Vierundzwanzigstes Kapitel

Die kleine Westernstadt lag gerade einmal zwei Meilen hinter ihnen, als Madame Joyce die Pferde zügelte und der Planwagen rumpelnd zum Stehen kam. Susanne versuchte von der Seite, Madame Joyce’ Gesichtsausdruck zu deuten. Sie war zwar heute Morgen nicht dabei gewesen, als Jane, Rose und Amy ihr gesagt hatten, dass sie bei dem Wirt bleiben würden, doch das Gebrüll war durch das ganze Haus zu hören gewesen. «Du Schuft hast mir meine Mädchen abspenstig gemacht. Der Sheriff soll kommen, das ist Diebstahl», und so weiter, eine ganze lange Zeit. Als Susanne sich schließlich in die Schankstube gewagt hatte, hatten sich die vier Hurenmädchen weinend in den Armen gehalten, während Madame Joyce schon draußen auf dem Kutschbock saß und ungeduldig die Peitsche spielen ließ. Dann waren die Mädchen herausgekommen, hatten Madame Joyce umarmt und geküsst, während ihnen allen die Tränen über die Wangen liefen.

Sie waren die ganze Zeit über schweigend gefahren: Madame Joyce und Susanne vorne auf dem Bock, hinten Cherry, die die kleine Tuuli sanft wiegte und dabei hin und wieder herzhaft schluchzte. Jetzt hielt Madame Joyce an, stieg vom Bock und bedeutete den beiden anderen, dasselbe zu tun. Dann griff sie in ihre Rocktasche und brachte eine mittelgroße Flasche kanadischen Whiskey zum Vorschein. Verwundert sahen Susanne und Cherry die Bordellmutter an.

«Wir haben etwas zu feiern», sagte diese schließlich, öffnete die Flasche, trank einen herzhaften Schluck daraus und gab sie an Susanne weiter. Susanne trank ebenfalls, danach Cherry. «Was gibt es denn zu feiern?», wollte Cherry wissen.

Madame Joyce machte ein geheimnisvolles Gesicht, kramte erneut in ihren tiefen Rocktaschen und holte dieses Mal ein gewaltiges Bündel Dollarscheine hervor.

«Haben Sie in der Nacht, als wir getanzt haben, die Bank überfallen?», fragte Susanne und sah sich vorsorglich nach etwaigen Verfolgern um. «So ähnlich. Ich habe die Mädchen zu sehr guten Preisen verkauft. Zweihundert Dollar habe ich für jede von ihnen haben wollen. Und der Wirt, der Dummkopf, der meinen Mädchen nicht im Mindesten gewachsen ist, hat mir das Geld bar auf die Hand gezahlt.» Sie lachte, dann feuchtete sie ihren Zeigefinger an und zählte ein paar Scheine ab. Sie reichte sie Susanne. «Da, nimm. Das ist mein Patengeschenk. Du hast es dir verdient.»

Susanne riss die Augen auf. Sie hatte schon seit Wochen Sorge, wovon sie, wenn sie endlich angekommen wären, eigentlich leben sollte. Als Hure war sie nicht geeignet, das wusste sie. Sie konnte den Männern einfach nicht schöntun. In den Bars und Saloons war sie auch nicht zu gebrauchen. Wovon also sollte sie Tuuli ernähren?

«So … so viel Geld?» Sie stotterte vor Freude. «So viel hatte ich noch nie!»

«Na ja, es ist schon eine Menge, aber reich bist du deshalb noch lange nicht», dämpfte Madame Joyce ihre Begeisterung. «Es sind zweihundert Dollar. Du kannst dir damit einen Laden einrichten, wenn wir angekommen sind.»

Susanne starrte auf die Scheine, die ihr tatsächlich ganz neue Wege eröffnen konnten. Doch ihr Erstaunen wurde noch größer, als Madame Joyce Cherry eine ebenso große Summe auszahlte.

«Wie … was?», stammelte Letztere.

«Nimm das Geld», forderte Madame Joyce Cherry auf und drückte ihr die Finger, die das Bündel hielten, leicht zusammen. «Du wirst es brauchen, meine Liebe.»

«Aber ich dachte, ich kann weiter für Sie arbeiten. Wenn wir angekommen sind. Ich dachte, Sie machen wieder ein Bordell auf und alles wird so wie in New York.»

Madame Joyce schüttelte den Kopf. «Nein, mein Herz, so war es einmal, und so wird es niemals wieder. Ich bin alt, weißt du. Die Reise war beschwerlich für mich. Und ich habe währenddessen viel nachgedacht. Ich bin müde. Ich möchte kein Bordell mehr führen, mich mit den frechen Freiern herumärgern müssen und darauf achten, dass ihr mir nicht schwanger werdet. Ich habe beschlossen, mich zur Ruhe zu setzen. Schön wäre es, in einem Hurenhaus zu wohnen und hin und wieder ein wenig auszuhelfen, aber führen möchte ich keines mehr.»

Susanne fiel die Kinnlade herab. Sie blickte Madame Joyce an, als sähe sie die Frau heute zum ersten Mal. Sie war nicht besonders groß, obgleich sie ihre dünnen, braunen Locken zu einem Turm aufbauschte. Ihre Stirn war hoch, die Augen standen recht eng beieinander, und groß und braun, wie sie waren, erinnerten sie an die einer Kuh. Doch die gerade, schmale Nase und das ein wenig hervorspringende Kinn straften den Ausdruck der Augen Lügen und verrieten die maßlose Energie, die in Madame Joyce wohnte, ebenso die Lippen, die mal rot und üppig wirkten, im Zorn aber schmal wurden.

