Siebenundzwanzigstes Kapitel

Sie waren da! Sie hatten es endlich geschafft. Susanne konnte ihr Glück kaum fassen. Nicht mehr das Gerumpel des Planwagens ertragen, nicht mehr unter der unbarmherzigen Sonne schwitzen, nicht mehr die unfassbar starken Regengüsse aushalten, nicht dem Wind trotzen müssen, keine Angst mehr haben vor wilden Tieren oder Indianern. Sie waren da! Sie hatten ihr Ziel erreicht.

Susanne saß auf der obersten Verandastufe, die zu dem kleinen und einzigen Saloon des Städtchens Oak’s Hill in Montana führte, das Baby auf ihrem Schoß, und ließ den Blick über die Straße schweifen. Gestern waren sie angekommen. Und obwohl sie nie so richtig darüber gesprochen hatten, wo sie wohl bleiben wollten, war es ihnen klar gewesen, als sie Oak’s Hill durchfahren hatten. Am Ortsanfang befand sich ein kleines Waldstück, heimelig wie ein Park in New York. Daneben lagen eine kleine lutherische Kirche und der Friedhof. An die Friedhofsmauer schloss sich eine chinesische Wäscherei an, dann folgten die Sheriffstation mit den Arrestzellen im Hinterhof, ein Gemischtwarenladen, eine Eisenwarenhandlung, ein Metzger und eine Schreinerei. Ihnen gegenüber lagen der Saloon, ein Wettbüro, mehrere Wohnhäuser, zwei davon frisch gekalkt, und dann zogen sich endlose Weiden dahin, auf denen kräftige Kühe grasten. Am Horizont waren einige Farmgebäude zu sehen, und auf der ungepflasterten Straße kam gerade ein Fuhrwerk vorbei, das mit Milchkannen beladen war. Ein gelber Hund döste träge am Straßenrand, und in der Nähe ertönten Hammerschläge. Dort, so hatte man ihnen gestern erzählt, würden ein paar neue Häuser gebaut werden. Eines hatte sich ein versoffener Arzt aus Chicago bauen lassen, ein anderes gehörte dem nicht minder versoffenen Advokaten.

«Na, ist das nicht ein wunderschöner Tag?» Susanne hatte nicht bemerkt, dass Madame Joyce aus dem Gebäude, das sich großspurig Hotel nannte, zu ihr auf die Veranda getreten war.

«Ja, das ist es.»

Madame Joyce setzte sich undamenhaft neben sie auf die Stufen und streichelte die winzigen Händchen der kleinen Tuuli.

«Bist du sicher, dass wir hier in Oak’s Hill bleiben wollen?»

Susanne nickte und lächelte. «Ich war gestern schon sicher. Eigentlich sogar bereits, als das Städtchen am Horizont auftauchte.»

«Ich weiß. Aber bist du dir sicher, weil du des Reisens so müde bist, oder bist du dir sicher, weil es der Ort ist, an dem du die nächsten Jahre leben möchtest?»

Susanne blickte sich noch einmal um. Das Wetter war strahlend schön. Über den blauen Himmel zogen ein paar flauschige Schäfchenwolken, der Wind war nur ein sanftes Streicheln, und am Horizont waren ein paar bewaldete Hügel zu erkennen. Die Stadt selbst war einigermaßen gepflegt, die meisten Häuser bewohnt.

«Es gefällt mir hier, und ich kann mir vorstellen, die nächsten Jahre hier zu verbringen.»

Ein Cowboy ritt gemächlich die Straße entlang. «Ladys!» Er tippte an seinen Hut. Susanne blickte ihm nach.

«Und weißt du auch schon, was du tun möchtest?»

Susanne schüttelte den Kopf. «In meinem Leben hat sich in den letzten Monaten so viel verändert, dass ich erst alles ordnen muss. Vor sechs Monaten noch war ich eine geprügelte Ehefrau, die dachte, das Leben bestünde nur aus Schlägen und Demütigungen. Jetzt habe ich einen halben Kontinent durchquert, bin Witwe und habe ein Kind. Ich bin älter geworden, habe viel gelernt. Vor allem aber habe ich eines begriffen: Die Freiheit ist das wichtigste Gut von allen.»

«Du hast recht.»

«Aber der Gedanke an eine kleine Bäckerei lässt mich nicht los.»

