Der Bau der Brücke ging zügig voran, und Annett begann sich zu fragen, wie es mit ihr weitergehen würde, sobald die Brücke fertig war. Washington Roebling würde nie wieder ein so großes Bauwerk bauen, sehr wahrscheinlich würde er gar nichts mehr bauen. Er war krank, und auch wenn er erstaunliche Kräfte in die Brooklyn Bridge steckte, so merkte sie doch, wie ihn jeder Tag mehr erschöpfte. Und auch Emily war erschöpft. Um ihren Mund hatten sich Falten gebildet, und unter ihren Augen lagen tiefe Ringe.
Annett hoffte noch immer inständig, ihr Leben auch nach Vollendung der Brücke den Dingen widmen zu können, die sie vor allen anderen interessierten: Ingenieurskunst und Mathematik. Und dann kam eines Tages, es war November, Emily nach Hause, lachte über das ganze Gesicht, sah jung aus wie nie und nahm Annett in die Arme.
«Weißt du, mit wem ich gerade zu Mittag gegessen habe? Nein, du kommst nicht drauf. Wie auch?»
Sie, die beherrschte, kluge Frau, sprudelte wie ein Springbrunnen. «Du errätst es nie.»
Annett lächelte, breitete die Arme aus. «Nein, ich errate es nicht. Also, mit wem? Sag schon?»
«Mit Jonathan Fisher.»
Sie sagte das mit einem Ausrufezeichen am Ende des Satzes, als ob jeder Mensch in ganz New York auf der Stelle wissen müsste, wer genau Jonathan Fisher war. Annett aber ließ die Schultern hängen und fragte: «Wer ist das?»
«Der Dekan des Technischen Kollegiums von New York.»
«Aha. Du meinst das Kollegium, welches die Ingenieure ausbildet?»
«Du sagst es. Und du, Liebes, wirst ab Januar dort als Gasthörerin teilnehmen dürfen. Na, was sagst du jetzt?»
Annett sagte nichts. Sie schaute nur, schaute mit riesigen Augen auf Emily, dann begann sie zu weinen. Sie stürzte in Emilys Arme, barg den Kopf an deren Brust und weinte, weinte, weinte. Und Emily hielt sie, streichelte ihr den Rücken, bis sie sich endlich wieder beruhigt hatte. Dann hob Annett den Kopf und flüsterte: «Danke!» Und Emily ließ sie los und nickte, führte sie zu einem Sofa im Salon, setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und fragte: «Was ist los? Was treibt dir dermaßen die Tränen aus den Augen?»
Annett lächelte mit noch nassem Gesicht. Sie zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist es die Freude. Sieh, ich habe nicht mehr daran geglaubt, seit ich im Cooper Institut war. Dort wurden ja auch Kurse für Frauen angeboten, aber was für Kurse! Wie man ein Haushaltsbuch führt und dann Rechnungen im Dreisatz, damit man herausfinden kann, bei welchem Händler die Milch am billigsten ist. Und jetzt das. Mein Traum, Emily. Mein Traum wird tatsächlich in Erfüllung gehen.»
«Greif nicht gleich nach den Sternen, meine Liebe. Du wirst dort studieren, wirst dir alles Wissen aneignen können, das du möchtest, aber du wirst zunächst keinen Abschluss bekommen. Noch nie hat eine Frau in Amerika einen Abschluss in Mathematik oder Ingenieurswissenschaften erhalten. Die besten bekommen vielleicht ein Lehrerinnen-Diplom, aber mehr nicht.»
«Ach, wenn ich keinen Abschluss bekomme, dann ist es eben so. Mir geht es ja auch nicht um den Abschluss, sondern um das Lernen.»
Emily stand auf, legte Annett kurz eine Hand auf die Schulter. «Dann ist das ja geklärt», sagte sie, lächelte ihr noch einmal zu und verließ den Salon, um ins Arbeitszimmer zu gehen, in dem Wash bereits auf sie wartete.
Annett aber, die im Augenblick nichts zu tun hatte, begab sich in ihr Zimmer. Sie nahm das Büttenbriefpapier aus ihrer Schublade, tunkte die Feder ins Tintenfass und schrieb:
Liebe Mama,
ich habe dir erst letzte Woche geschrieben, doch nun ist so viel passiert, dass ich es dir gleich mitteilen muss. Zuerst: Ich bin verlobt. Der Journalist, von dem ich dir geschrieben habe, hat um meine Hand angehalten. Und ich habe Ja gesagt. Der Termin für die Hochzeit steht noch nicht fest, denn ich möchte nicht vor den Altar treten, wenn ihr, Papa und du, nicht auch in der Kirche anwesend seid. Sag, Mama, würde euch der August passen? Ich weiß, dass die Fahrt über den Ozean lang und nicht ganz ungefährlich ist, aber ich kann dir schon jetzt versprechen, dass es dir in New York gefallen wird. Und eine Hochzeit ohne euch wäre für mich keine Hochzeit. Nun zur zweiten Neuigkeit …
Und sie erzählte vom Technicum, davon, dass sie dort Gasthörerin sein durfte, und erst als sie das schrieb, begriff sie es wirklich und begann zu zittern, aber aus Freude, aus purer Freude. Sie machte sich keinen einzigen Gedanken darüber, was sie mit ihrem technischen Wissen anfangen würde, sie wusste nur ganz sicher, dass sie ihre Berufung lange schon gefunden hatte, keine Sekunde zweifelte sie daran. Wenn es etwas zu zweifeln gegeben hätte, so hätte sich Annett eher ein anderes Geschlecht gewünscht als eine andere Berufung. Und die Freude und das Glück durchfluteten ihren Körper wie flüssiges Sonnenlicht, wärmten ihr jedes Glied, ließen sie lächeln und so jung sein, so voller Träume, Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte, wie es wohl nur in Amerika möglich war. Ihr Herz schlug so rasch, als wollte es ihr aus den Rippen brechen, ihre Wangen waren gerötet, die Augen glitzerten. Annett war so glücklich, dass sie meinte, fliegen zu können, dass sie meinte, alles müsse ihr gelingen. Dieses Land schien Annett tatsächlich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein. Und weil ihr die Worte so leicht aus der Feder liefen, schrieb sie auch gleich noch an Susanne, deren Brief kürzlich eingetroffen war. Meine liebe, liebe Susanne, wie freue ich mich, dass auch du jetzt ein Zuhause gefunden hast … Und sie berichtete ihr all die Neuigkeiten, die sie auch ihrer Mutter erzählt hatte. Sie versprach Susanne eine Einladung zur Hochzeit, versprach sogar, sich um Gottwithas Verbleib zu kümmern.