Zwanzigstes Kapitel

Gottwitha beobachtete Samuel. Sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Er aß sein Frühstück, ohne sie anzusehen. Mit gebeugtem Rücken, den Arm vor den Teller gelegt, als müsse er seinen Oberkörper schützen, hockte er da und schaufelte Löffel für Löffel in seinen Mund wie ein Mühlrad. Er kaute einmal, höchstens zweimal, dann schlang er den Brei nach unten, und Gottwitha konnte regelrecht sehen, wie die Masse sich durch seine Kehle quälte, und wenn sie partout nicht rutschen wollte, mit einem großen Schluck Wasser einfach hinfortgespült wurde. Sie hatte gelernt, dass man mit geradem Rücken bei Tische saß, dass die Arme nichts vor dem Teller zu suchen und die Ellbogen nichts auf dem Tisch verloren hatten und dass man den Löffel zum Mund führte und nicht den Mund zum Löffel. Von all diesen Dingen tat ihr Mann das Gegenteil, und Gottwitha wusste nicht, ob er das tat, um sie zu kränken, sie von sich zu weisen, ihr zu sagen, dass er mit ihr nichts gemein hatte, oder ob er einfach nicht anders konnte. War der Teller leer, betete er mit geschlossenen Augen und dankte Gott für das gute Mahl, ohne Gottwitha auch nur mit einer Geste zu bedenken. Er erhob sich, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Mit den Worten «Gott segne dein Tagwerk» verließ er das Haus. Sie sah ihm aus dem Fenster nach. Wie er ging. Mit schlaksigen Schritten und steifen Schultern. Wie ein Soldat. Wie einer, der in ein festes Korsett geschnürt war. Ein wenig vornübergebeugt, als bedrücke ihn etwas. Sie konnte seinen Nacken sehen. Er kam ihr zart vor. Zart und irgendwie weiblich. Er erinnerte sie an den Samuel, den sie nachts jetzt manchmal wieder in ihrem Bett hatte. Er kam nicht freiwillig. Eher so, als könnte er nicht anders und hasste sich bei Tag dafür. Zart und irgendwie weiblich war er in diesen Nächten. Er wimmerte, manchmal weinend, manchmal brummend. Und manchmal sprach er sogar mit ihr. Die Worte waren einfach, waren Kinderworte und deshalb ein wenig gruselig, da sie doch von einem erwachsenen Mann gesprochen wurden. «Halt mich fest, ja?» «Hältst du mich fest?» «Für immer?» «Versprichst du mir, dass du für immer bei mir bleibst?» Und sie hielt ihn, flüsterte «Pscht, pscht, pscht» und streichelte ihn, und dann, nach einer ganzen, ganzen Weile, da legte er sich zwischen ihre nackten Schenkel und schlief dort ein, den Kopf auf ihrem Schoß. Und sie deckte ihn zu, fror selbst und schlief irgendwann ein, erschüttert, verwundert und hilflos.

Und am nächsten Morgen war er schon aufgestanden, und Gottwitha fand sich liebevoll zugedeckt in ihrem Bett. Sie eilte in die Küche, und dort saß er schon am Tisch, las mit zusammengekniffenen Lippen in der Bibel, sah nicht auf, wenn sie kam, sprach nicht mit ihr, kein einziges Wort, das ganze Frühstück über nicht, sprach nur die Abschiedsformel und ging dann weg. Und sie sah ihm nach, zu jung, zu unwissend, um diesen Mann zu erkennen. Sie fühlte seine Last, seine Schuld oder woran immer er da trug, aber sie verstand sie nicht. Niemand hatte ihr je gesagt, dass Männer, dass Ehemänner so sein könnten. Sie hatte immer nur erfahren, dass sie ihrem Mann gehorchen musste. Aber welchem Mann? Dem, der in der Nacht an ihrer Brust weinte? Der gab keine Befehle. Oder dem, der sie am Tag nicht beachtete? Auch der gab keine Befehle, aber er strafte sie, wenn sie nicht das tat, was er von ihr erwartete. Einmal hatte sie den Waschtag vergessen. Erst am Mittag hatte sie die Wäsche geweicht und gewaschen und am späten Nachmittag auf die Leine gehängt. Während die Wäsche der anderen amischen Frauen schon lange trocken war, tropfte von den Hemden ihres Mannes noch das Waschwasser. Und als er nach Hause gekommen war, da hatte er die tropfende Wäsche betrachtet, hatte sein trockenes Hemd ausgezogen und sich in ein nasses gehüllt und war so durch das Dorf spaziert, hatte bei seiner Mutter hineingeschaut, bis alle wussten, dass Gottwitha nicht in der Lage war, ihren Mann zu allen Zeiten mit sauberer, trockener Wäsche zu versorgen. So war der Samuel, den sie bei sich den Samuel des Lichtes nannte, weil er nur am Tage so war. Und dann gab es noch den anderen, den Samuel der Dunkelheit. Den, der er nur bei Nacht war.

