Dreiundzwanzigstes Kapitel

Wie lange lebte Gottwitha schon mit Samuel zusammen? Wie lange waren sie einander nun Mann und Frau? Sie rechnete nach. Vier Monate schon. Mehr als ein Vierteljahr. Und nichts war besser geworden, vertrauter, heimischer. Sie dachte an Susanne und an Annett und fragte sich, wie es den beiden wohl erginge. Sie würde so gern mit Annett in Kontakt treten, aber sie wusste, dass Samuel das nicht erlauben würde. Also blieb ihr nur, die beiden Freundinnen täglich in ihre Gebete einzuschließen und zu hoffen, dass sich deren Leben glücklicher entwickelte als ihres. Denn Gottwitha war verunsichert und verwirrt. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte, um hier in der Gemeinde heimisch zu werden, und, schlimmer noch, was ihr fehlte, um bei ihrem eigenen Mann heimisch zu werden.

«Vielleicht besitzt du eine Gabe, die Männer aufweichen zu können, ihnen das Mark aus dem Rückgrat zu saugen. Aber ich werde das nicht länger zulassen. Ich verbiete dir, mich zu berühren.» Das hatte Samuel gesagt. Plötzlich für Gottwitha und nachdem er eine lange Unterredung mit dem Bischof gehabt hatte. Und er hatte es getan. Seit zwei Wochen hatte er sie nicht mehr angefasst und jede ihrer anfänglichen Berührungen abgewehrt, von Mal zu Mal heftiger, bis er sie sogar einmal geschlagen hatte. Eine ordentlich klatschende Maulschelle, die seine Finger auf ihre Wangen zeichnete.

Nur einmal in der Woche, an jedem Sonntagabend, rollte er sich auf sie und vollzog den ehelichen Akt, der nicht länger als eine Minute dauerte und sich anfühlte, als führe man in einer schlechtgefederten Kutsche über Katzenkopfpflaster.

Gottwitha wusste nicht, was sie getan hatte. Sie wusste nur, dass Samuel über alle Maßen verärgert war und dass er sie mied, als wäre sie eine Aussätzige. Als bereute er es schon nach vier Monaten, sie geheiratet zu haben. Doch die Amischen kannten keine Scheidung, also mussten sie beide sich in ihr Schicksal fügen. Das Schlimmste für Gottwitha war, dass sie nicht wusste, warum sie sich seinen unbändigen Zorn zugezogen hatte. Sie hatte ihn gestreichelt. Aber was in aller Welt war dagegen zu sagen? Warum reagierte Samuel darauf so erbost? Sie hatte keine Erklärung dafür. Derweil ging das Leben einfach weiter, so, als ob nichts geschehen wäre. So wusch sie also jeden Montag die Wäsche, butterte jeden Dienstag, buk am Mittwoch das Brot und immer so weiter. Rebecca winkte ihr zu, wenn sie beide, eine jede im Garten hinter ihrem Haus, die Wäsche zum Trocknen auf die Leine hängten, aber sie hatte sie nie mehr gebeten, zum gemeinsamen Quiltnähen zu kommen. Und auch Gottwitha hatte noch nie jemanden zu sich eingeladen. Weder um Kochrezepte zu tauschen, noch um gemeinsam zu stricken, zu häkeln oder zu spinnen. Die Straße vor ihrem Haus lag so ruhig, als würde sie niemals befahren oder belaufen. Und tatsächlich war es auch so. Heute Vormittag aber hörte Gottwitha aufgeregte Stimmen. Hoch und schrill rief eine Frau irgendetwas. Eine dunkle, tiefe Stimme antwortete ihr eilig. Sie ließ den Brotteig fahren, wusch sich den klebrigen Teig von den Händen und trat ans Fenster. Zwei Männer, Noah und Samuels Bruder Esra, schleppten eine behelfsmäßige Trage. Und auf der Trage lag ein Mann, dessen Arm lose herunterhing und aus dessen Hand Blut auf die Erde tropfte. Der Mann auf der Trage war Samuel. Auf der Stelle riss Gottwitha die Tür auf. «Was ist passiert?», fragte sie entsetzt. «Oh, mein Gott, was ist nur geschehen?»