Nach diesen Worten schwiegen die beiden Frauen eine Weile, saßen einfach nur einträchtig nebeneinander auf den Stufen und bestaunten das, was ihre neue Heimat werden sollte. Irgendwann sprach Madame Joyce: «Cherry ist inzwischen wild entschlossen. Sie wird hier tatsächlich ein Bordell eröffnen.»

«Und wo?»

Madame Joyce zuckte mit den Achseln. «Dort drüben stehen zwei Häuser leer. Die Besitzer sind weggezogen, nachdem der große Goldrausch vorüber war.»

Madame Joyce erhob sich, seufzte.

«Geht es Ihnen auch wirklich gut?», fragte Susanne.

«Ich weiß es nicht, mein Mädchen. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben habe ich nur die Verantwortung für mich selbst. Ich kann machen, wozu ich Lust habe.» Sie lachte auf. «Aber mit einem Schlag habe ich vergessen, wozu ich Lust habe. Es ist komisch. Der Mensch ist komisch.»

Susanne sah ihr nach, wie sie ins Hotel zurückschlurfte. Dann stand auch sie auf, nahm Tuuli auf den Arm und schlenderte die Straße entlang. Sie grüßte den Barbier, der müßig vor seinem Laden stand. «Na, junge Frau, neu in der Stadt?»

Susanne lächelte ihn an. «Ja, das bin ich.»

«Wo wollen Sie denn hin?»

«Ich weiß es noch nicht. Kann gut sein, dass ich hierbleibe.»

Der Barbier lachte. «Das würde wohl die meisten hier sehr freuen. Wir haben einen bedauerlichen Überschuss an Männern in Oak’s Hill.»

Der Barbier setzte sich auf die Bank, die vor seinem Laden stand, und machte Susanne ein Zeichen, dass sie sich neben ihn setzen sollte.

Sie tat es, drückte Tuuli an sich, streichelte der Kleinen den Rücken. Tuuli hatte die Augen fest geschlossen, ihr Kopf lag an Susannes Brust, und der winzige Mund schmatzte ein wenig.

«Wieso gibt es hier mehr Männer als Frauen?», wollte Susanne wissen. «Kinder habe ich auch noch gar nicht gesehen.»

Der Barbier verschränkte die Arme vor der Brust. Starke Arme mit Handgelenken so breit wie Susannes Knie. «Vor ein paar Jahren hieß es, dass es hier Gold gäbe. Ein paar Männer kamen, schürften ein wenig am Fluss, andere gruben Löcher in den Boden und suchten dort. Aber das, was sie fanden, reichte ihnen nicht.» Er lachte. «Und so sind sie weitergezogen, und unser Städtchen blieb, wie es immer war. Letzten Monat aber kamen zwei Ingenieure mit einem Bautrupp. Sie gruben an anderen Stellen, nahmen Proben und fuhren wieder fort. Wenn Sie ein Haus suchen, so beeilen Sie sich.»

«Sie meinen, die Ingenieure haben Gold gefunden?»

Der Barbier lachte. «Das meine ich nicht, das weiß ich.»

Susanne glaubte ihm und nickte. Dann deutete sie auf die beiden leerstehenden Häuser. «Was ist mit denen?», fragte sie.

«Das eine Haus gehörte einer Familie sehr religiöser Iren. Katholiken waren sie wohl. Da es aber hier keine katholische Kirche gab und auch keine in Planung war – trotz aller Anstrengungen der Iren –», der Barbier kicherte, «zogen sie schließlich weg. Das andere Haus gehörte den Seymours. Sie haben schon immer hier in Oak’s Hill gelebt. Tja, aber irgendwann ist auch die letzte der Seymours, die alte Shirley, gestorben.»

Susanne betrachtete das Haus der Seymours. Es hatte zwei Stockwerke und unten – wie fast alle anderen Häuser in Oak’s Hill auch – eine Veranda, zu der drei Stufen hinaufführten. Die Farbe des Hauses war abgeblättert, die Fenster mit Brettern vernagelt, aber das Dach schien dicht zu sein. «Wem gehört das Haus jetzt?», fragte Susanne.

«Nach Shirleys Tod ist es an die Stadt gefallen. Der Sheriff wird mehr darüber wissen. Auch über das Haus der Iren.»

Susanne erhob sich. «Ich danke Ihnen», sagte sie. «Sie haben mir sehr geholfen.»

«War mir ein Vergnügen», antwortete der Barbier und tippte sich an einen nicht vorhandenen Hut.

