Achtundzwanzigstes Kapitel

Die Seile, das Kabelspinnen. Im Roebling’schen Haus gab es kein anderes Thema mehr. Beim Frühstück wurde darüber gesprochen, beim Mittagessen und selbstverständlich auch beim Dinner. Selbst die Dienstboten sprachen über die Brücke. Niemand auf der ganzen Welt hatte je eine Brücke nach diesem Prinzip gebaut. Nicht einmal Washington selbst. Seine Unruhe übertrug sich auf Annett, die beinahe jede freie Minute auf der Baustelle verbrachte und beim Kabelspinnen zusah.

Frank Farrington, erster Maschinenmeister und verantwortlich für das Kabelspinnen, war gestern Abend noch in das Haus auf die Brooklyn Heights gekommen.

«Wir sind so weit, Sir. Morgen werden die Kabel abgewickelt.»

«Frank, du sollst mich nicht ‹Sir› nennen. Wir haben schon so viel miteinander erlebt, es wird Zeit, dass du mich ‹Washington› oder ‹Wash› nennst.»

Farrington kratzte sich am Kopf, lächelte vage. «Das stimmt schon. Wir haben gemeinsam mit euerm Vater John die Niagara Bridge gebaut und auch die in Cincinnati. Nach demselben Prinzip. Eigentlich müsste auch hier alles glattgehen.»

«Das wird es, Frank, da habe ich keine Sorge.»

Wieder kratzte sich Frank Farrington am Kopf. «Ist schon ein gewaltiger Unterschied. Die Niagara und die Brooklyn Bridge, meine ich. Die Niagara Bridge war nicht einmal halb so groß.»

«Gibt es Probleme?»

Der Maschinenmeister schüttelte den Kopf. «Im Grunde nicht. Die Fähre ist bestellt, die Kabel seit langem schon auf die Trommel gewickelt.»

«Wovor hast du dann Angst, Frank?», hakte Washington nach.

Jetzt nahm der Maschinenmeister endlich Platz, ließ sich einen Whiskey einschenken, und Washington sah, dass dessen Hand leicht zitterte.

Farrington nahm einen Schluck, ließ den Whiskey über die Zunge rollen und drehte dabei das Glas in der Hand hin und her. «Es ist nicht direkt Angst, Sir. Ich würde es eher Lampenfieber nennen. Die Brückengesellschaft wird zerbrechen, wenn das Kabelspinnen morgen in die Hose geht. Wir brauchen weitere zwei Millionen Dollar für den Bau, und ich habe Angst, dass wir das Geld nicht bekommen, wenn morgen nicht alles wie am Schnürchen läuft.»

Washington nickte. «Das Geld, immer das Geld. Aber ohne Geld ist eben auch kein Fortschritt möglich.»

«Ja», bestätigte Farrington. «Die Moderne kostet Geld. Zuallererst kostet sie Geld.»

Und dann schwiegen beide Männer, blickten nachdenklich in ihre gefüllten Whiskeygläser, bis sich Farrington schließlich erhob. «Bis morgen, Sir», sagte er. «Gott stehe uns bei.»

«Bis morgen, Maschinenmeister.»

 

Und dann kam der 14. August 1876. Ein strahlender Tag. Der Himmel hing wie ein blaues Marientuch über dem East River. Auf dem Fluss selbst, der in vornehmes Dunkelgrün getaucht war, drängten sich Schiffe, Dampfer, Schaluppen, Barkassen, Schleppkähne und Boote. Jeder, der Zeit hatte, wollte dem großen Ereignis beiwohnen. Die New York Times hatte sich eigens für diesen Anlass eine ganze Fähre gemietet und zwei der besten Fotografen der Stadt verpflichtet. Washington saß in seinem Rollstuhl am Fenster seines Hauses, den Feldstecher griffbereit, und hinter ihm stand seine Frau, hatte die Hände auf seine Schultern gelegt und dachte wohl daran, wie schön es doch wäre, könnte Washington hinaus auf die Baustelle und dort die Glückwünsche aller entgegennehmen. Aber Washington war nun einmal gelähmt. Wenn er öffentlich auftrat, so bestand die Gefahr, dass ihm einige die Bauleitung nicht mehr zutrauten. Und das war etwas, was die Brücke nicht brauchen konnte. Und auch die Roeblings brauchten keine Skandale, kein Misstrauen und keine Zweifel.

