Endlich war sie am richtigen Platz. Sie konnte es fühlen, riechen, schmecken. Sie hatte sich hier in Oak’s Hill sogleich heimisch gefühlt, und jetzt konnte sie es gar nicht mehr abwarten, endlich mit dem neuen Leben zu beginnen. Sie wollte Nägel mit Köpfen machen. Sie musste los, musste für sich und Tuuli ein Haus kaufen, eine Bäckerei eröffnen, und zwar am liebsten alles gleichzeitig. Susanne sprang in ihrem Zimmer hin und her, suchte das Geld, das sie von Madame Joyce bekommen und an verschiedenen Orten versteckt hatte, zusammen. Dabei sprach sie aufgeregt mit Tuuli, die hinter einem Kissenwall auf dem Bett lag. «Was meinst du, könnte es dir gefallen, jeden Morgen aufzuwachen und als Erstes frisches, warmes Brot zu riechen?» Sie trat ans Bett, sah ihrer Tochter in das fröhliche Gesicht, wandte sich schon wieder ab, öffnete Schubladen, zog sie raus und griff in die Öffnung dahinter. «Wir müssten sehr früh am Morgen aufstehen, aber das macht nichts. Wir werden uns daran gewöhnen.» Sie steckte das Geld aus der Schublade in ihre Rocktasche, bückte sich, hob ein loses Dielenbrett – und hielt inne. Ihr Blick schweifte ins Leere, und sie ließ sich auf den Hosenboden fallen. Im Grunde wusste sie gar nicht, wie man lebte, wie man sich ein Leben einrichtete, aber sie würde es herausfinden. Ja, sie wusste schon jetzt, dass sie Fehler machen würde, aber sie wusste auch, dass sie sich durchschlagen konnte. Sich und ihr Kind. Komme, was da noch wolle. Sie hatte schon alles erlebt an schlechten Dingen, die sich erleben ließen. Was sollte sie jetzt noch entsetzen?
Vergnügt lachte sie, wozu Tuuli leise gurrte. Susanne stand auf, nahm ihre Tochter auf den Arm, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. «Wir werden, was wir sind, nicht wahr, mein Schatz. Wir werden, was wir sind.»
Eine Stunde später machte sie sich mit Cherry auf den Weg zum Sheriff. Mister Wainwright saß hinter einem splittrigen Schreibtisch, der mit grünem Leder bezogen war, hatte die Beine in den dreckigen Stiefeln auf den Tisch gelegt, den Hut in den Nacken geschoben und rauchte eine Zigarre. Als die beiden Frauen den Raum betraten, stand er nicht etwa auf, um sie zu begrüßen, sondern lud sie lediglich mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Cherry wollte der Aufforderung nachkommen, aber Susanne hielt sie am Ärmel fest, starrte auf die verschmutzten Stiefel des Sheriffs, und endlich lachte dieser heiser auf und nahm die Beine vom Tisch. Jetzt erst setzten sich die beiden Frauen, und Susanne sah, wie sich Mister Wainwrights Blick veränderte. War er beim Eintritt in sein Büro noch gelangweilt gewesen, so glomm jetzt Interesse in seinen Augen.
«Was kann ich für Sie tun, Ladys?», fragte er, erhob sich und öffnete das Fenster einen Spalt, damit der Rauch seiner Zigarre abziehen konnte.
«Wir möchten uns nach den beiden leerstehenden Häusern in der Mainstreet erkundigen.» Cherrys Stimme klang dünn und ein wenig zittrig.
«Wenn möglich, würden wir diese Häuser gern kaufen. Nach Besichtigung, versteht sich.» Susannes Stimme klang fest und bestimmt.
Der Sheriff wiegte den Kopf hin und her, als müsste er überlegen. Dann entgegnete er: «Die Häuser, hmpf. Sie sind fester Bestandteil von Oak’s Hill. Verstehen Sie, was ich meine?»
Cherry schüttelte den Kopf, Susanne aber verstand. Sie straffte den Rücken und reckte das Kinn ein wenig. «Ja», sagte sie. «Sie prägen das Gesicht der Stadt, würde ich sogar sagen.» Dann wartete sie ab.
