Erstes Kapitel

1. Januar 1876

Die «Vineta», ein Dampfschiff der Norddeutschen Lloyd, ließ die Schiffshupe dreimal hintereinander ertönen, dann verließ sie langsam und leicht schwankend wie eine übergewichtige Frau den Hafen von Bremen und begab sich hinaus aufs Meer. Am Kai standen nicht mehr als ein paar Dutzend Leute, schwenkten die Hüte oder Taschentücher und riefen gute Wünsche in den Wind. Auf Deck standen ebenfalls Leute, die winkten, doch ihre Taschentücher brauchten sie, um die Tränen zu trocknen. Sie reckten die Hälse, wollten ein letztes Mal Deutschland sehen, riechen und schmecken, sahen aber nur den dichten Nebel der Bremer Bucht, sie rochen den Rauch, der dick aus den Schiffsschornsteinen quoll, und sie schmeckten das salzige Meerwasser auf den Lippen. Eine junge Frau schluchzte bitter auf, wankte und hielt sich schließlich an ihrem Mann fest. Der schob sie von sich. «Hör auf zu heulen», fuhr er sie an. «Such lieber im Zwischendeck einen guten Schlafplatz für uns.» Er gab ihr einen Stoß. «Geh!» Die Frau verstummte und begab sich mit geduckten Schultern, die von den unterdrückten Schluchzern bebten, in das Zwischendeck.

Eine andere starrte die Szene mit großen Augen an. Sie war groß und schmal, trug ein mausgraues Kleid mit braunem Umschlagtuch, das über der Brust gekreuzt und an den Seiten mit Nadeln festgesteckt war, darüber eine Haube, deren offene Bänder im Wind flatterten. Als der Mann seine Frau von sich stieß, seufzte sie laut auf und presste eine Hand auf ihre Brust. «Was glotzt du so, Betweib? Hast du nicht gelernt, dass die Frau dem Manne gehorchen muss?» Er kam einen Schritt auf sie zu, hatte dabei den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Bedrohlich wirkte er, so bedrohlich, dass eine andere junge Frau sich einmischte, die Mausgraue unterhakte, den Mann naserümpfend betrachtete und sagte: «Nun, hier oben ist es gar zu ungemütlich.» Die Mausgraue ließ sich mehrere Meter weit ziehen, ehe sie sich losmachte und verdattert fragte: «Wer sind Sie? Kennen wir uns?»

Die andere, unter deren warmem Regenmantel ein feingewebtes Kleid hervorschaute, kicherte ein wenig. «Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, Sie fühlten sich von diesem Grobian belästigt, deshalb tat ich, als würden wir uns kennen.»

Die Mausgraue blickte die andere scheu an. «Sie haben mir einfach so geholfen?»

«Ja. Im Übrigen heiße ich Annett.» Sie reichte der Mausgrauen die Hand, was diese aber übersah. «Ich bin Gottwitha Strumpf.» Dann nickte sie noch einmal, senkte den Blick und huschte geschwind davon.

Annett seufzte und schüttelte den Kopf, dann begab sie sich auf das Oberdeck, auf dem die Passagiere der ersten und zweiten Klasse untergebracht waren. Sie hatte einen Zettel dabei, auf dem ihre Kabinennummer stand, und hoffte, dass der Steward ihr die Koffer schon gebracht hatte. Doch ihre Kabine war belegt. Eine alte Dame, schwach und hilflos blinzelnd, hatte sich auf ihrem Bett niedergelassen und atmete schwer. «Nun, ich habe die Kabine gebucht», erklärte sie der zitternden Frau leise. «Womöglich haben Sie sich in der Nummer geirrt.» Die Frau starrte Annett an, als wäre sie ein Gespenst, schwieg und zitterte weiter, als habe sie schreckliche Angst. «Ich werde das klären.»