«Aber … aber … Sie können doch nicht aufhören! Sie haben doch selbst gesagt, dass Ihnen Ihre Mädchen wie Kinder ans Herz gewachsen sind.» Cherry kämpfte mit den Tränen.

«Das stimmt ja auch», verkündete Madame Joyce, trank einen weiteren deftigen Schluck aus der Whiskeyflasche und reichte sie weiter. «Aber drei meiner Mädchen sind nun flügge geworden. Und überhaupt hat sich viel verändert, seit wir auf Reisen gegangen sind. In New York hat mir das Alter noch nicht so zu schaffen gemacht. Nun aber wache ich keinen Tag mehr ohne Schmerzen auf. Mal zieht es im Rücken, mal in den Schultern. An einem Tag schmerzen meine Knie, am nächsten Tag tut mir der Kopf weh.» Ihr Blick fiel auf Tuuli, die in Susannes Armen lag und ihre winzigen Fingerchen vor den Augen hin und her bewegte. «Außerdem bin ich Großmutter geworden.» Sie strich dem Baby sanft über die Wange. «Ich habe noch nie ein Kind aufwachsen sehen», sagte sie leise. «Aber ich bin eine Frau, und meine Sehnsucht danach wird von Jahr zu Jahr größer. Ich kann schon lange keine eigenen Kinder mehr bekommen, aber wenigstens eine Großmutter möchte ich sein.»

Cherry senkte den Blick, und Susanne vermutete, sie tat das, um Madame Joyce’ Tränen nicht sehen zu müssen.

«Und was wird nun aus uns?» Cherry hielt ratlos ihre Geldscheine in der Hand und wirkte, als würde sie sie auf der Stelle fortschmeißen, wenn nur Madame Joyce wieder ganz die Alte werden würde.

«Vielleicht kannst du ein Hurenhaus eröffnen», schlug diese vor. «Dann musst du selbst nicht mehr so viel in der Horizontalen arbeiten, hast dafür andere Pflichten und bist geachtet und geehrt.» Sie machte eine kleine Pause, in der sie die Nase rümpfte. «Na ja, von den meisten jedenfalls.»

«Aber … aber … es stimmt, dass ich nicht immer Lust habe, den Männern zu Willen zu sein. Denken Sie wirklich, ich könnte eine gute Puffmutter abgeben?»

Madame Joyce nickte. «Das wirst du, da bin ich sicher.»

Cherry schluckte. «Dann soll ich es also versuchen? Ich habe manchmal schon daran gedacht, aber es tatsächlich wahrmachen?»

«Aber ja. Du wirst sehen, es ist einfacher, als du denkst.»

Wieder sah Cherry zu Boden. «Ich habe nicht gewagt, mir das wirklich auszumalen. Und auch jetzt fällt es mir schwer. Ich kenne doch nichts anderes als das Leben der Huren. Wie lernt man, eine gute Puffmutter zu sein? Ich weiß doch nur, wie man einen Mann im Bett glücklich machen kann.»

«Dann weißt du schon sehr viel. Alles andere wirst du lernen.» Madame Joyce strich Cherry über die Wange. «Lerne zu träumen, aber versteige dich nicht in die Wolken dabei.»

Sie drückte das Mädchen kurz an sich, dann wandte sie sich an Susanne. «Und du? Was sind deine Träume?»

Susanne hatte das Gespräch zwischen der Hure und der Bordellmutter mit großen Augen verfolgt. Das, was hier geschah, schien ihr ganz und gar außerordentlich. Wann hatte man je gehört, dass eine Hurenmutter ihre Mädchen freigab und ihnen sogar noch Geld bezahlte? Wann hatte man je gehört, dass sich eine Frau wie Madame Joyce danach sehnte, Großmutter zu sein? Aber warum eigentlich nicht? Frauen waren Frauen, ganz gleich, welchem Beruf sie nachgingen.

«Ich weiß es nicht genau. Erst dachte ich, dass ich, wie Sie auch vorschlugen, einen Laden eröffnen könnte, aber auf der Reise habe ich gemerkt, dass die Gemischtwarenläden meist von Chinesen betrieben werden, genau wie die Wäschereien. Vielleicht werde ich eine Bäckerei eröffnen. Ich mag Kuchen. Und ich kann gutes Brot backen. Was meint ihr dazu?» Susanne breitete einen Arm aus, umschrieb damit die halbe Welt. «Wollen wir uns gemeinsam eine Stadt aussuchen? Wollen wir dort bleiben und uns in allem unterstützen?»

Cherry nickte eifrig, und Madame Joyce zog ein Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich damit über die Augen. «Ja», sagte sie, «wir werden so etwas Ähnliches sein wie eine Familie. Eine Mutter mit zwei erwachsenen Töchtern, von denen eine Witwe ist und ein kleines Baby hat, während die andere eine tüchtige Geschäftsfrau ist.»

Bewegt sahen die drei sich an. Plötzlich schien es möglich, das zu bekommen, was keiner von ihnen je vergönnt war und was sie sich doch immer gewünscht hatten: eine eigene Familie.