Fünfunddreißigstes Kapitel

Als Gottwitha an ihrem ersten Arbeitstag Vivian Taylor vorgestellt worden war, hatte sie auf der Stelle Gefallen an dieser Frau gefunden. Vivian war groß, sehr groß sogar, und sie überragte ihren Mann um einen halben Kopf. Sie hatte ein sehr schmales Gesicht, eine etwas zu lange, etwas zu spitze Nase, engstehende blaue Augen und einen wirklich schmalen Mund. Und obwohl alles an ihr knochig und spitz wirkte, strahlte sie eine Wärme aus, die ganze Säle füllen konnte.

«Wer sind Sie, meine Liebe?», hatte sie gefragt und Gottwitha mit einer Hand einen Platz angeboten.

Darauf wusste Gottwitha zunächst keine Antwort.

«Ich bin Deutsche», hatte sie schließlich gesagt.

«Oh, das sind die meisten hier. Wir hießen auch nicht immer Taylor, sondern Schneider.»

«Ich bin eine geborene Strumpf.» Gottwitha senkte den Kopf, damit Vivian Taylor ihr Erröten nicht sah.

«Seit wann sind Sie in Amerika?»

«Ich weiß es nicht genau. Ungefähr seit dem Frühjahr.»

«Wovon haben Sie geträumt, als Sie auf dem Schiff waren?»

Geträumt? Sie hatte nicht geträumt. Niemals, keinen einzigen Tag lang. Wozu auch? Sie hatte doch gewusst, was kommen würde, warum also träumen von Dingen, die sowieso unerreichbar waren?

«Na los, sagen Sie es schon. Wovon haben Sie geträumt?»

Gottwitha schluckte, erwiderte das Erste, das ihr einfiel, erwiderte das, was sie von Annett gelernt hatte: «Von der Freiheit habe ich geträumt.»

«Ach? Wie interessant.» Vivian rutschte nach vorn auf die Stuhlkante und beugte sich ein wenig zu Gottwitha hinüber. «Von der Freiheit so ganz allgemein? Oder von einer speziellen Freiheit?»

Gottwitha war nicht dumm. Sie hatte in ihrem Leben die Fähigkeit entwickelt, auf der Stelle herauszufinden, was die anderen von ihr erwarteten. Die meisten amischen Frauen beherrschten diese Fähigkeit bis zur Perfektion. Zugegeben, bei den Stoltzfußes war ihr das nicht so gelungen, wie sie es gewohnt gewesen war, aber das hatte sicher daran gelegen, dass ihr Amerika noch so fremd gewesen war. Jetzt sah sie deutlich, dass Vivian Taylor sich nicht sosehr für die Freiheit im Allgemeinen interessierte, sondern in erster Linie für die Freiheit der Frauen.

«Die Freiheit», sagte sie also, «ist das höchste Gut, das ich mir vorstellen kann. Und da Frauen über weniger Freiheiten verfügen als Männer, muss zuerst an die Frauen gedacht werden, denn Freiheit ist schließlich für alle da.» Das waren die mutigsten Worte, die Gottwitha je ausgesprochen hatte. Sie dachte noch, während sie sprach, dass das eigentlich nicht stimmen konnte, dass schon die Bibel vorgeschrieben hatte, dass der Mann das Haupt des Weibes sei, aber ihre spontanen Gedanken faszinierten sie doch. Ungefähr so wie heimliche Küsse. «Und wie, meinen Sie, kann man diese Freiheit für die Frauen erringen?»

Gottwitha seufzte, deutete mit der Hand in Richtung Korridor. «Ich weiß nicht. Ich glaube, ich sollte mich langsam an meine Arbeit machen.»

Vivian lachte auf. «Oh, natürlich. Das sollten Sie wohl. Ich hatte für einen Augenblick ganz vergessen, dass mein Mann Sie ja als Haushälterin eingestellt hat.»

Gottwitha erhob sich, froh, nicht noch mehr über Dinge nachdenken und reden zu müssen, die ihr so fremd waren wie die Taiga in Sibirien.

«Warten Sie noch einen winzigen Augenblick!» Vivian war aufgestanden. «Wenn Sie einmal ein wenig Luft haben, dann wäre es schön, wenn Sie kämen, um sich mit mir zu unterhalten.»

Gottwitha betrachtete die Kommode, auf der fingerdick der Staub lag. «Ich fürchte, in der nächsten Zeit komme ich nicht dazu.»

Vivian nickte. «Nun denn, herzlich willkommen bei uns. Ich hoffe, Sie leben sich rasch ein.» Damit war Gottwitha entlassen.

In den nächsten Wochen putzte, schrubbte, wischte, bürstete, klopfte, rieb, kehrte und kämmte sie die ganze Wohnung, bis diese endlich nicht mehr so modrig und verwohnt wirkte. Sie bürstete den Teppich mit Seifenflocken ab, bis die Farben wieder strahlten. Sie rieb die Kupferpfannen und Töpfe so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Sie putzte die Fensterscheiben, wusch die Gardinen, ölte den Fußboden, klopfte die Polstermöbel, polierte die Holzmöbel, und als sie endlich die ganze Wohnung einmal durchgesäubert hatte, ging alles wieder von vorn los. Am Abend, wenn die grobe Arbeit getan war und Gottwitha eigentlich frei gehabt hätte, blieb sie in der Küche sitzen, erstellte Einkaufslisten, brachte das Silberzeug zum Glänzen, besserte Bett- und Tischwäsche aus oder strickte. Manchmal, wenn der Hausherr nicht da war – und das war ein- oder zweimal in der Woche der Fall –, kam Vivian, setzte sich zu ihr an den Tisch, schenkte ihr ein Glas Likör ein und unterhielt sich mit ihr. Nach zwei Wochen kannte Gottwitha Vivian Taylors Lebensgeschichte, nach drei Wochen die Ehegeschichte von Paul und Vivian, die keine besonders glückliche war, und nach vier Wochen die Geschichte von Vivians persönlicher Freiheit.

