Wenn Gottwitha ehrlich war, dann wartete sie darauf, dass jemand von den Amischen kam, um sie zurück ins Dorf zu holen. Wahrscheinlich würde sie dann mitgehen. Nicht, weil sie sich nach ihrem Zuhause, nach ihrem Mann sehnte, sondern nur, weil sie nicht wusste, was sie jetzt tun sollte. Sie kannte doch nichts außer dem Leben der Amischen, wusste nichts von der Welt. Wie sollte sie sich durchbringen? Wovon Brot kaufen? Wo schlafen? Sie saß in der Hinterstube des Ladens und schnitt Bohnen, doch ihre Ohren waren draußen auf der Straße. Kam ein Buggy? Hielt er an? Stieg jemand ab? Aber da war nichts. Nur hin und wieder ein Fuhrwerk, das vorüberrumpelte. Oder ein Pferd mit klappernden Hufen. Ein Kutscher, der fluchte, ein Kind, das lachte oder weinte. Aber kein Buggy.
Dana kam herein. «Brauchst du etwas?»
Gottwitha schüttelte den Kopf. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht weinen zu müssen. Dana setzte sich zu ihr an den Küchentisch. «Du wartest, nicht wahr?»
Zart berührte Dana Gottwithas Hand, die das Messer hielt. «Er wird nicht kommen», sagte sie leise.
«Woher weißt du das?»«Weil er auch damals nicht gekommen ist.»
«Damals?»
«Bei seiner ersten Frau.»
Gottwitha ließ das Messer sinken, schnäuzte sich die Nase, dann fragte sie: «Was weißt du darüber? Erzähl es mir.»
Dana zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht viel. Nur das, was die anderen erzählen. Sie soll, so heißt es, einem anderen Mann schöne Augen gemacht haben.»
«Einem Amischen?»
Dana verneinte. «Soweit ich gehört habe, keinem aus deinem Dorf, sondern dem lutherischen Pfarrer hier.»
«Ach?» Gottwitha lehnte sich zurück. «Und dann? Hat Samuel sie verstoßen? Ist sie ihm weggelaufen? Hat der Pfarrer sie aufgenommen? Sind sie jetzt ein Ehepaar?»
«Nein, nein. Nichts davon. Ob dein Mann sie verstoßen hat oder ob sie von selbst gegangen ist, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der Pfarrer sie nicht aufgenommen hat. Sie ist dann weggegangen. Nach Philadelphia. Es sind viele Tränen geflossen, das kannst du mir glauben.»
Jetzt begriff Gottwitha. «Sie hat auch hier gesessen, nicht wahr? Hier, an diesem Tisch.»
Dana nickte. «Was sollten wir tun? Sie auf der Straße lassen?»
«Und was ist aus ihr geworden?»
Dana hob wiederum die Schultern. «Sie ist in einen Haushalt gekommen. Ich habe seit einem Jahr nichts mehr von ihr gehört.»
Gottwitha betrachtete Dana genau. Ihr Blick flackerte und hielt dem ihren nicht lange stand. «War da noch etwas?», fragte sie.
Dana biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. «Hat dir keiner der Euren etwas darüber erzählt?»
«Nein. Man hat sie verbannt. Niemand darf über sie sprechen.»
Dana griff nach ihrer Hand. «Deine Leute sind hart. Hart zu sich selbst und zu anderen. Manch einer von ihnen ist an den eigenen Ansprüchen gescheitert. Bei deinem Mann Samuel warte ich regelrecht darauf.»
«Du kennst Samuel?»
«Ich kannte ihn schon, als wir noch kleine Kinder waren.» Sie lächelte, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. «Er war anders als die übrigen amischen Jungs.»
«Wie anders?» Gottwitha konnte sich nicht vorstellen, dass Samuel jemals aus der Reihe getanzt war.
Dana lächelte. Ihr Gesicht wurde ganz weich. «Er trug die gleichen Sachen wie die anderen Jungs auch, aber bei ihm wirkten sie anders. Er war ein wildes Kind, immer bereit, Späße zu machen, immer bereit zu lachen.»
«Mein Samuel?» Gottwitha traute ihren Ohren nicht.
«Ja. Und er war der Einzige, der es jemals gewagt hat, in unserem Laden etwas zu stehlen.»
Gottwitha klappte der Mund auf. Noch nie hatte sie gehört, dass ein Amischer etwas gestohlen hatte. Das verstieß eindeutig gegen die Gebote. Und niemand, nicht einer, der so aufgewachsen war wie sie, würde es jemals wagen, gegen die Gebote zu verstoßen.
«Was hat er gestohlen?», wollte Gottwitha wissen. Sie dachte an Bonbons, an Naschwerk, Kuchen, Murmeln vielleicht.
