Sechsundzwanzigstes Kapitel

Zunächst dachte Gottwitha, Rachel hielte sich zurück, käme aus Feingefühl nicht nachsehen, ob Gottwitha alles richtig machte und ihrem Sohn auch ja die Pflege angedeihen ließ, die sie selbst ihm angedeihen lassen würde, wohnte er noch in ihrem Haus. Gottwitha war dankbar dafür, kochte jeden Tag, was immer Samuel verlangte. Hatte sie wirklich gedacht, auf diese Art ihrem Mann näherzukommen? Ja, das hatte sie. Sie nahm sich einen Stuhl, setzte sich neben Samuels Bett. Der schloss die Augen, kaum, dass der letzte Bissen gegessen war. Und Gottwitha saß dabei und sah ihm in das zugesperrte Gesicht, hörte ihn atmen, leise seufzen, hätte ihn berühren mögen, doch er schien so fern von ihr, ferner als der Mond. Einmal nur, als Gottwitha für einen Moment die Augen geschlossen hatte, um auszuruhen, da sah er ihr ins Gesicht. Sie spürte es, riss die Augen auf, sah in letzter Sekunde noch seinen Blick. Verächtlich. Verärgert. Betrogen.

«Hasst du mich?», fragte sie ihn.

«Natürlich nicht. In der Schrift steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.»

«Dann musst du dich auch hassen.»

Er schloss die Augen und schwieg. Und Gottwitha erhob sich, trug das benutzte Geschirr hinunter in die Küche und hatte gerade mit dem Spülen begonnen, als ihre Schwiegermutter anklopfte. «Wie geht es ihm?», fragte diese ohne weitere Begrüßung.

«Er schläft die meiste Zeit.»

«Hat er Schmerzen?»

Gottwitha zuckte mit den Schultern. «Er spricht nicht mit mir.»

Die Alte lächelte zufrieden. «Kein Wunder. Du hast ihn verhext, hast ihm die Krankheit geschickt. Du bist nicht fromm, bist nicht wie wir hier. Ich gehe hoch zu ihm, alleine.»

Gottwitha nickte, dachte: Bleib du doch einfach. Bleib hier, nimm meine Stelle ein, das würdest du ohnehin am liebsten tun. Lass mich in deinem Haus wohnen, so habe ich wenigstens Ruhe.

Nach einer Weile kam die Alte hinunter. «Du solltest ihn einmal waschen.» Ihr Gesicht war vor Empörung ganz klein. «Seit zwei Tagen liegt er in denselben Sachen. Willst du, dass er noch elender wird? Muss ich auf alles achten? Kann ich nicht einmal zwei Tage fortbleiben, ohne dass du meinem Sohn Schaden zufügst?»

«Ich schade ihm nicht. Er hat einen Mund. Er kann reden, Wünsche äußern. Aber er tut es nicht. Was also soll ich tun?»

Rachel funkelte sie an. Von oben bis unten und ohne ein Wort zu sprechen. Ihr Blick war so voller Hass, dass Gottwitha fror. Doch plötzlich überkam sie Mut. Es war der Mut der Verzweiflung, der Mut derjenigen, die nichts mehr zu verlieren haben.