 

Die Fähre mit der riesigen Kabeltrommel, die viel größer war als ein Pferdeomnibus, fuhr langsam über den Fluss, wobei der starke Draht von der Trommel abgewickelt wurde. Auf der Stelle sank das Kabel auf den Grund des Flusses. Und dann hatte die Fähre das andere Ufer erreicht, und Farrington stand oben auf dem Brooklyn-Pfeiler, und als sich gerade kein Schiff, keine Schaluppe, kein Boot und kein Dampfer zwischen den beiden Pfeilern befanden, da gab er das Zeichen, mit der dampfbetriebenen Winde das Kabel hochzuziehen. Beinahe steif stand er, schien sogar Annett vergessen zu haben, die dicht neben ihm stand. Er starrte auf das dunkelgrüne Wasser, aus dem endlich mit einem gewaltigen Wellenschlag das dicke Kabel auftauchte, sich spannte und schließlich zwischen den beiden Brückenpfeilern hing. Da warf Farrington seinen Hut in die Luft, drehte sich nach den Columbia Heights hin und winkte wie wild, in der Hoffnung, dass Washington ihn sehen konnte. Nein, nicht ihn, sondern das Kabel. «It was done!», «Es ist geglückt. New York und Brooklyn sind miteinander verbunden, ja, man könnte sogar von einer Hochzeit sprechen», jubelten auch die Bürgermeister von Manhattan und Brooklyn und fielen einander in die Arme.

Und am nächsten Tag stand in der New York Times zu lesen:

Das erste Kabel, das Hauptkabel, ist gespannt, aber hält es auch? 12000 Elefanten sollen die Kabel einmal halten, aber wie will das jemand nachprüfen? Der Maschinenmeister E.F. Farrington hatte gestern keine Zeit für ein längeres Gespräch, wohl aber für das Versprechen: «Ich beweise es Ihnen unter Einsatz meines eigenen Lebens.» Nun, wir werden auf diese Sensation warten.

Elf Tage später war der große Tag gekommen. Die Presse überschlug sich vorab mit Spekulationen, wobei die New York Times dabei keine Ausnahme machte. Hunderte wagemutige New Yorker hatten sich darum beworben, als Erste über die East River Bridge zu «fahren», darunter sogar ein erst zwölfjähriger Bube und ein erfahrener Zirkusakrobat. Aber Washington hatte beschlossen, dass es jemand sein musste, der an der Brücke entscheidend mitgearbeitet hatte. Jemand, dem die Brücke etwas bedeutete, jemand, für den dieser Tag ein ebenso aufregender, besonderer Tag war wie für Washington und Emily. Viele hätten sich über diese große Ehre, die natürlich auch mit einem gewissen Risiko verbunden war, gefreut. Aber nur wenige zog Washington in die engere Wahl. «Was meinst du?», fragte er Emily morgens am Frühstückstisch. «Wer sollte der Erste sein, der die Brücke ‹betritt›?»

Emily überlegte keine Sekunde. «Du natürlich. Du, allen anderen voran. Das wäre gerecht.»

Washington verzog schmerzlich den Mund. «Nun geht es in der Welt leider nicht gerecht zu, aber es muss trotzdem jemanden geben, der dich und mich würdig vertritt.»

«An wen hast du denn gedacht?»

«Nun, ich wollte erst hören, wen du ins Auge gefasst hast.»

Emily schaute eine winzig kleine Weile nachdenklich auf ihren Teller, dann sagte sie entschlossen: «Für mich kommt nur einer in Frage: Frank Farrington.»