«Er hat ein Stück Seife gestohlen. Rosenseife. Ich weiß es wie am ersten Tag.»
«Rosenseife? Ein kleiner Junge? Rosenseife?»
Wieder nickte Dana und lächelte dabei noch immer. «Er hat sie seiner Mutter geschenkt. Er liebte den Duft. So einfach war das.»
Gottwitha konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sie wiederholte alles, was Dana sagte, wie ein törichter Papagei. «Er hat die Rosenseife gestohlen, weil sie so gut roch?» Nie, nie, niemals hatte Gottwitha an Samuel etwas Sinnliches entdecken können. Sie dachte, er würde lediglich sehen und hören, was seine unmittelbare Arbeit, sein Leben mit Gott betraf. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihm etwas schmeckte, dass er sich etwas langsam auf der Zunge zergehen ließ, um den Genuss hinauszuzögern. Sie glaubte auch nicht daran, dass ihm ihre Zärtlichkeiten gefallen hatten. Er hatte sie erduldet, weil ihre Hände warm waren und er vielleicht gefroren hatte. Und nie, nie, niemals hatte er verlauten lassen, dass es gut roch, wenn sie gebacken, oder gar, wenn sie die frische Wäsche von der Leine genommen hatte.
«Er hat an der Seife gerochen?» Sie schüttelte den Kopf.
«Immer, wenn er im Laden war. Jedes Mal. Und eines Tages konnte er nicht anders und hat sie mitgenommen. Mein Vater hat es gesehen, doch nichts gesagt, weil er merkte, wie sehr der Junge die Seife begehrte.»
«Und Samuels Mutter? Wie hat sie reagiert? Was tat sie mit der Seife?»
«Nun, sie wird ihrem Mann davon erzählt haben. Und der, hieß es, habe seinen Sohn so geschlagen, dass dieser mehrere Tage lang nicht sitzen konnte. Und hernach soll er ihm immer wieder die Faust auf die Nase gedroschen haben, wenn Samuel Anstalten machte, etwas zu riechen. So lange, bis sein Geruchssinn zerstört war.»
Gottwitha nickte. Einiges, was sie mit Samuel erlebt hatte, fand in Danas Bericht eine Erklärung. Aber nicht alles. Oh nein, längst nicht alles. Sie seufzte tief, glaubte einen Augenblick lang, Samuel retten zu können, ihm zeigen zu können, dass Sinnlichkeit nichts Schlechtes war. Am liebsten wäre sie aufgestanden, zurück in ihr amisches Dorf gegangen und hätte gesagt: «Ich weiß, was mit dir passiert ist, ich weiß auch, was mit deiner ersten Frau geschehen ist. Lass uns das alles vergessen und noch einmal neu beginnen.» Aber zugleich wusste sie, dass dies niemals geschehen würde. Sie seufzte, griff wieder nach Messer und Bohnen. Und was war mit ihr? Was sollte aus ihr werden?
«Was wird sein, wenn wir in Philadelphia sind?», fragte sie Dana.
«Du wirst dir eine Arbeit suchen müssen. Für den Anfang vielleicht eine Anstellung in einem Haushalt, in dem du auch wohnen kannst.»
«Was für eine Anstellung?» Gottwitha hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von den Dingen, die in einer Stadt vor sich gingen.
«Du könntest als Kindermädchen arbeiten. Du bist fromm, das wird den Leuten gefallen. Vielleicht kann dich auch jemand als Küchenhilfe gebrauchen, als Stubenmädchen oder als Magd. Du wirst dich umsehen müssen.»
«Wie umsehen?» Gottwitha kämpfte schon wieder mit den Tränen. Oh Gott, was hatte sie nur getan? Wie hatte sie nur weglaufen können?
«Du wirst bei den Leuten klingeln müssen. Und nachfragen.»
«Nachfragen?»
«Ja. Nach Arbeit. ‹Verzeihen Sie bitte, suchen Sie vielleicht ein Küchenmädchen?› Das wird schwer genug werden, denn du hast keine Empfehlungsschreiben, und du sprichst noch nicht besonders gut Englisch. Aber vielleicht schaffst du es ja.»
Gottwitha wurde so himmelangst, dass ihr der Atem stockte. «Und wenn nicht? Wenn ich es nicht schaffe?»
«Das solltest du dir gut überlegen. Vielleicht könntest du ja doch noch zurück in dein Dorf gehen.»
Als hätte der Herrgott selbst diesen Gedanken in Danas Kopf gepflanzt, hielt ein Buggy vor dem Laden. Dana trat ans Fenster. «Es sind Rebecca und Noah. Du kennst sie sicher.»