So schnell es ging eilte Susanne zurück in die Herberge und bat Madame Joyce und Cherry in den Garten, der hinter dem Hotel lag. Dort sah sie sich nach allen Seiten um, legte sogar einen Finger auf den Mund, bevor sie den anderen erzählte, was sie von dem Barbier erfahren hatte. «Und du meinst, wir sollten uns die Häuser schnappen, ehe bekannt wird, dass es hier in der Nähe der Stadt Gold gibt?», fragte Madame Joyce.

Susanne nickte, aber Cherry verzog misstrauisch den Mund. «Und was ist, wenn der Barbier sich täuscht? Dann bleibt dieses Städtchen auf ewig ein verschlafenes Nest, das sehr gut ohne Bordell auskommt.»

«Ich habe mich erkundigt», warf Madame Joyce ein. «Oak’s Hill selbst hat gerade mal zweihundert Einwohner, aber in der Gegend gibt es ein paar Farmen. In Billings, der nächsten großen Stadt, wird derzeit ein Schlachthof gebaut, und außerdem ist eine Eisenbahnlinie in Planung. Oak’s Hill wird sich bald mit Leben füllen, da bin ich sicher.»

Cherry blickte immer noch ein wenig misstrauisch drein.

«Was ist mit dir?», erkundigte sich Susanne.

«Ich habe zweihundert Dollar. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich so viel Geld. Ich will es richtig machen, verstehst du? Ich will, dass mein Leben perfekt wird.»

Madame Joyce legte ihr einen Arm um die Schulter. «Es wird perfekt werden, und zugleich wird es niemals perfekt sein, meine Kleine. Aber ich vertraue dir. Ganz gleich, was du tust, ganz gleich, wo du es tust, es wird das Richtige sein.»

«Wir werden also zum Sheriff gehen?», fragte Susanne.

Madame Joyce nickte, doch Cherry schüttelte den Kopf. «Ich bin noch nicht so weit, ich muss erst noch eine Nacht darüber nachdenken.»

Und damit ging sie, und Susanne sah sie später durch den Ort laufen, sah sie aus der Kirche kommen, mit dem Barbier sprechen, sah sie sogar vor dem leerstehenden Haus, und sie wusste, dass Cherry wahrhaftig kein Risiko eingehen würde. Und das verlieh ihr Sicherheit. Denn wenn Cherry sich entschloss, hierzubleiben, dann konnte auch sie guten Gewissens hierbleiben. Aber was sollte sie tun? Sie hatte ebenfalls zweihundert Dollar von Madame Joyce bekommen, und diese Summe reichte aus, um in Oak’s Hill ein neues Leben zu beginnen. Aber – Herr im Himmel – sollte sie wirklich eine Bäckerei eröffnen?

Sie dachte zurück an ihre Kindheit, dachte daran, wie geschickt sie bei der Jagd gewesen war. Sie hatte Hasen, Rehe und Wildschweine geschossen und enthäutet, sie hatte die Tiere ausgenommen und gebraten, aber gern, nein, gern hatte sie das nie getan. Sie hatte sich um den Haushalt gekümmert, hatte gebuttert und Quark gemacht, aber auch diese Tätigkeiten hatte sie nicht geliebt. Nur eines hatte sie immer gern getan, weil sie den Geruch so liebte, weil dieser Geruch für sie so etwas wie eine Familie war: Brot backen. Und plötzlich war sie sich ihrer Zukunft so sicher, dass sie sich hinsetzte und erneut einen Brief an Annett schrieb. Sie schrieb vom Städtchen Oak’s Hill, von ihren Plänen, eine Bäckerei zu eröffnen, und sie berichtete von Tuuli.

Als ich in der Zeitung von dir gelesen habe, liebe Annett, war ich so stolz darauf, deine Freundin zu sein. Wie es wohl sein muss, an einem so bedeutenden Bauwerk beteiligt zu sein? Und nun, zum ersten Mal in meinem Leben, sind auch meine eigenen Träume in greifbare Nähe gerückt. Endlich kann ich tun, was ich will, kann backen und meine Tuuli versorgen. Vielleicht habe ich hier endlich ein Zuhause gefunden. Schreib mir, wie es dir ergangen ist. Jetzt, wo ich eine eigene Adresse habe.

Und dann fügte sie die Adresse hinzu, versiegelte den Brief und brachte ihn auf der Stelle zu dem chinesischen Laden, der gleichzeitig als Poststation diente.