Die Männer mit der Trage drängten sich durch die Tür, schleppten den Verletzten, dessen Gesicht so grau wie der Tod war, nach oben, und Rachel, Samuels Mutter, ging hinterher, die Hände klagend über dem Kopf erhoben. Niemand von ihnen beachtete Gottwitha, die am Küchentisch stehen geblieben war, die Hände an der Schürze rieb und sich fühlte, als wäre sie die letzte Magd. «WAS IST PASSIERT, verdammt!», rief sie.

Ihre Schwiegermutter antwortete ihr nicht, doch Gottwitha hörte sie erbost ausrufen: «Jetzt flucht das Drecksmensch auch noch!»

Da hielt es Gottwitha nicht länger unten aus, sondern stieg in die Schlafkammer hinauf, schob ihre Schwiegermutter einfach und rüde zur Seite, betrachtete ihren totenbleichen Mann auf dem Bett und fragte noch einmal laut und vernehmlich: «Was ist geschehen?»

Noah hob die Schultern, sah sie betrübt und ratlos an. «Es ist beim Reparieren des Mühlrades passiert. Er muss direkt ins Rad hineingegriffen haben. Ich weiß nicht genau, wie. Auf einmal schrie er. Und dann fiel er schon um.» Er wies auf die Hand, in der kein einziger Knochen mehr heil zu sein schien und aus der noch immer Blut auf den Boden tropfte.

«Samuel?» Sein Name kam als Flüstern aus ihrem Mund. «Samuel, hörst du mich?»

«Er hat die Augen nicht mehr geöffnet seit der Mühle. Er ist bewusstlos.»

«Ein Arzt muss her. Einer von den englischen.»

«Niemals!» Rachel stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor das Bett ihres Sohnes. «Kein Englischer wird dieses Haus jemals betreten. Ich habe bereits nach Anna geschickt. Sie kümmert sich, wenn einer von uns krank ist.»

«Anna!» Gottwitha lachte auf. «Sie ist beinahe blind. Was soll sie bewirken? Wie soll sie ihm die Knochen richten, wenn sie noch nicht einmal eine Kutsche auf dem Weg vor ihrem Haus sieht? Hier kann nur ein englischer Arzt helfen.»

«NEIN!» Rachel schrie beinahe. «Willst du ihn unbedingt umbringen, du Hexe? Willst du sein Seelenheil aufs Spiel setzen, wie du es schon bei meiner Mutter getan hast?»

Ehe Gottwitha noch etwas erwidern konnte, trat Noah zu ihr, legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. «Lass es!», sagte er leise, aber bestimmt. «Samuel selbst würde es nicht wollen. Ich werde der alten Anna zur Hand gehen. Und danach werde ich dafür sorgen, dass er einen Trank mit ein wenig Opium bekommt. Ich bin sicher, Rebecca hat noch Laudanum da. Das wird ihm helfen.»

«Gut!» Gottwitha hatte plötzlich keine Kraft mehr. «Macht, was ihr wollt.»

Sie wandte sich ab, müde, niedergeschlagen, traurig. «Kann ich noch etwas tun?» Sie fragte, obgleich sie die Antwort zu kennen glaubte: Nein, denn was kannst du schon, das wir brauchen können?

Aber Noah sprach: «Es wäre schön, wenn du für uns alle ein wenig Limonade bringen könntest. Vor allem aber für Samuel. Er wird durstig sein, wenn er erwacht.»

Und Rachel, plötzlich besänftigt, fügte hinzu: «Hol Rote Beete aus dem Garten. Koch sie, schneide sie klein. Samuel wird sie zur Stärkung brauchen, schließlich hat er eine Menge Blut verloren.»

Gottwitha nickte und begab sich in den Garten. Sie holte gerade die Rote Beete aus der Erde, als sie Samuel in der Kammer brüllen hörte. Es war kein menschlicher Laut. So schrien kräftige Bullen, wenn sie auf die Schlachtbank geführt wurden. So brüllten Schweine, denen man bei lebendigem Leib den Bauch aufschlitzte. Der Schrei drang Gottwitha in Mark und Bein. Sie musste würgen und erbrach das Frühstück, während ihr Mann nur ein paar Meter entfernt von ihr gegen die teuflischsten Schmerzen anschrie. Sie ließ sich auf das Beet nieder, faltete die Hände und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Dann, die Schreie waren schwächer geworden und hatten dann ganz aufgehört, begab sich Gottwitha in die Küche und bereitete die Rote Beete zu. Sie schnitt Zwiebeln, vermischte sie mit der gekochten und zerkleinerten Roten Beete, gab ein wenig Rapsöl und Sahne hinzu. Sie schnitt von einem Stück Brot die Rinde ab, so als könne ihr Mann mit der kaputten Hand auch nicht mehr richtig kauen, bestrich es mit Butter, zupfte Petersilienblättchen ab und legte sie auf den Teller. Dann setzte sie sich an den Küchentisch, die Hände vor sich gefaltet, und wartete. Sie beobachtete die Sonne, deren Strahl auf die Dielen des Küchenbodens fiel. Langsam wanderte der Strahl weiter. Und als er fast einen Meter zurückgelegt hatte, kamen die alte Anna und Rachel die Treppe hinunter.