Annett sprach den Steward an. Immerhin hatte sie für die Reise ein Ticket der zweiten Klasse gebucht. Für 85 Dollar. Innenkabine mit Verpflegung. Sie wusste, dass die Plätze im Zwischendeck nur 30 Dollar gekostet hatten, in Deutschland immerhin das Jahresgehalt eines einfachen Knechtes. Doch der Steward hob hilflos die Schultern. «Die Kabinenbuchung geht nicht über uns. Sie ist Sache des Bremer Büros der Norddeutschen Lloyd. Kann gut sein, dass hier eine Doppelbuchung vorliegt, das erleben wir immer wieder. Aber ich kann Ihnen da nicht helfen.»

Annett legte der zitternden Frau eine Hand auf die Schulter. Die Frau schrie leicht auf, blickte in rasender Angst um sich, umschlang mit ihren dürren Armen den Oberkörper. Annett seufzte. «Es ist meine Kabine», flüsterte sie, doch die Dame starrte sie erneut angsterfüllt an. «Reisen Sie allein? Gibt es jemanden, der Sie begleitet?», wollte Annett wissen. Die Frau schüttelte den Kopf.

Eine Weile schauten sie sich an. Ich kann sie nicht von hier vertreiben, dachte Annett. Sie ist alt und hilflos. Aber wenn sie nicht geht, dann muss ich wohl gehen. Der Steward ließ sie wissen, dass die Kabinen der ersten und zweiten Klasse allesamt belegt waren. Also seufzte Annett noch einmal und begab sich in das Zwischendeck. Obwohl das Schiff gerade mal zwei Stunden von Bremen entfernt war, stank es da unten bereits gottserbärmlich. Während auf dem Oberdeck 170 Passagiere untergebracht waren, waren es hier, im weitaus günstigeren Zwischendeck, 400. Ein kleiner Junge kniete zwischen zwei dreistöckigen Etagenbetten und kotzte auf den Boden. Auf der anderen Seite ließen ein paar junge Männer Schnapsflaschen kreisen. Daneben leerte eine Frau den Inhalt einer Babywindel einfach in den Gang. Über alldem hing noch der Geruch des Schießpulvers, mit dem das Zwischendeck im Heimathafen gegen das Ungeziefer der letzten Fahrt ausgeräuchert worden war. Langsam schritt Annett den düsteren Gang entlang, der durch eine offene Luke nur dürftig erhellt war. Die meisten Betten waren belegt. Frauen machten sich daran, ihr Revier abzustecken, indem sie Leinen zogen und Laken daran aufhängten. Kinder hockten mit grimmigen Gesichtern auf der untersten Liegestatt, bereit, jeden zu vertreiben, der sich ihrer soeben eroberten Wohnstätte näherte. Als Annett in der Mitte des Decks angelangt war, sah sie die Mausgraue, die ganz oben auf einem Bett saß, sich aufmerksam umblickte und eine Bibel fest an die Brust gedrückt hielt. Annett lächelte. «Bei Ihnen ist gewiss noch ein Plätzchen für mich frei, nicht wahr?» Die Mausgraue, die – Annett erinnerte sich – Gottwitha Strumpf hieß, nickte nicht gerade begeistert. «Gut, dann werde ich mich unter Ihnen einrichten, wenn Sie nichts dagegen haben.» Die Mausgraue nickte wieder und wich dabei Annetts Blicken aus, dann schlug sie ihre Bibel auf und tat, als würde sie darin lesen. Annett schob ihren Koffer unter das wacklige Bettgestell und inspizierte den klumpigen Strohsack, auf dem sie die nächsten Wochen schlafen sollte, fuhr mit der Hand über die kratzige Pferdedecke und ließ dann ihren Blick schweifen. Es ist wie in einem Zigeunerlager, dachte sie. Überall hatten sich Familien notdürftig eingerichtet. Mütter hielten quengelnde Kinder auf dem Schoß, Männer spielten im Schein eines Talglichtes Karten oder dösten auf ihren Betten, ein paar Frauen machten sich daran, den wöchentlichen Proviant von knapp drei Pfund gepökeltem Rindfleisch, einem Pfund gepökeltem Schwein, fünf Pfund Brot und drei Achtelchen Schmalz zu verstauen, sodass niemand auf die Idee kommen konnte, das Wenige zu stehlen. Ein Mann erleichterte sich geräuschvoll über einem Eimer und produzierte dabei einen solchen Gestank, dass Annett sich die Nase zuhalten musste. Ein anderer schöpfte Wasser aus einem dreckigen Fass, das ganz hinten im Deck stand. Im Bett davor erblickte Annett die traurige Frau. Wieder hatte sich ihr Mann vor ihr aufgebaut und beschimpfte sie. «Du elende Kreatur, bist du denn zu gar nichts nütze? Ich habe dir gesagt, du sollst einen guten Platz für uns finden. Und was machst du? Suchst einen Platz neben dem Wasserfass, bei dem es zugeht wie auf dem Jahrmarkt.» Die junge Frau duckte sich und hielt ihre Hände schützend über den Bauch, und Annett sah, dass sie schwanger war. Sie hatte den Blick gesenkt und sprach kein Wort, nur die Schultern sanken immer weiter nach unten, während ihr Ehemann auf sie einlärmte. Annett schüttelte sich. Zwölf Wochen, dachte sie. Wie soll ich das zwölf Wochen lang aushalten, dieses furchtbare Leben hier im Zwischendeck?