Emily nickte. «Ja, keinem gebührt diese Ehre mehr als ihm.» Sie wandte sich an Annett, die dem Gespräch aufmerksam gefolgt war. «Weißt du», erklärte sie, «Frank Farrington hat schon mit Washs Vater zusammengearbeitet. Er war bei der Niagara Bridge dabei und auch in Cincinnati.» Dann drehte sie sich zu Washington. «Doch er ist nicht mehr der Jüngste. Wie alt ist er? Weißt du das?»

«Nahe an die 60», erwiderte Washington. «Es heißt, er hat auch schon ein paar Gebrechen. Sein Rücken macht ihm zu schaffen.» Nun sah er eine Weile nachdenklich auf seinen Frühstücksteller, auf dem noch die Reste des Rühreis und das Fett des gebratenen Schinkens zu sehen waren, dann nickte er entschlossen: «Ich werde ihn selbst fragen. Ihn zuallererst. Und nur, wenn er nicht möchte, müssen wir jemand anderen finden.»

Annett hatte gehofft, die Berichterstattung in der größten Zeitung New Yorks würde etwas freundlicher werden, nachdem Arthur Munroe Washington und Emily kennengelernt hatte, aber dem war nicht so. Arthur hatte zwar nichts weiter über Washingtons Gesundheitszustand geschrieben, und er hatte auch aufgehört, Emily in seinen Artikeln zu verspotten, doch seine Zweifel am gesamten Projekt hatte er nicht überwunden. Mit jeder Zeile ließ er durchblicken, dass es für ihn – und wahrscheinlich für alle anderen Männer in New York – beinahe schon eine persönliche Kränkung war, dass eine Frau die größte Baustelle Amerikas wenn schon nicht leitete, so doch zumindest mitleitete. Wenn Annett mit ihm zusammen war, dann war Arthur liebevoll und höflich, aber wenn man seine Artikel las, konnte man meinen, für Arthur Munroe waren Frauen Geschöpfe, die sich hauptsächlich für Schuhe, Kleider, Hochzeiten und Kinder interessierten. Die klügsten unter ihnen lasen vielleicht noch weinerliche Gedichte oder kitschige Romane, liefen in rührselige Opern oder bejubelten die Aktricen der Broadwayshows, aber zu richtiger Denkarbeit waren sie einfach nicht in der Lage. Sie konnten als Zimmermädchen arbeiten, wenn es denn durchaus sein musste, als Näherinnen oder als Ladenmädchen, aber niemals als Ingenieurinnen. Einen solchen Eindruck vermittelten jedenfalls seine Artikel.

«Das Kabelspinnen geht gut voran», heißt es aus dem Büro der Bauleitung unserer East River Bridge. Nun, das mag die New Yorker nicht verwundern, sind von Hause aus die Frauen doch für das Spinnen zuständig. Einzig die Frage, wie groß der Unterschied zwischen Wollfäden und Kabeln ist, ist von Bedeutung.

Annett ärgerte sich über diese Zeilen, aber Emily lachte nur darüber. «Du musst ihn verstehen. Er schreibt das, was die Leute lesen wollen. Nicht mehr und nicht weniger. Täte er es nicht, so wäre er bald ohne Job.»

Wieder hatte die Zeitung eine ganze Fähre gemietet, um die beste Sicht zu haben. Und wieder waren Fotografen an Bord, um denen, die nicht dabei sein konnten, wenigstens einen bildlichen Eindruck zu verschaffen, während sich Tausende Schaulustige an den Ufern tummelten.

«Sind Sie aufgeregt?» Annett stand oben auf dem Pfeiler, neben sich Frank Farrington, der langsam und entspannt atmete. Er hatte sich für diesen besonderen Tag fein herausgeputzt. Er trug einen dunklen Leinenanzug und dazu einen neuen Hut. Doch auch die Brücke hatte sich für das große Ereignis geschmückt. Auf den beiden Towern wehte die amerikanische Flagge im Wind, außerdem waren links und rechts eines jeden Towers jeweils zwei Männer postiert, die Signalflaggen in den Händen hielten, um sich zwischen New York und Brooklyn verständigen zu können. Auf dem gespannten Seil, zweihundert Fuß über dem Wasser, hockten zahlreiche Krähen und stießen angesichts des Trubels auf dem Wasser und zu Land unmutige Laute aus.