Der Sheriff betrachtete die beiden Frauen von oben bis unten. Sein Blick glitt über die gewaschenen Hauben, die sauberen Kleider, die am Saum ein wenig ausgefranst waren, aber er schien zu keinem eindeutigen Urteil zu kommen. «Gut möglich, dass der Chinese noch eine Wäscherei da drinnen eröffnen will.» Er zog kräftig an seiner Zigarre. Der Rauch stieg den Frauen ins Gesicht, doch keine der beiden ließ sich ihren Unmut darüber anmerken.
«Gut möglich auch, dass gar nichts passiert», erwiderte Susanne. «Es gibt schon eine Wäscherei. Wer soll seine Wäsche zweimal zum Chinesen geben? Die letzten Goldgräber? Die ersten Rinderfarmer?» Sie lächelte.
«Kann schon sein, dass die Stadt bald anders aussieht», erklärte der Sheriff und ließ erneut seine Zigarre aufglimmen.
«Gut, wenn das so ist. Es gibt noch mehr verlassene Goldgräberstädte hier in der Gegend.» Susanne erhob sich, zupfte an Cherrys Arm, damit auch sie aufstand. Sie wandte sich zum Gehen.
«Halt. So warten Sie doch.» Mister Wainwright lachte, als hätte er gerade einen herzhaften Witz gemacht. «Nicht so schnell mit den jungen Pferden.»
Susanne wandte sich um, behielt aber die Klinke in der Hand. Ihr Blick glitt jetzt mit derselben Unverschämtheit über Mister Wainwrights Gestalt, mit der er sie kurz zuvor gemustert hatte. Er hatte ein rundes Gesicht mit Knopfaugen, die ihm etwas leicht Dümmliches, gleichzeitig aber Verschlagenes verliehen. Seine Nase war knubbelig, und seine fleischigen Lippen glänzten feucht. Er kratzte sich mit der rechten Hand seinen Stiernacken und faltete dann die Hände vor dem runden Wohlstandsbauch. Seine kurzen Beine steckten in Stiefeln, an deren Absätzen die Sporen leise klirrten. Er trug eine Hose aus blauem dickem Stoff, die hier alle trugen und die sie Jeans nannten, darüber ein grobes, rot und schwarz kariertes Hemd und eine Weste aus festem Rindsleder, an der sein Sheriffstern steckte. Am Gürtel hing ein Holster, doch es war keine Pistole darin.
«Wollten Sie noch etwas sagen?», fragte Susanne und bemühte sich um größtmöglichen Hochmut.
«Vielleicht ist was dran an dem, was die Leute sagen. Vielleicht ist Oak’s Hill eine Stadt kurz vor dem Aufschwung. Es werden bald viele Dinge gebraucht werden.»
«Zum Beispiel?»
Der Sheriff bat die beiden, wieder Platz zu nehmen, und Susanne und Cherry taten es. «Was zum Beispiel wird in der Stadt gebraucht werden – eine zweite Wäscherei?»
Mister Wainwright nickte. «Ja, vielleicht eine zweite Wäscherei. Aber ich denke, die müsste nicht unbedingt an der Mainstreet liegen. Wir brauchen ein paar Läden. Und etwas, worin man sich amüsieren kann. Außerdem preisgünstige Pensionen, vielleicht einen Drugstore.»
Jetzt lehnte sich Susanne zurück. «Ich würde gern eine Bäckerei eröffnen. Und meine Freundin hier würde gern eine Pension aufmachen.» Sie wartete einen kleinen Augenblick, bevor sie hinzufügte: «Sie hat dabei auch an ein paar Separees gedacht.»
Da grinste der Sheriff vom einen Ohr zum anderen. «Und Sie würden sich verpflichten, fünf Jahre zu bleiben?», fragte er.
«Fünf Jahre?»
Mister Wainwright nickte. «Bis zum Jahr 1882, um genau zu sein, denn das Jahr ist ja bereits fortgeschritten. Sie müssten unterschreiben, für fünf Jahre hierzubleiben. Es sei denn, Sie finden jemanden, der ihr Geschäft übernimmt und so weiter betreibt, wie Sie es begonnen haben.»