«Er war schon einmal verheiratet. Was ist mit seiner Frau geschehen? Hast du sie ebenso behandelt wie mich? Ist sie ihm deshalb fortgelaufen?» Sie schrie, und sie merkte es nicht einmal. Sie brüllte jedes Wort in Rachels faltiges, böses Gesicht, sah mit Genugtuung, wie diese bei jedem Wort zusammenzuckte, konnte einfach nicht aufhören. «Warst du es gar, die sie fortgetrieben hat? Dachtest du, danach könntest du deinen Sohn für dich behalten?» Dann hielt sie inne, senkte die Stimme. «Deshalb verjagst du die Frauen. Sie sind dir im Wege, stehen zwischen dir und dem Herzen deines Sohnes. Du willst gar nicht, dass er an der Seite einer anderen Frau glücklich wird.» Und dann ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen, legte den Kopf auf die Arme und schluchzte, so schmerzlich, dass es selbst einen Stein erweicht hätte. Einen Stein. Nicht aber Samuels Mutter. «Sie war genau wie du», keifte Rachel und rüttelte an Gottwithas Schultern. «Genau wie du war sie. Hatte nur ihr Vergnügen und ihre Lust im Kopf. Samuel hat sie gemaßregelt, aber er war zu gutmütig. Einmal habe ich gesehen, wie sie durch die Küche getanzt ist und dabei ein Lied geträllert hat. Mit eigenen Augen habe ich es gesehen. Da wusste ich, dass das der Anfang vom Ende ist. Ja, der Anfang vom Ende. Und alles, was dann geschah, hat so kommen müssen. Das war nicht meine Schuld. Im Leben nicht. Das war ihre Schuld, die Schuld der Dirne. Und du, du bist keinen Deut besser.»

Gottwitha weinte unter diesen Worten noch mehr. Ihre Schultern bebten, die Tränen flossen, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr aufhören zu können. Niemals mehr aufhören zu können. Oh, wie war sie betrogen worden! Die Liebe würde in Amerika auf sie warten, hatte die Mutter ihr erzählt. Reich wären die Amischen in der Neuen Welt. Und freundlich. Freundlich, weil sie alles hatten, was sie brauchten. Und wie sah es in Wirklichkeit aus? Ja, sie hatten, was sie brauchten. In jedem Haushalt gab es exakt einen Becher und einen Teller mehr, als es Bewohner gab. Die Tiere standen gut im Futter, die Pferde hatten glänzendes Fell, auf den Feldern wuchs der Mais zu Manneshöhe. Die Kürbisse waren größer als alle, die Gottwitha je in Deutschland gesehen hatte, und jeden Sonntag war genug Weißmehl da, um einen einfachen Kuchen zu backen. Aber obgleich all das vorhanden war, fühlte sie sich arm. So arm und verlassen wie das letzte Waisenkind. So überflüssig wie ein zusätzliches Rad am Wagen. So ungeliebt und verachtet wie der Teufel.

«Bin ich denn ein Teufel?», fragte sie noch halb in Gedanken und wagte es, den tränennassen Blick zu heben.

«Bist du es nicht?» Die Worte der Schwiegermutter klangen hart. «Versuchst du nicht, meinen Sohn von Gott wegzulocken?»

«Wie denn?»

«Du streichelst ihn, du zärtelst ihn, als wäre er ein Kind. Du weichst ihm die Knochen auf, bis er kein Mann mehr ist. Du willst ihn nachgiebig haben wie ein Weib. Wäre er nicht so stark, dann hättest du ihn schon verdorben.»

Gottwitha war entsetzt. Nicht von den Worten Rachels, sondern von der Tatsache, dass diese wusste, was bei ihnen in der Schlafkammer vor sich gegangen war. «Er hat es dir nicht erzählt.» Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das glaube ich nicht. Das hat er nicht getan.»

«Ach?» Rachel stemmte triumphierend die Arme in die Seiten. «Und woher weiß ich es dann?»

In Gottwitha stieg der Zorn wie eine lodernde Flamme auf. «Was weiß ich? Hast du dir eine Leiter geholt und von dort in unsere Schlafkammer gelugt? Hast du von innen an der Tür gelauscht?»

«Pah! Als ob ich das nötig hätte. Jeder konnte sehen, wie du ihn aufgeweicht hattest. Mit glänzenden Augen ist er umhergelaufen, hat gelächelt beim Gebet, weil er nicht an Gott gedacht hat dabei, sondern schon an die nächste Nacht. Alle haben es gemerkt, alle. Und da habe ich den Bischof gerufen, damit er ihm ins Gewissen redet. Dem Herrn sei Dank, es war noch nicht zu spät.»