«Ist alles gutgegangen?», fragte Gottwitha.

«Er wird niemals mehr der Alte werden», blaffte die Schwiegermutter, als wäre Gottwitha schuld daran.

«Nun, wir müssen abwarten», mischte sich die alte Anna ein. «Die Hand ist zertrümmert. Kann sein, dass ein paar Finger steif bleiben. Kann sein, muss aber nicht. Wichtig ist jetzt nur, dass er die Hand ruhig hält. Mädchen, du kannst ihm aus einem kleinen Kissen eine Stütze nähen. Das wird ihm guttun.»

Gottwitha nickte. Rachel machte Anstalten, sich die gefüllten Teller zu nehmen, um sie ihrem Sohn in die Schlafkammer zu bringen, aber Anna legte ihr den Arm um die Schultern. «Komm, Rachel. Gottwitha wird schon allein mit allem hier fertig. Und wenn nicht, dann kann sie dich ja zu Hilfe rufen.»

Rachel sah Gottwitha scharf an. Ihre Augen waren schmal, die Lippen zusammengepresst. «Pflege meinen Sohn so gut du kannst», sagte sie, aber es klang eher nach einer Drohung als nach einer Ermutigung.

Gottwitha wartete noch eine Weile, ehe sie zu ihrem Mann in die Schlafkammer ging. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bett, die geschundene, mittlerweile geschiente und verbundene Hand auf dem Bauch. Noch immer war er totenbleich, die Lippen blutleer. Unter den geschlossenen Augen hatten sich dicke, dunkle Ringe ausgebreitet. Er atmete schnell und flach.

«Schläfst du?», fragte sie leise.

Samuel öffnete die Augen. Sein Blick war so voller Schmerz und Leid, dass Gottwitha davon beinahe wieder übel wurde.

«Wie geht es dir?»

«Nicht so gut.»

«Hast du starke Schmerzen?»

Samuel deutete mit der gesunden Hand auf ein Fläschchen, das neben der Bibel auf seinem Nachtkästchen stand. «Anna hat mir etwas dagelassen.»

Jetzt nickte Gottwitha, wusste nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu fragen. Sie hätte sich gern auf die Bettkante gesetzt und seine gesunde Hand gestreichelt, aber das wagte sie nicht.

«Es ist die rechte Hand», erklärte Samuel plötzlich.

«Ja. Es ist die rechte», wiederholte Gottwitha.

«Begreifst du, was das heißt? Dass ich nicht mehr für uns sorgen kann, wenn die Hand kaputt bleibt. Das heißt, dass sich vielleicht alles ändern wird.»

Wieder wollte Gottwitha ihren Mann berühren, ihm das Haar aus der schweißnassen Stirn streichen, ihn im Arm halten, seinen Rücken streicheln, die Schultern, die Brust. Doch sie stand vor seinem Bett und wusste nichts zu tun, als zu schlucken und zu nicken.

«Jetzt hast du einen Krüppel zum Mann», ließ Samuel hören. Und Gottwitha stand noch immer und wusste nichts zu sagen, also nickte sie wieder und seufzte, weil auch Samuel seufzte. «Möchtest du etwas essen?», fragte sie. «Ich habe dir etwas gemacht.»

«Hast du auch gebetet für mich?»

Gottwitha schüttelte ehrlich den Kopf. «Daran habe ich nicht gedacht. Ich war voller Sorge um dich.»

«Für mein leibliches Wohl kann ich notfalls alleine sorgen. Hilfe habe ich von dir auf der geistlichen Seite erwartet. Aber du hast es ja bewiesen. Auf diesem Gebiet bin ich dir nichts wert. So kannst du mir auch mit den leiblichen Dingen fortbleiben.»

Er sprach es, und dann schloss er die Augen. Das Gespräch war beendet.