Annetts bisheriges Leben hatte mit dem hier nicht das Geringste zu tun. Sie war die Tochter eines Bergbauingenieurs, der sie vergötterte, und einer stolzen Mutter mit einem Hang zu Höherem. Sie hatte eine gute Schulbildung genossen, spielte seit ihrem fünften Lebensjahr Klavier und hatte den Kopf voller Weisheiten und Wissen, die ihr wohl niemals etwas nützen würden. Annetts große Leidenschaft war die Mathematik. Sie war noch keine zehn Jahre alt, als der Vater, der in ihr ein Wunderkind sah, ihr die Aufgabe übertrug, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Wahrscheinlich hatte er gehofft, sie wäre so klug wie der berühmte Mathematiker Gauß, dem dieses Kunststück als Kind innerhalb von wenigen Minuten gelungen war. Karl Friedrich Gauß hatte 100 plus 1, 99 plus 2 und so weiter addiert und dabei herausgefunden, dass er 50 mal 101 als Ergebnis erhalten würde und so auf die Gesamtsumme von 5050 kam. Aber Annett war anders und dachte anders als der junge Gauß. Sie addierte die Zahlen von 1 bis 10 und kam auf die Summe von 55, danach addierte sie die Zahlen von 11 bis 20 und kam auf 155. Daraus schloss sie, dass die Summen mit 255, 355, 455 und so fort weitergehen müssten. Sie addierte also die Zwischensummen der Zehner und kam auf ein Ergebnis von 5050. Ihr Vater war begeistert. Sie hatte länger gebraucht als Gauß, das Mathegenie, aber sie war auf einen ganz eigenen Lösungsweg gestoßen. Fortan fütterte er sie mit Rechenaufgaben, vergaß dabei ganz und gar, dass sie ein Mädchen war, und sprach zu Freunden und Bekannten davon, dass Annett beruflich in seine Fußstapfen steigen würde, ein grandioser Irrtum, denn Frauen durften nicht studieren und würden niemals als Mathematikerinnen oder Ingenieurinnen arbeiten dürfen. Zumindest nicht in Deutschland. Als er bei einem Treffen in Mühlhausen den Sohn des grandiosen Brückenbauers Johann August Roebling, Washington Roebling, und dessen Gattin Emily traf, die ein ebensolches mathematisches Wunderkind wie seine Annett war, beschloss er, sein einziges Kind nach Amerika zu schicken. Er schrieb an Emily Warren Roebling und erfuhr, dass deren Mann schwer erkrankt war und sie, Emily, jede Hilfe brauchen konnte. Und jetzt hockte Annett im Zwischendeck, auf dem Weg nach Amerika, und träumte heimlich davon, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein neues Leben zu beginnen. Wer weiß, vielleicht würde sie am Ende gar Mathematik studieren dürfen. Ein Schrei schreckte sie aus ihren Gedanken. Der Schrei kam aus der Nähe des Wasserfasses. Annett sah, wie der Grobian seine Frau im Genick packte, ihren Kopf nach unten drückte und dabei lärmte: «Du bist das dusseligste Stück Fleisch, das ich kenne. Wenn das so weitergeht, werfe ich dich mitten ins Meer.»