Susanne wechselte einen kurzen Blick mit Cherry, die begeistert nickte. Sie aber schüttelte den Kopf. «Was ist, wenn der Aufschwung nicht kommt? Sollen wir dann hier fünf Jahre lang verrotten?»
Der Sheriff zuckte mit den Schultern. «Sie müssen ja nicht hierbleiben. Haben Sie nicht selbst gesagt, dass es noch andere interessante Städte im Westen gibt?»
Er griff nach einem Papier und tat, als würde er darin lesen.
«Wenn Sie wollen, dass wir hierbleiben und der Stadt zu etwas mehr Glanz verhelfen, dann vermieten Sie uns die beiden Häuser zu einem angemessenen Preis.» Sie hatten sich vorher überlegt, dass sie erst einmal ausprobieren wollten, wie es sich hier leben ließ, bevor sie ein Haus kauften, für welches sich im schlimmsten Falle dann keine neuen Käufer fanden.
Der Sheriff ließ das Papier sinken. «Warum sollte ich das tun?»
Wiederum möglichst hochmütig erwiderte Susanne: «Wir kommen aus New York. Wir sind bereits eine Attraktion, wenn wir nur die Straße hinauf- und hinunterschlendern.»
Mister Wainwright bleckte die Zähne, nahm einen Zahnstocher und kaute nachdenklich darauf herum. «Und was springt für mich dabei heraus? Für mich persönlich, meine ich.»
Susanne stieß Cherry an, und Cherry verstand. «Na gut, einmal im Monat können Sie zu mir kommen. Ich arbeite meine Miete ab.»
«Gib dir Mühe, Schätzchen.» Er wandte sich an Susanne. «Und was kannst du mir anbieten, Darling?»
Susanne verzog den Mund zu einem schmalen, giftigen Lächeln. «Eigentlich denke ich, dass es schon reicht, wenn Sie mich ‹Darling› nennen dürfen, aber da Sie nun mal so unersättlich sind, lege ich pro Woche ein Brot und einen halben Kuchen drauf.»
Mister Wainwright lachte scheppernd. «An den Festtagen will ich einen ganzen Kuchen.»
Susanne schüttelte den Kopf. «In der Woche nach den Festtagen können Sie Ihren Kuchen haben. Davor habe ich sicher zu viel zu tun.»
«Na gut.» Der Sheriff sog die Luft zwischen den Zähnen ein und wandte sich Cherry zu. «Ein Nümmerchen extra pro Feiertag.» Cherry zuckte mit den Achseln, als wäre es ihr egal. Und wahrscheinlich war es das auch. Er stand auf. «Meine Damen, darf ich Ihnen Ihr neues Domizil zeigen?»
«Sehr gern.» Susanne und Cherry erhoben sich, verließen vor dem Sheriff die Wache, traten auf die Straße. Ein trockner Präriewind ging durch die kleine Stadt, wirbelte alte Blätter hoch, ließ Dachziegel klappern und riss an den Pflanzen in den winzigen Gärten der Bewohner. Der Sheriff hielt seufzend inne.
«Mir fällt gerade ein, dass ich eine Besprechung habe. Es geht um wichtige städtische Angelegenheiten. Wir müssen unsere Besichtigung wohl oder übel verschieben. Tut mir leid, Ladys.» Beinahe hastig steckte er die beiden Hausschlüssel zurück in seine Tasche.
«Städtische Angelegenheiten? Mit wem wollen Sie denn etwas besprechen? Sind Sie nicht der einzige städtische Bedienstete hier?» Susanne betrachtete den Sheriff belustigt. «Oder ist es Ihnen zu stürmisch heute? Haben Sie Angst, dass wir in unseren neuen Häusern die Fensterscheiben klirren hören, spüren, wie der Wind durch die Ritzen fährt und wie undicht die Wände sind, wie schlecht der Kamin zieht?» Sie lachte, als sie sah, dass sich sein Gesicht mit einem rosigen Schimmer überzog. Mister Wainwright seufzte. «Dann kommen Sie. Aber wir müssen uns beeilen; meine Arbeit macht sich wirklich nicht von allein.»