«Sie sind unsere Nachbarn.»
Dana wandte sich zu Gottwitha um. «Deine letzte Gelegenheit. Überleg dir gut, was du tust.» Dann ging sie nach vorne in den Laden, um die Kunden zu bedienen.
Gottwitha blieb noch einen Augenblick hinter der Tür stehen. Sie hörte Rebeccas Lachen. «Nein, Schatz, wir brauchen kein Mehl. Wir brauchen nur Öl und ein paar Talglichter, vielleicht noch ein wenig Tran für die Lampen, Schwefelhölzer und einen neuen Milchtopf.»
«Ich kaufe alles, was du willst», erwiderte Noah.
Da trat Gottwitha hinter der Tür hervor. «Gesegnet sei Jesus Christus», sagte sie leise. Rebecca fuhr herum, als wäre sie von einer Hornisse gestochen worden. Ihr Gesicht verdunkelte sich. «Du?» Gottwitha hörte den Abscheu in ihrer Stimme.
«Ja. Ich. Ich wollte fragen, ob ihr mich mit zurück ins Dorf nehmen könntet. Ich würde hinten auf der Ladefläche des Buggys sitzen und die Ölkannen festhalten.»
Rebecca blickte erst Noah, dann wieder Gottwitha an. Ihre Lippen kräuselten sich, ihr Blick flackerte. Schließlich stieß sie ihren Mann mit dem Arm an. Noah trat einen Schritt vor, legte kurz eine Hand auf Gottwithas Arm. «Wir dürfen nicht», sagte er. «So gern wir es wollten. Du kannst nicht zurück ins Dorf. Rachel hat den Bann über dich verlangt, und der Älteste hat ihn gesprochen. Du weißt, was das heißt?»
Gottwitha nickte. «Ihr dürft nicht einmal mit mir reden. Aber warum hat sie den Bann verlangt?»
Nach einem kurzen Seitenblick auf Rebecca sagte Noah leise: «Weil du deinen Mann erst verhext und dann verlassen hast. Du hast dem Dorf den Rücken gekehrt und bist einfach fortgegangen.»
Etwas in Gottwitha verlangte danach, auf die Knie zu fallen und zu betteln. Ich bin doch nur ein Stück spazieren gegangen, wollte sie flehen. Ich habe doch niemanden verlassen. Nehmt mich mit. Lasst mich in der Scheune schlafen. Ich werde mit niemandem sprechen und an niemandes Tisch sitzen, bis ich euch davon überzeugt habe, dass ich meinen Mann nicht verlassen wollte. Bitte, so hört mir doch zu. Aber ihr Mund blieb stumm. Nur die Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah, dass auch Rebecca mit den Tränen kämpfte. Doch schon nahm Noah Rebeccas Arm und führte seine Frau nach draußen. Und Gottwitha verstand, dass sie wirklich und wahrhaftig verstoßen worden war. Das tat weh, auch wenn sie selbst hatte fortgehen wollen. Es war ein Unterschied, ob man etwas entscheidet oder zu etwas gezwungen wird. Sie dachte, sie würde Wut spüren, aber da war nur eine abgrundtiefe Traurigkeit, eine Verzweiflung, die keinen Namen kannte.
Noah kam zurück in den Laden. Er sammelte die Einkäufe ein, vermied dabei Gottwithas Blick. Sie kam sich auf der Stelle schmutzig vor. Klebrig, stinkend. Eine Ratte, mehr nicht. Trotzdem nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. «Noah», sprach sie. «Wie geht es Samuel? Hat er dem Bann zugestimmt?»
Noah presste die Lippen aufeinander. Gottwitha trat einen Schritt näher, berührte seinen Ärmel. «Bitte», flüsterte sie. «Sag es mir. Ich muss es wissen. Hat Samuel dem Bann zugestimmt?» Doch Noah riss sich los, verließ mit schnellen Schritten den Laden, sprang auf den Bock und gab seinen Pferden die Peitsche. Einmal noch drehte Rebecca sich nach Gottwitha um, hob die Hand – ein kurzes Winken.
Jetzt war Gottwitha allein. So allein wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte nichts und niemanden mehr. Keine Eltern, keine Familie, kein Haus, kein Brot. Aber das Schlimmste war, dass sie auch keine Träume hatte. Nur Angst. Angst vor dem Leben an sich, Angst vor der Sünde, Angst vor dem Tod. Und sie begriff, dass das, was sie gerade erlebte, Gottes Strafe war. Und zugleich, auch das erkannte Gottwitha, gab er ihr eine Chance. Sie musste nicht untergehen. Sie konnte es vielleicht schaffen, sich das Leben zu erobern. Und dieses Leben würde dann ihr eigenes sein.