Annett seufzte. Ihr Blick fiel auf Gottwitha, die die Szene mit aufgerissenen Augen betrachtete. «Die arme Frau», sagte Annett. «Es sieht so aus, als würde sie an der Seite dieses Kerls nicht ihr Glück finden.»

«Ihr Glück?» Gottwithas Antwort war nur ein Flüstern. «Sie muss ihm eigentlich in allen Dingen gehorchen. So steht es in der Schrift. Tut sie es nicht, dann muss er sie züchtigen.» Sie blickte auf das Buch in ihrer Hand und flüsterte noch leiser: «Aber wer züchtigt die Männer, wenn sie nicht gehorchen? Warum werden immer nur die Frauen gezüchtigt? Das habe ich nie verstanden.»

Annett sah sie erstaunt an. «Glauben Sie das wirklich?», fragte sie empört. «Dass der Mann sein Weib einfach so schlagen kann, wenn ihm danach ist?»

Aber Gottwitha hatte den Blick schon wieder gesenkt, als schäme sie sich für ihre vorlauten Worte, und tat, als würde sie in ihrer Bibel lesen. Annett stellte sich so vor Gottwitha, dass diese nicht ausweichen konnte. «Was haben Sie eigentlich in Amerika vor?»

Gottwitha schrak auf, sah sich nach allen Seiten um. «Ich sollte nicht mit Ihnen reden», gab sie flüsternd zur Antwort.

«Warum denn nicht?»

«Sie gehören zu den anderen. Zu denen, die vom rechten Glauben abgefallen sind.»

Annett runzelte die Stirn. «Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch gar nicht.»

«Ich brauche Sie auch nicht zu kennen. Es reicht, wenn ich Sie ansehe.»

«Mich ansehen? Und was ist an mir so Verwerfliches?»

«Ihr Kleid. Der Ausschnitt. Der feine Stoff. Der Spitzenbesatz. Ihre Ohrringe. Die Kämme im Haar. Alles eitler Putz und Tand. Für Gott müssen Sie sich nicht schmücken», sagte sie und sah dabei doch aus, als wünschte sie selbst inbrünstig, auch einmal so einen geschmückten Kamm im Haar zu tragen.

Annett nickte. «Sie haben recht. Aber ich tue es nicht für Gott, sondern für mich. Wir sind jung. Ein wenig Eitelkeit kann doch nicht schaden.»

Gottwitha presste die Lippen fest zusammen, und Annett begriff, dass die andere nichts mehr sagen würde.

Die Nacht war grauenvoll. Das Schiff bewegte sich in einem leicht schaukelnden Rhythmus und ließ den Dampfkessel zischen. Im Zwischendeck hatten sich die meisten zu Bett begeben. Annett lag wach und schauderte leise vor Entsetzen. Im Nachbarstockbett waren ein Mann und eine Frau zugange. Beide stöhnten und keuchten. Annett drehte sich auf die andere Seite. Da lag ein alter Mann mit offenem Mund, dem der Speichel über das Kinn rann, und schnarchte wie ein Waldesel. Ein kleines Kind jammerte im Schlaf, irgendwo sang jemand ein Lied, graue Gestalten huschten durch den Gang. Im ganzen Zwischendeck waren die Geräusche unruhigen Schlafes zu hören. Es wisperte, tuschelte, zischte, murmelte, röchelte, schnaufte, schniefte, grummelte und stöhnte, und darüber lag der Geruch menschlicher Ausdünstungen. Annett schloss die Augen und tat, als ob sie schliefe, um auf diese Weise den Schlaf herbeizulocken. Plötzlich bewegte sich das Bett, und kurz darauf spürte sie, wie sich ein Leib an sie drückte. Sie schrak hoch. «Ich bin es nur, Gottwitha», flüsterte eine Stimme in der Dunkelheit.

