute Abend diesen Raum hier. Er hat es nötig.»

«Aha, so ist das.» Der Mann grinste und entblößte dabei seine fehlenden Schneidezähne. «Schöner als gestern ist es bei mir heute schon, wenn ich wieder Whiskey ausschenken kann. Seid ihr Hurenweiber?»

Madame Joyce wich zurück. «Wir sind ehrbare Frauen mit einem nicht ganz so ehrbaren Gewerbe.»

«Wie viele seid ihr?»

«Vier bildschöne Mädchen und dazu wir beide.»

Der Wirt zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht. «Was ist mit der, die neben dir steht?» Er deutete auf Susanne.

«Ich bin nicht käuflich», erklärte Susanne. «Außerdem habe ich vor kurzem erst ein Baby bekommen.»

Der Wirt verzog den Mund, betrachtete noch einmal das Chaos in seinem Saloon. «Spielst du wenigstens Klavier?»

Susanne schüttelte den Kopf. «Aber aufräumen kann ich gut.»

«Soll mir recht sein.» Der Wirt grinste breit. «Aber die anderen Weiber will ich noch sehen. Nicht dass ich mich hier zum Gespött mache. Jung und fröhlich müssen sie sein, große Titten müssen sie haben und nicht zu breite Ärsche.»

Madame Joyce rümpfte erneut die Nase. «Ich glaube nicht, dass Sie in der Lage sind, großartige Ansprüche zu stellen. Wer weiß, wie lange die Männer hier keine jungen Frauen mehr gesehen haben.»

Dem Mann verging das Grinsen. «Gestern Abend haben sie mir das Letzte meiner Mädchen abgestochen. Es war ein Versehen, sie ist jemandem ins Messer gefallen. Wo sind die Mädchen?»

Madame Joyce zeigte nach draußen.

Der Wirt stapfte an ihr vorbei, stellte sich breitbeinig auf die Veranda und rief: «Hey da, ihr Hühner, ich will euch ansehen. Zeigt euch.»

Als sich nichts im Wagen rührte und nur das dünne Wimmern eines Babys zu hören war, rief auch Madame Joyce: «Wenn ihr ein warmes Bett haben wollt für die Nacht, dann tut, was er gesagt hat.»

Die Plane wurde zurückgeschlagen, und die vier Mädchen schauten heraus. Susanne staunte. Noch vor einer halben Stunde hatten die Mädchen graue Gesichter, müde Augen, schmale Lippen und staubiges Haar gehabt. Jetzt aber strahlten sie, öffneten leicht die geschminkten Münder, fuhren sich durch die lockeren Haare und reckten die Mieder, so weit sie nur konnten.

«Aha!» Der Wirt leckte sich die Lippen. «Na, kommt, meine Täubchen, kommt nur herein. Bei Onkel Jack wird es euch so gutgehen wie noch nie zuvor.»

Die Mädchen gehorchten, und der Wirt wandte sich an Susanne. «Was stehst du hier noch rum? Schnapp dir den Besen und kehre die Trümmer zusammen.» Und Madame Joyce nahm er gar beim Arm und führte sie zurück in den Saloon. «Wir zwei trinken jetzt erst einmal einen kleinen Whiskey und reden ein bisschen. Woher kommt ihr, wohin geht ihr und so weiter.»

Madame Joyce lächelte. «Kann schon sein, dass heute dein Glückstag ist.»