«Aufgeregt? Ich? Nein. Warum auch? Ich habe die Kabel gesponnen und gezogen, ich weiß besser als alle anderen, dass sie halten. Warum also sollte ich mich aufregen?» So viele Sätze hintereinander waren für den eher schweigsamen Mann überraschend, aber Annett nickte. «Natürlich wird alles gutgehen, keine Frage. Ich dachte nur, dass die vielen Menschen Ihnen vielleicht ein wenig Lampenfieber verursachen.»

Farrington sah hinab auf die Menschenmenge, die Hüte schwenkte und vor Ungeduld immer lauter wurde, dann schüttelte er den Kopf. Ein paar Meter von ihnen entfernt stand ein junger Mann. Annett kannte ihn vom Sehen, er war ein Assistent des Maschinenmeisters. In der Hand hielt er ein vielleicht vierzig Zentimeter langes und zwanzig Zentimeter breites Holzbrett. Dieses Brett war mit zwei Stahlseilen und einer Öse an dem umlaufenden großen Drahtkabel befestigt, und der Plan sah vor, dass Frank Farrington auf diesem Brett, das ein wenig an eine Holzschaukel im Apfelbaum eines Gartens erinnerte, über den Fluss auf die andere Seite schweben sollte.

«Geht es los?», fragte der Assistent.

Farrington atmete tief ein und nickte. Annett trat vor, umarmte den überraschten Mann und wünschte ihm Glück. Und schon nahm Farrington auf dem Brett Platz und ließ sich von seinen Mitarbeitern vom Ankerblock auf der Brooklyner Seite zum höchsten Punkt des Kabels ziehen. Annett sah, wie Farrington die Augen schloss, sich bekreuzigte, und schon ging es los. Das Holzbrett raste an dem Drahtseil hinab in Richtung Wasseroberfläche. Mit empörtem Gekreisch flatterten die Krähen davon. Die Menge schrie auf, aber Farrington riss sich jetzt den Hut vom Kopf und schwenkte ihn. Jubel brandete auf, Hüte wurden in die Luft geworfen, junge Mädchen winkten mit bunten Tüchern. Raddampfer ließen ihre gewaltigen Schiffshupen erklingen, und endlich war er auf dem tiefsten Punkt des Kabels angelangt, schwebte beinahe frei über der Wasseroberfläche. Nun musste er wieder hinaufgezogen werden, und die ganze Zeit über schwenkte Farrington seinen Hut, als wäre es das größte Vergnügen, so über den East River zu flitzen. Als er endlich auf der New Yorker Seite angekommen war, da brachen begeisterter Beifall und unbändiger Jubel los. Schiffsglocken läuteten, Fabriksirenen schrillten, und es wurde sogar eine Kanone abgefeuert.

Kaum war Frank Farrington von seinem Holzbrett gestiegen, war er auch schon von Reportern umringt. Frank E. Farrington war der Held des Tages. Und auf den Brooklyn Heights blickte Washington Roebling in seinem Rollstuhl durch ein Fernglas hinüber zum Manhattaner Tower. Kurz schien es ihm, als winke Farrington ihm zu. Er spürte die Hände seiner Frau auf der Schulter und musste einen Augenblick lang mit den Tränen kämpfen. «Wir haben es geschafft», sagte er leise. Und Emily erwiderte: «Du hast es geschafft. Mag Frank für heute ein Held sein. Von dir und deiner Brücke wird man noch in hundert Jahren sprechen.» Und sie beugte sich zu ihm hinunter, küsste ihn auf die Wange, und Washington schüttelte leise den Kopf und sagte: «Ich bin ein Krüppel, der dir kein Mann mehr sein kann, kein Beschützer und kein Versorger. Und trotzdem fühle ich mich von dir geliebt, als wäre ich alles, was du dir je gewünscht hast.»

Und Emily lachte leise auf und sagte: «Du bist alles, was ich mir je gewünscht habe. Ob arm oder reich, ob krank oder gesund, ob erfolgreich oder nicht: Du bist es, den ich immer gewollt habe.»