Annett drehte sich um. «Was ist los?» Sie stützte sich auf den Ellbogen und richtete sich halb auf. «Sie zittern ja. Haben Sie Angst?»

Gottwitha nickte. «Ich höre Dinge, die ich nicht hören darf, ich sehe Dinge, die ich nicht sehen darf, und ich rieche Dinge, die ich nicht riechen darf.»

Annett verdrehte ein wenig die Augen, doch in der Dunkelheit sah das niemand. «So sind die Menschen», erwiderte sie. «Menschen leben, lachen, lieben und weinen. Menschen essen, trinken, verdauen. Menschen wachen und schlafen. Und am Ende sterben sie.»

Gottwitha schüttelte sich ein wenig. «Es klingt, als wären es Tiere.»

Jetzt lachte Annett doch ein wenig. «Sie glauben, dass Menschen gut, gesund und sauber sind? Dass sie nicht riechen und die Kinder von Gott in die Wiege gelegt bekommen? Nein, so ist es nicht.»

«Aber so, wie es hier ist, kann es auch nicht sein», erwiderte Gottwitha beinahe schon trotzig. «Der Herr hat den Menschen schließlich nach seinem Ebenbild geschaffen.»

Sie sagte es, weil sie es glaubte. Der Herr schuf den Menschen nach seinem Antlitz. So stand es in der Schrift, und in der Schrift stand die Wahrheit. Und mit einem Mal sehnte sich Gottwitha nach Hause. So sehr, dass sie ein Schluchzen unterdrücken musste.

Zu Hause, das war ein abgeschiedenes Dorf im Süddeutschen. Ein Dorf, in dem nur Menschen lebten, die aussahen und dachten und handelten wie ihre Eltern. Sie nannten sich «die Amischen», und die, die keine Amischen waren, die nannten sie «die anderen». Gottwitha wusste, dass es auf der Welt mehr von den anderen als von den Amischen gab; aber sie waren die mit dem rechten Glauben, die beim Jüngsten Gericht nichts zu befürchten hatten. Sie lebten so, wie es in der Schrift stand. Nicht immer gelang das Gottwitha, aber zumindest gab sie sich Mühe, auch, wenn der Vater ihr mehr als einmal gesagt hatte, dass sie der Versuchung viel zu nahe stünde und ihr eines Tages erliegen würde. Manchmal sah er sie nachdenklich an, schüttelte dann den Kopf und erklärte: «Der Teufel muss bei deiner Geburt Pate gestanden haben. Anders ist dein Eigensinn nicht zu erklären.»