«Was hast du gemacht?» Gottwithas Kopf war leer, ihre Augen brannten, der Mund war trocken wie Stroh.

«Kalte Waschungen, das hat der Bischof ihm angeraten. Wann immer er an dich denkt, soll er sich kalt waschen. Und beten, immer, immer beten. Nun, das hat wohl nicht geholfen, Gott hat ihn gestraft, hat ihm die Hand zertrümmert. Die rechte Hand! Als Zeichen und Strafe!»

«Als Zeichen wofür?»

«War das nicht die Hand, mit der er dich gestreichelt hat? Nun, er wird es nicht mehr können.» Rachel lachte und warf dabei den Kopf in den Nacken. Ihr Gesicht glänzte vor Selbstgerechtigkeit. Und Gottwitha begriff. «Du bist froh über Samuels Verletzung, selbst, wenn sie ihn zum Krüppel macht. Du hasst mich als seine Frau so sehr, dass du sogar die Gesundheit deines Sohnes drangibst, damit er mich nicht mehr lieben kann. Oh, wie zerfressen von Neid und Eifersucht du doch bist!»

«Du kannst mir nichts vorwerfen. Ich habe immer gottgefällig gelebt. Alles, was passiert ist, ist deine Schuld.»

Plötzlich fühlte sich Gottwitha so müde und erschöpft, dass sie kaum den Kopf auf den Schultern halten konnte.

«Geh!», befahl sie. «Verlass mein Haus. Auf der Stelle.»

Rachel lachte scheppernd. «Schick mich nur weg, aber deine Schuld kannst du dadurch nicht verringern.» Und dann ging sie, und Gottwitha war allein.

Sie legte den Kopf erneut auf die Tischplatte. Sie wollte weinen, aber alles in ihr war ausgedörrt. Im Raum hing noch Rachels Geruch, wovon ihr mit einem Male schlecht wurde. Sie bekam kaum noch Luft, riss an ihrem Kragen, ohne sich besser zu fühlen. Da öffnete sie die Tür und verließ das Haus. Sie ging die Straße entlang, hörte Rebecca nach ihr rufen, doch sie drehte sich nicht um. Ohne nachzudenken, ging sie einfach weiter und immer weiter, setzte einen Schritt vor den anderen, unfähig, etwas anderes zu tun. Es war Mittag. Auf den Feldern ringsum wurde gearbeitet. Sie sah, dass Noah sein Gespann anhielt und ihr etwas zurief, aber sie reagierte nicht darauf. Ein Buggy kam ihr entgegen, darauf saßen Sarah und ihre Mutter. «Willst du mit uns fahren?», riefen sie ihr zu, doch Gottwitha schüttelte nur stumm den Kopf, lief weiter und immer weiter. Die Sonne brannte ihr in den Nacken, sie bekam Durst, und dennoch konnte sie nicht aufhören, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Sie ging und ging und ging, sah sich nicht um, dachte nichts, fühlte nichts als den Drang, weiterzugehen, weiter und immer weiter.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war, als sie endlich das englische Dorf erreichte, das dem amischen Dorf am nächsten lag. Vor einem kleinen Laden stand eine Bank, und Gottwitha ließ sich erschöpft darauf nieder. Sie wusste kaum, wie sie dorthin gekommen war, und sie wusste auch nicht, wohin sie nun gehen wollte. Zurück? Vorwärts? Nein, sie konnte nicht denken, nicht jetzt.

Eine junge Frau mit lachendem Gesicht steckte den Kopf zur Tür heraus. «Oh, sind Sie etwa vom amischen Dorf bis hierher gelaufen?», fragte sie.

Gottwitha nickte, blickte auf ihre Schuhe, die voller Staub waren.

«Sie müssen durstig sein.»

Wieder nickte Gottwitha, zu kraftlos für ein Wort, zu uninteressiert auch.

Die junge Frau brachte ihr ein Glas mit kühlem Wasser, in dem ein Minzeblättchen schwamm, und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder. Dankbar trank Gottwitha.