Es waren nur wenige Meter von der Sheriffstation hinüber zu den beiden Häusern. Susanne und Cherry schritten Arm in Arm durch die Mainstreet. Obgleich sie die Blicke weder nach rechts noch nach links wandten, merkten sie, dass sich in den bewohnten Häusern die Vorhänge leise bewegten. «Du hattest recht, wir sind tatsächlich eine Attraktion hier», flüsterte Cherry belustigt. «Nun, dann wollen wir dafür sorgen, dass das so bleibt», flüsterte Susanne zurück und wandte sich nach dem Sheriff um, der hinter ihnen hertappte. Ein alter Mann mit halbnacktem Oberkörper, ein Tuch um die Stirn geschlungen, kam aus einem Haus und hielt einen riesigen Hammer in der Hand. «Hey, Nath», rief er über die Straße. «Sind das die Neuen, die du in Chicago bestellt hast?», wollte er wissen und lachte meckernd. Dann spuckte er schwungvoll in den Dreck, schulterte den Riesenhammer und begab sich in eine Nebenstraße, deren erstes Haus wohl eine Schmiede war.
«Hast du das gehört?», wollte Cherry wissen. «Er hat Huren in der Stadt bestellt. Vielleicht sollten wir doch noch ein Stück weiterfahren.»
«Unsinn. Wäre es so, hätte er sich uns gegenüber anders verhalten. Meinst du, er hätte uns die Häuser gegeben, wenn er auf Mädchen warten würde? Ich glaube, er hat im Saloon ein bisschen angegeben. Na ja, jetzt kann er wenigstens sagen, er hätte Weibsvolk aus New York geholt.»
Sie waren angelangt und blieben vor den beiden leeren Häusern stehen. Das erste hatte eine Veranda, auf der noch ein durchgesessener Schaukelstuhl stand und an der ein Geländer zum Pferdeanbinden befestigt war. Die grün gestrichenen Fenster des anderen Hauses hoben sich gut von seiner dunkelroten Fassade ab. In der unteren Etage war einmal ein Laden gewesen, «Lehman’s Grocery», wie ein Blechschild verriet, das über einem der großen, jetzt freilich mit Holzlatten vernagelten Fenster im Wind klirrte. Es gab keine Veranda, aber im ersten Stock war ein winziger Balkon, gerade groß genug, um einen Stuhl daraufzustellen.
«Was war das hier früher?», wollte Cherry wissen und deutete auf das Haus mit der Veranda.
«Ein Wohnhaus, schätze ich. Was sonst? Kann gut sein, dass noch ein paar Möbel darin stehen.» Der Sheriff fummelte den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür. «Nach Ihnen, meine Damen.»
Cherry trat als Erste ein. Drinnen war es dunkel, doch durch die offene Tür fiel genügend Licht, und Mister Wainwright war auch schon dabei, die hölzernen Fensterläden zu entfernen. Es roch ein bisschen muffig und staubig, doch die Fußböden schienen auf den ersten Blick in Ordnung zu sein. Auch das Dach wirkte intakt. Die Pumpe, die hinter dem Haus stand, quietschte zum Gotterbarmen, aber sie spuckte am Ende doch rostbraunes Wasser aus.
Während Susanne und Cherry sich aufmerksam umsahen, trat Mister Wainwright unruhig von einem Bein auf das andere. Schließlich erklärte er ungeduldig: «Ich lasse Ihnen einfach die Schlüssel da. Wenn die Häuser Ihnen zusagen, so betrachten Sie sich ab sofort als Mieterinnen. Den Papierkram können wir später noch erledigen. Gefällt es Ihnen hier nicht, so werfen Sie mir die Schlüssel in den Postkasten.» Er tippte sich an den Hut, wünschte viel Glück und ging rasch davon, denn der Saloon wurde gerade geöffnet, eine Möglichkeit für ihn, nicht nur den neuesten Klatsch zu erfahren, sondern ihn auch zu erzählen.