Als sie klein war, ging sie mit den anderen Kindern ihres Dorfes in eine amische Schule und lernte nur das, was sie zu einem Leben in ihrem Dorf brauchte: Den Mädchen brachte man das Kochen, Nähen, Putzen und die Frömmigkeit bei, die jungen Männer wurden in der Landwirtschaftslehre unterrichtet. Es gab im Dorf kein einziges Musikinstrument, dafür in jedem Haus ein Gesangbuch. Jede Frau hatte nur vier Kleider, drei Schürzen und zwei Hauben. Die Kleider waren vollkommen schmucklos, braun oder dunkelblau, dazu gab es Umschlagtücher und Hauben, dicke Strümpfe und einfache, klobige Schuhe. Die Männer trugen schwarze Hosen und dunkelblaue Hemden, dazu große schwarze Hüte, am Sonntag zum Gottesdienst zogen sie ihr einziges weißes Hemd an. Sie hatten allesamt die gleichen Frisuren und Bärte, so wie die Frauen alle langes Haar hatten, das in einem festen, straffen Knoten getragen wurde. Sie standen sehr früh auf, arbeiteten auf dem Feld und in der Küche, aßen am Abend gemeinsam, beteten, gingen zu Bett, um am nächsten Morgen erneut zu arbeiten. Jeden zweiten Sonntag fuhren sie zu einem anderen Hof und hielten dort ihre Gottesdienste ab. Drei Stunden und länger dauerten sie, doch Gottwitha mochte die Gottesdienste, weil man dank ihnen wenigstens ab und an einfache Lieder sang. Die Mädchen wurden groß, heirateten einen der Ihren, bekamen seine Kinder und taten das, was ihre Mütter und Großmütter schon getan hatten. Vieles war verboten. Es gab keinen Alkohol bei den Amischen, keinen Schmuck, keinen Putz, keinen Tanz, keinen Tabak und nicht den geringsten Kontakt mit den anderen. Gottwitha hatte die Mädchen aus der Gemeinde tuscheln hören von großen Städten, Pferderennbahnen, von Schokolade, Dingen, von denen sie bislang nie etwas gehört hatte, ebenso wenig wie von Varietés, Theatern oder der Oper. Sie kannte kein Korsett und keine Schnürstiefel, hatte noch nie ein Leibchen aus Musselin oder Batist besessen. Doch das alles hatte ihr nichts ausgemacht, bis sie eines Tages – es war vor einem Jahr – die Grenzen ihrer Gemeinschaft am eigenen Leibe zu spüren bekommen hatte. Nach dem Gottesdienst hatten die Amischen gemeinsam gegessen, ein einfaches, nahrhaftes Gericht aus Bohnen und Speck. Danach hatten die jungen Leute zusammengesessen, von weitem genau beobachtet von den alten. Sie hatten geredet, hatten gelacht, und schließlich hatte einer vorgeschlagen, Gottwitha solle singen. Sie hatte eine schöne Stimme, einen klaren Alt. Und Gottwitha stand auf, sang laut und hell, drehte sich dabei im Kreis, hob die Schürze ihres Kleids, nahm sogar die Haube ab und wedelte damit herum. Sie war so glücklich gewesen in diesem Moment, sie hatte sich leicht und frei gefühlt, doch die zweite Strophe war noch nicht beendet, als der Vater kam, sie vom Tisch wegriss, ihr die Haube überstülpte und sie nach Hause zerrte. Dort musste sie niederknien, sollte ihre große Sünde bereuen, doch sie wusste nicht, was sie getan hatte. Der Vater sagte es ihr, sein Gürtel schrieb jedes einzelne Wort in ihren Rücken. Sie hatte geflirtet, hatte stolz getan, hatte den Jungs schöne Augen gemacht und am Ende gar ein Lied gesungen und sich in den Hüften gewiegt. Wer sollte sie jetzt noch heiraten? Sie, die Tugendlose. Gottwitha hatte nicht geweint. Auch nicht, als sie für einen Monat vom gemeinsamen Tisch verbannt wurde, als niemand mit ihr sprach und niemand sie ansah. Nicht einmal die Mutter. Danach musste sie vor der ganzen Gemeinde öffentlich bereuen, musste ihre Sünden bekennen. Ihr wurde vergeben, doch sie war gebrandmarkt, hatte Schande über die Familie gebracht. Und dann, eines Tages, nach dem Abendessen, war ihr Schicksal entschieden gewesen, ohne dass sie gefragt worden war.