«Ich kenne Sie nicht, habe Sie noch nie gesehen. Sind Sie die neue Frau vom amischen Samuel?», fragte sie.

«Woher kennen Sie die Amischen?» Gottwitha wunderte sich. Es war eine Sünde, mit den Englischen zu reden.

«Ich kenne sie, weil sie bei mir einkaufen. Sie reden nicht mit mir, aber sie reden untereinander. Meine Eltern kommen aus Deutschland. Ich spreche Deutsch und verstehe also einiges, was sie reden.»

Gottwitha nickte. «Sie haben also über mich geredet.»

Die junge Frau antwortete nicht. «Sind Sie hungrig?», fragte sie stattdessen. «Ich habe Hefezöpfe gebacken.»

Gottwitha hob die Schultern. Sie spürte erst jetzt, wie hungrig sie war, hörte erst jetzt ihren Magen knurren. «Ich habe kein Geld. Und mein Mann wird nicht kommen, um für mich zu zahlen.»

«Ich weiß, er hat sich schwer verletzt. Aber ich will sowieso kein Geld von Ihnen. Warten Sie, ich komme gleich zurück.» Sie ging, brachte wenig später den Hefezopf und ein frischgefülltes Wasserglas.

Dankbar nahm Gottwitha die Sachen, biss herzhaft in den Hefezopf, leerte auch das zweite Glas Wasser. Die junge Frau sah ihr dabei zu. Erst als Gottwitha fertig war, fragte sie: «Sie sind ohne Begleitung und nicht mit dem Buggy?»

Gottwitha holte tief Luft und seufzte. «Ich habe es nicht mehr ausgehalten zu Hause. Ich bin einfach losgelaufen. Weiter und immer weiter. Bis hierher.»

«Das sind gut fünf Meilen.»

«Ja.»

«Und wie wollen Sie wieder zurückkommen?»

Gottwitha blickte auf ihre Schuhspitzen. «Ich weiß nicht, ob ich überhaupt zurückwill.»

Da wurde das Gesicht der jungen Frau ernst, ja besorgt. «Samuel ist schon einmal eine Frau verlorengegangen», sagte sie.

«Ich weiß», entgegnete Gottwitha. «Aber ich habe keine Ahnung, warum.»

Die junge Frau wich Gottwithas Blick aus.

«Sie wissen davon, oder?» Gottwitha sah die Frau forschend an.

Diese machte eine vage Handbewegung. «Eigentlich weiß ich nichts. Nur eben das, worüber die anderen so geredet haben. Die Frau ist nicht mehr hier. Sie ist nach Philadelphia gegangen. Und wo wollen Sie hin, wenn Sie nicht zurückwollen?»

Gottwitha biss sich auf die Lippen. Sie war so überstürzt davongelaufen, und sie hatte sich bis jetzt keine Gedanken gemacht. Nur eines wurde ihr nach und nach klar: Sie wollte tatsächlich nicht mehr zurück. Sollten die Amischen sie unter den Bann stellen, sollte kein Amischer mehr mit ihr an einem Tisch sitzen und das Brot teilen dürfen, sollte niemand mehr mit ihr sprechen, solange sie lebte. Das war ihr egal. Sie wollte dieses beengte Leben nicht mehr. Sie wollte ein richtiges Leben, wollte lieben und lachen. War das zu viel verlangt?

Schließlich antwortete sie, und es klang ein wenig fragend: «Vielleicht gehe ich auch nach Philadelphia.»

«Heute noch? Es wird bald Abend. Sehen Sie, die Sonne färbt sich schon rot.»

«Nein, heute wohl nicht mehr.»

«Nun, wenn Sie bis morgen warten können, dann kann ich Sie mitnehmen. Meine Mutter und ich, wir werden morgen in die Stadt fahren.» Die junge Frau stand auf. «Und jetzt kommen Sie mit hinein. Ich werde Ihnen ein Bett richten. Irgendwo müssen Sie ja schlafen.»