Fünfundzwanzigstes Kapitel

Annett war stets dabei, wenn Emily und Washington sich im Arbeitszimmer besprachen. Ganz ruhig saß sie da, schrieb alles auf, was sie hörte, schlug später in den Büchern nach, was sie nicht verstanden hatte. Sie kannte mittlerweile etliche Grundbegriffe der Statik, wusste mit dem Begriff «Gebrauchstauglichkeit» etwas anzufangen und hätte die einzelnen Drähte, aus denen sich die Brückenseile zusammenfügten, im Schlaf herunterbeten können. Normalerweise eilte sie zwischen dem Haus der Roeblings und der Baustelle hin und her, überbrachte Zeichnungen, Berechnungen, Informationen und Baupläne. Sie kontrollierte Rechnungen und hatte sogar an einigen Tageskursen im Cooper Institute teilgenommen, war dann aber doch nicht mehr hingegangen, weil ihr die Kurse nichts brachten, waren sie doch eher auf Ehefrauen mit Haushaltsbuch und solche zugeschnitten, die in kleinen Handwerksbetrieben die Bücher führten. Abends traf sie sich oft und immer öfter mit Arthur Munroe, doch als Emily sie einmal fragte, ob sie in ihn verliebt sei, da wusste sie nicht, was sie antworten sollte. «Ich bin gern mit ihm zusammen.» Reichte das? War das Verliebtheit? Ganz sicher nicht. «Er langweilt mich nicht.» Das klang schwach, war es aber nicht, da Annett bisher von den allermeisten Männern, die sie kannte, gelangweilt war. Und dass Arthur da eine Ausnahme bildete, war an sich schon bemerkenswert, aber dass er sie obendrein noch zum Lachen brachte, war mehr, als Annett je von einem Mann erwartet hatte. Er berichtete von den Leuten bei der New York Times, erzählte von denen, die er durch seine Arbeit traf, und dies alles auf eine Weise, die Annett amüsierte. Gingen sie nicht gemeinsam essen, so lud er sie ins Theater und in die Oper ein, und Annett fragte sich, woher er wohl das Geld für diese Unternehmungen hatte. An diesen Abenden langweilte sich Annett allerdings doch, wenngleich sie das niemals und niemandem eingestanden hätte, denn ein Opern- und Theaterliebhaber zu sein, das gehörte in New York und in den Roebling’schen Kreisen zum guten Ton. Annett aber verstand nicht, warum die Leute in der Oper ganze Sätze singen mussten, wenn sie doch auch gesprochen werden konnten. Sie ahnte zwar, dass es Emily ähnlich ging, denn sie hatte sie schon mehrmals dabei ertappt, wie sie nervös mit dem Fächer auf ihr Handgelenk schlug und mitten in der Aufführung die Lichter über der Bühne zählte, aber auch Emily sprach über solche Abende nur als gelungen. Und wenn Annett mit Arthur ausging, so lobte sie natürlich alles, was er vorschlug. War sie aber ehrlich, war sie ganz und gar ehrlich, so wusste sie nicht genau, warum sie mit Arthur nicht einfach zu Hause bleiben und sich mathematischen Knobeleien widmen konnte. Sie hätte auch viel lieber mit ihm Schach gespielt, als sich La Traviata anzuhören, aber aus einem Grund, den sie nicht verstand, weil sie ihn nicht verstehen wollte, ging das nicht. Und also verbrachte sie die Abende mit Arthur so wie heute.

Sie kamen aus der Metropolitan Opera. Arthur führte Annett am Arm, sorgsam darauf bedacht, dass sie nicht stolperte und nicht an andere Opernbesucher stieß. Er rief nach einer Droschke, und nach einer ganzen Weile, die Annett allerdings sehr kurz erschien, standen sie vor dem Haus der Roeblings. «Wollen wir noch irgendwo einen Drink nehmen?», fragte Arthur und strich Annett eine lose Strähne aus dem Gesicht. Seine Augen glitzerten, und seine Hand drückte die ihre. Annett erkannte das Begehren, sah die Sehnsucht in seinem Blick; sie mochte Arthur – doch noch teilte sie weder das eine noch das andere.

«Ich bin müde», erwiderte sie leise. «Es war ein langer Tag. Außerdem möchte ich noch ein paar Berechnungen kontrollieren.»

Arthur lachte auf. «Berechnungen kontrollieren, pah!»

Annett runzelte die Stirn. «Was ist daran so komisch?»

«Das ahnst du nicht?»

Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn mit großen Augen an.

«Ein junger Mann führt sein Mädchen am Abend aus, und sie wünscht sich nichts mehr, als Berechnungen zu kontrollieren?»

Noch immer verstand Annett nicht, was daran so schlimm war. «Natürlich würde es mehr Spaß machen, wenn wir gemeinsam an einem Problem knobeln könnten, aber das wäre doch zu unschicklich.»

Jetzt sah Arthur sie verblüfft an. «Du meinst das so, nicht wahr?»

Annett lachte. «Aber natürlich, mein Lieber.» Sie entzog ihm ihre Hand. «So, und jetzt muss ich hinein.» Sie wandte sich ab und wollte gehen, doch Arthur hielt sie zurück.

Annett hatte noch immer keine Ahnung, worauf Arthur hinauswollte, aber sie hielt seinem Blick stand, als er ihr eine gefühlte Ewigkeit in die Augen sah und sie schließlich fest an sich zog. Er packte sie im Genick, bog ihren Kopf ein wenig nach hinten, und dann küsste er sie, wie ein Mann eine Frau küssen sollte. Annett war vollkommen überrascht. Sie rang nach Luft, wusste nicht, wohin, wusste kaum, was in ihrem Mund geschah. Sie bekam keine Luft, und als Arthur sie endlich ließ, da keuchte sie ein wenig. Sie wartete auf eine Entschuldigung, doch die kam nicht. Stattdessen sagte Arthur: «So küsst ein Mann ein Mädchen, in das er verliebt ist.»

Und Annett dachte: Du lieber Himmel, und lächelte Arthur wieder an. Sie war vollkommen durcheinander, ging zur Haustür, hielt noch einmal an, winkte ihm und sagte, im Glauben, dass man das so machte: «Danke, lieber Arthur, für den schönen Abend.»

Später lag sie im Bett, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und dachte an den Kuss. Der erste Kuss ihres Lebens. Die Vögel hatten nicht aufgehört zu zwitschern, die himmlischen Heerscharen hatten kein Hosianna angestimmt, und trotzdem hatte Annett dieser Kuss gefallen. Und sie hatte sich Arthur so nahe gefühlt wie vordem noch keinem anderen Mann. Bin ich verliebt?, fragte sie sich, und mit einem Mal fühlte sie die Schmetterlinge, die in ihrem Bauch flatterten. Ja, ich bin verliebt. Zumindest ein wenig.