Der Samuel der Dunkelheit war kein Mann, sondern ein gebrochenes Kind.

Sie sah ihm noch immer nach, und ihr Blick war dabei zärtlich und erschrocken, liebevoll und ängstlich zugleich. Sie wusste einfach nicht, was sie von diesem Mannkind halten sollte. Jetzt hatte er die Scheune erreicht. Noah wartete bereits auf ihn. Sie schüttelten sich die Hände, und Gottwitha stellte fest, dass ihr Samuel Noah um bald einen halben Kopf überragte und auch viel breitere Schultern hatte. Ein Bär von einem Mann, ein ganzer Kerl. Na ja. Sie beobachtete, wie die beiden Männer vier Ochsen vor den Pflug spannten und hernach damit auf das Feld fuhren. Noah winkte zu seinem Haus hinüber und lachte fröhlich. Samuel hingegen blickte in eine andere Richtung, als sie an seinem Haus vorbeifuhren, dabei hatte Gottwitha schon die Hand zum Winken erhoben. Jetzt ließ sie sie einfach fallen, wie man etwas fallen ließ, das für nichts zu gebrauchen war. Sie war gerade einundzwanzig Jahre alt, hatte von der Welt bisher fast nichts gesehen und kannte kaum jemanden, der nicht amisch war. Sie verstand nicht, was mit ihrem Mann in der Nacht passierte, und sie wagte es nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Also grübelte sie, aber sie kam zu keinem Ergebnis. Ob es etwas mit der Frau zu tun hatte, mit der er verheiratet gewesen war und über die niemand sprach?

Sie hatte nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Mit einem Mal öffnete sich die Tür zu Noahs Haus, und Rebecca kam heraus. Sie trug in der einen Hand eine blecherne Milchkanne und in der anderen Hand einen Weidenkorb. Gottwitha riss das Fenster auf. «Rebecca, bitte warte auf mich, ich komme mit. Nur einen Augenblick.» Dann raffte sie einen Brotkanten, ein Stück Käse, einen Zipfel Wurst, einen Apfel und ein Stück Zimtgebäck vom gestrigen Tag zusammen, schlug alles in ein rot kariertes Tuch und legte die Sachen in einen Korb. In die Blechkanne füllte sie einen Kräutertee, gab zwei Löffel Honig hinzu und folgte dann Rebecca.

«Kommt es mir nur so vor, oder bist du heute wirklich sehr früh dran?», wollte Gottwitha wissen.

«Ich weiß es nicht», erwiderte Rebecca fröhlich. «Ich bin mit meiner Arbeit gerade zu Ende gekommen.» Sie blieb stehen und strahlte Gottwitha an. «Weißt du, manchmal vermisse ich Noah so sehr, dass ich es kaum aushalten kann.»

«Vermissen? Wieso?» Gottwitha verstand nicht. «Er ist doch da, er ist nur auf dem Feld, weiter nichts. Du brauchst ihn nicht zu vermissen, denn er kommt doch am Abend wieder.»

«Ja, aber das ist mir schon zu lange. Ich wäre am liebsten jede einzelne Minute des Tages mit ihm zusammen. Und jede Stunde, die ich es nicht bin, fehlt er mir.»

Gottwitha runzelte die Stirn. Ich, dachte sie, habe Samuel wohl noch nie vermisst. Im Gegenteil. Manchmal kann ich es am Morgen kaum erwarten, dass er das Haus verlässt. Und wenn er abends zurückkommt, so ist es immer zu früh.