Sie hatten im Licht einer einfachen Talgkerze am Küchentisch gesessen, so wie jeden Abend. Der Vater, die Mutter, die beiden älteren Brüder und die vier jüngeren Schwestern. Nach dem Gebet war kein Wort mehr gefallen. Nur hin und wieder hörte man den Löffel am Blechnapf anschlagen, hörte den Vater die Suppe schlürfen und eine Fliege um die Kerze summen. Dann, nachdem alle ihre leeren Näpfe in den Spülstein gestellt und sich durch ein Nicken für das gute Mahl bedankt hatten, war auch Gottwitha aufgestanden. Sie nickte dem Vater zu, doch der klopfte mit dem Zeigefinger einmal auf die Tischplatte und bedeutete ihr so, dass sie zu bleiben hatte. Also verschränkte sie die Hände vor dem Schoß, senkte den Blick und wartete. Es dauerte, bis der Vater mit einem Brotkanten noch die kleinste Spur der Suppe vom Teller getilgt hatte, dann schob er die Schüssel zur Seite und blickte seine Tochter an. «Bist alt genug zum Heiraten», sagte er.

Gottwitha hatte schon eine ganze Weile darauf gewartet, dass der Vater dies feststellen und ihr einen Ehemann bestimmen würde. Viel Auswahl gab es freilich nicht in der kleinen Amischgemeinde. Und mit den meisten der jungen Männer war sie ohnehin verwandt. Wen also sollte sie heiraten? Oder wollte der Vater sie verstoßen? Das Herz raste in ihrer Brust, ihr linkes Augenlid zuckte.

«Wirst weggehen von hier», sprach der Vater nun weiter. «Habe lange gesucht. Niemand will dich. Zu widerspenstig bist du, heißt es, zu lose auch.»

Gottwitha senkte den Kopf noch weiter. Ihr war fast schwindelig vor Angst.

«Wirst nach Amerika gehen, dorthin, wo meine Onkel leben, die vor ein paar Jahren ausgewandert sind. Sie haben geschrieben, dass es zu wenige Frauen bei ihnen gibt. Sie haben einen Nachbarn, der würde dich nehmen. Stoltzfuß heißt er. Nächste Woche brichst du auf.»

«Nach Amerika?» Gottwitha riss ungläubig die Augen auf. «Allein?»

«Allein. Wir haben zusammenlegen müssen, um dir die Überfahrt zu bezahlen. Für eine Begleitung reicht das Geld nicht.»

Sie hatte geweint, hatte gefleht, hatte Gott auf den Knien darum angebetet, er möge sie hierlassen, doch umsonst. Eine Woche später wurde sie zu diesem Schiff gebracht, und der Vater hatte ihr tief und lange in die Augen geblickt und verlangt: «Sprich mit niemandem auf diesem Schiff. Hörst du? Halt dich von den anderen fern. Amerika ist deine letzte Chance auf ein gottgefälliges Leben.» Dann hatte er Gottwitha beim Handgelenk gepackt und sie die schmale Planke, die vom Kai auf das Schiff führte, hochgeschubst. Und Gottwitha hatte die Hacken in das Holz gerammt, hatte sich so steif gemacht, wie sie nur konnte, und dabei waren ihr die Tränen aus den Augen geströmt. «Lass mich hier, Vater!», hatte sie geweint, aber der Vater hatte sie kurz in die Kniekehlen getreten, sodass sie nach vorn stolperte und ihre Steifheit aufgeben musste. Und dann war sie auf dem Schiff gewesen, ein Matrose hatte die Planke weggestoßen, und es hatte keinen Weg zurück mehr gegeben. Sie hatte an Deck gestanden, den dunklen, zornesflammenden Blick auf den Vater gerichtet, der nicht einmal die Hand gehoben hatte, um ihr ein letztes Lebewohl zu winken.

«Schlafen Sie?» Annett hatte sich ein wenig aufgerichtet und betrachtete Gottwitha. Die hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit.

«Nein, ich schlafe nicht. Ich bete», erwiderte sie. Dann drehte sie sich zu Annett. «Kann ich heute Nacht hier bei Ihnen bleiben?»

Nein, dachte Annett. Das kannst du nicht. Die Liege ist viel zu schmal für zwei. Doch als sie merkte, dass Gottwitha noch immer zitterte, nickte sie und seufzte leise in ihr Kissen.