Rebecca redete weiter, erzählte, wie es sein würde, wenn ihr Kind erst einmal geboren war, und Gottwitha lief neben ihr her und wusste nicht, ob sie Rebecca beneiden oder bedauern sollte. Bedauern? Warum? Auch das wusste sie nicht zu sagen, aber irgendetwas in ihrem Inneren wollte beweisen, dass Rebeccas abgöttische Liebe ins Verderben führen musste. Wäre Gottwitha älter gewesen, dann hätte sie vielleicht erkannt, dass sie einfach nur neidisch war.

«Du kannst nicht aufhören, über Noah zu reden, nicht wahr?», fragte sie, als sie bereits am Rande des Feldes angelangt waren.

«Nein», erwiderte Rebecca. «Er füllt mein Herz, mein ganzes Inneres. Da hat nichts sonst Platz.»

«Ist das nicht langweilig?» Gottwitha hätte sich auf die Lippen beißen sollen, aber sie konnte es einfach nicht.

Rebecca blieb stehen, sah Gottwitha an, und in ihrem Blick lag Traurigkeit. Sie strich ihr kurz über den Oberarm. «Samuel ist nicht schlecht. Wirklich nicht. Das kannst du mir glauben. Aber das Leben war einfach nicht gut zu ihm.»

Dann wandte sie sich ab und ging mit schnellen Schritten auf ihren Mann zu. Sie umarmten und küssten sich, und Noah strich Rebecca über die erhitzten Wangen, während Samuel Gottwitha einfach nur den Korb abnahm und sogleich das Tuch auseinanderriss, um sich auf die Speisen zu stürzen. Er sprach kein Wort, es gab keinen dankbaren Blick, nicht die allerkleinste Geste. Gottwitha war nicht mehr als ein Gerät, als ein Ding, das ihm Essen brachte. Niemand bedankte sich beim Herd dafür, dass er das Essen gar gekocht hatte. Sie reichte Samuel die Kanne mit dem Tee. Und er nahm sie und trank, und als die Kanne leer war, da gab er sie ihr nicht zurück, sondern ließ sie einfach auf den Boden fallen, sodass Gottwitha sich danach bücken musste.

«Komm, schicke dein Weib fort, wir müssen weitermachen», sprach er alsbald zu Noah, und Noah küsste Rebecca zärtlich und rief ihr zu: «Ich freue mich schon, dich heute Abend zu sehen.» Und Rebecca strahlte, wurde über und über rot und lief lachend davon.

Am Feldrand wartete sie auf Gottwitha. Das Lachen war noch immer nicht von ihrem Gesicht verschwunden, ließ es prall und jung und gesund aussehen.

In einem amischen Haus gab es keine Spiegel. Sich selbst betrachten, bewundern sogar, galt als hochmütig, als eitel und auf jeden Fall sündig. Aber Gottwitha wusste trotzdem, dass sie nicht so glücklich und lebensfroh aussah wie Rebecca. Ihr Haar war nicht mehr so weich wie früher, die Haut spannte hin und wieder, und ihre Augen brannten oft. Sie war hässlicher geworden, und für diese Erkenntnis brauchte sie keinen Spiegel. Und das kränkte, verletzte sie mehr, als es Samuel je mit Worten oder Gesten vermocht hätte.

Sie packte Rebecca fester am Arm, als es nötig gewesen wäre, und Rebecca blieb abrupt stehen, sodass die beiden leeren Blechkannen aneinanderknallten. «Erzähl mir, wie es ist, wenn zwei sich wirklich lieben!» Gottwithas Ton war so bestimmt, dass es kaum eine Möglichkeit zur Ausflucht gab.

«Sie ergänzen sich. Was der eine nicht hat, hat der andere. Und bald ist es so, als wäre der andere ein Teil von einem selbst. So wie ein Arm oder ein Bein. Und wenn er nicht da ist, dann fühlst du dich nur halb. Ein bisschen krank. Unvollständig einfach.»

Gottwitha hörte die Worte, aber sie konnte sich darunter nichts vorstellen. «Wie lange hat es gedauert, bis es bei euch so war, wie es jetzt ist?»

Rebecca zuckte mit den Schultern. «Ich mochte Noah schon immer. Schon als Kind. Aber die Liebe kam erst mit der Hochzeit.»

«Mit der Hochzeit?»

Rebecca wurde rot, scharrte mit der Fußspitze im Staub. «Du weißt schon.»

«Du meinst die Schlafkammer?» Gottwitha ließ nicht locker, auch wenn sie selbst gemerkt hatte, dass sich Rebecca vor Verlegenheit wand.

«Ja», flüsterte sie kaum hörbar und drehte sich weg.

Aber Gottwitha packte Rebecca bei den Schultern und zwang sie so, ihr ins Gesicht zu sehen. «Rebecca, es tut mir leid, wenn ich dich quäle, aber ich muss es wissen: Was genau passiert im Schlafzimmer? Was muss man tun, um sich so zu lieben?»

Rebecca entwand sich dem Griff. «Ich weiß es nicht», rief sie hilflos aus. «Es liegt nicht in unserer Macht, es ist Gottes Wille, der geschieht.»

Gottwitha war nicht bereit, sich so einfach abspeisen zu lassen.

«Alles ist Gottes Wille», erwiderte sie. «Aber er hat uns nach seinem Ebenbild geschaffen, und er hat uns einen Verstand gegeben. Was also muss ich tun, damit Samuel mich liebt?»

Rebeccas Augen irrten hin und her, dann brach sie in Tränen aus. «Du darfst mich so etwas nicht fragen, Gottwitha. Ich darf nicht mit dir über solche Dinge reden. Mein Rat an dich lautet: Bete. Bete, so oft und so innig du kannst. Wenn der Herr sieht, dass du aufrichtig bist, wird er dir helfen. Mehr, als ich es jemals könnte.» Dann raffte Rebecca ihren Korb und ihre Kanne und rannte so schnell davon, dass eine Staubwolke hinter ihr aufstob.

Gottwitha blieb allein zurück. Sie blickte zum Himmel, als suche sie nach Gott, aber da war nichts als eine blaue Unendlichkeit, unter der sich ein paar Vögel tummelten. Gott. Gott. Immer lief alles auf Gott hinaus. Es war nicht so, dass sie nicht daran glaubte. Seit sie geboren war, hatte sie immer wieder von Gott gehört. Sie wusste, dass es ihn gab. Irgendwo. Aber er hatte noch nie zu ihr gesprochen, hatte sich ihr nie offenbart. Sie hatte weder ein Zeichen von ihm erhalten noch eine Botschaft von ihm in sich gehört. Und sie hatte niemandem davon erzählt. Alle um sie herum, sowohl zu Hause in Deutschland als auch hier, schienen mit Gott auf vertrautem Fuße zu stehen. Sie redeten mit ihm wie mit einem Vater oder Freund, sie vertrauten sich ihm an, waren sicher, dass alles, was geschah, von Gott so bestimmt worden war. Nur sie, nur Gottwitha, hatte dieses Urvertrauen nicht mehr. Und sie wusste genau, wo sie es verloren hatte. Auf dem Schiff. In der Nacht, in der Susannes Mann über Bord gegangen war. Und plötzlich, hier am Feldrand unter der gleißenden Sonne Pennsylvanias, wurde ihr eine Offenbarung zuteil. Natürlich hörte, sah und spürte sie Gott nicht. Wie auch? Sie hatte eine Todsünde begangen, hatte geholfen, einen Menschen zu töten. Gott musste sich von ihr abgewandt haben. Dass Gott ihr zürnte, war natürlich. Und auch, dass er sie strafte. Er hatte sie gestraft mit diesem Mann, der keine Frau suchte, sondern eine Mutter. Er hatte sie gestraft mit dieser Schwiegermutter, mit jedem Tag, den sie hier in der Gemeinde lebte. In einer Gemeinde, der sie sich nicht zugehörig fühlte. In einer Gemeinde, die ihr gleich am ersten Tag den Platz einer Außenseiterin zuerkannt hatte, ohne sie überhaupt kennenlernen zu wollen. Das war ihre Strafe. Und die musste sie tragen. Und wenn sie der Strafe einen Namen geben sollte, dann würde sie den Namen «Einsamkeit» wählen.