Eines Abends fing Paul Gottwitha auf dem Flur ab. Sie trug gerade das schwere Geschirr auf dem Tablett zur Küche, als er aus seinem Arbeitszimmer kam und sie am Ärmel festhielt. «Gottwitha, ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen.» Und dann nahm er ihr das Tablett ab, stellte es einfach auf den Fußboden, wo jeder darüber stolpern und das gute Porzellan zerbrechen konnte, und zog sie in sein Zimmer. «Du willst gewiss nicht ewig ein Dienstmädchen bleiben, oder?», fragte er.

«Warum fragen Sie?», erwiderte Gottwitha erschrocken. «Sind Sie etwa nicht zufrieden mit mir?»

«Aber nein, wir sind zufrieden. Sehr sogar. Und deshalb möchte ich dir heute einen Vorschlag machen. Hast du schon einmal daran gedacht, ein bisschen mehr Geld zu verdienen? Du könntest damit vielleicht einen Kursus besuchen und Sekretärin werden? Oder würdest du lieber eine Familie gründen?»

Gottwitha war so froh darüber, bei den Taylors untergekommen zu sein, dass sie sich über ihre mittelbare Zukunft noch keine Gedanken gemacht hatte. Früher hatte sie immer von einer Familie geträumt. Von einem Mann und vielen Kindern. Aber dann hatte sie Samuel kennengelernt. «Eine Familie? Ich weiß nicht so recht.»

«Du bist ja auch noch sehr jung. Aber du könntest dir schon vorstellen, eine Sekretärin zu sein? Oder Verkäuferin in einem Kaufhaus?» Auch daran hatte Gottwitha noch keine Minute lang gedacht. Herrgott, sie war doch eine Amische. Sie hatte keine Ahnung, welche Möglichkeiten es für Frauen überhaupt gab. Aber sie wusste, dass ihr Dienstherr diese Antwort nicht hören wollte. Deshalb sagte sie: «Ein bisschen mehr Geld, das wäre schön.»

«Wusste ich es doch.» Paul Taylor trat auf sie zu, fasste ihr Kinn und hob ihren Kopf, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. «Du musst gar nicht viel dafür tun, meine Liebe. Mir ist nachts manchmal schrecklich kalt. Und da hätte ich gern jemanden, der mich wärmt. Vivian braucht ihren Schlaf, verstehst du?»

Und ob sie verstand! Aber Gottwitha schüttelte energisch den Kopf, hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie sprang auf und rannte in ihre Schlafkammer. Dort angekommen, lehnte sie sich atemlos an die Tür. Es dauerte, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, und es dauerte noch einmal, bis sie die Kraft fand, sich auszuziehen. Als sie das Kleid über den Kopf zog, berührte sie mit der Hand ihre Brust. Ein Schaudern lief ihr über den Rücken, ein seltsames Gefühl, aber doch so angenehm, so erregend, dass sie es wieder tat. Und dann hatte sie Kleid und Unterkleid abgestreift und stand nackt im kalten Mondlicht, das durch ihr Kammerfenster fiel. Sie sah an sich herab, betrachtete ihre vollen Brüste, den festen, flachen Bauch, die langen Beine mit den vielleicht etwas zu kräftigen Schenkeln. Das also war es, was das Begehren der Männer weckte. Langsam hob sie die Hand, strich sich behutsam über den Arm, erschauerte unter der Berührung. Ihr wurde heiß. Unerträglich heiß wurde ihr, und so öffnete sie das Fenster, blieb in der kühlen Nachtluft stehen und zitterte, als der Wind sanft über ihre heißen Glieder strich. Sie zitterte nicht vor Kälte, das wusste sie, obgleich sie noch nie auf diese Art gezittert hatte. Sie schloss die Augen, spürte noch immer den Wind, hatte den dringenden Wunsch, sich an ihn zu schmiegen. Dann glitten ihre Gedanken zu Samuel, zu den Nächten mit ihm. Und plötzlich wusste sie, warum er sie dafür gehasst hatte, ihn in der Nacht gestreichelt zu haben. Mit einem Mal wusste sie auch, was Begehren bedeutet und dass sie diesem Gefühl ebenso hilflos ausgeliefert war wie jeder andere Mensch. Was Gottwitha aber am meisten begehrte, das war die Aussicht darauf, irgendwann ein eigenständiges Leben führen zu können, für das ihr momentan die finanziellen Mittel fehlten. In dieser Nacht dachte sie lange über Pauls verwegenes Angebot nach. Zuerst war sie empört. So empört, dass sie gekündigt hätte, hätte sie gewusst, wohin sie gehen könnte. Doch dann überlegte sie. Vielleicht konnte sie tatsächlich ein bisschen Geld verdienen. Denn wer wusste schon, was das Leben noch brachte? Sie hatte diese Arbeit nur mit Mühe gefunden. Und wenn man ihrer hier eines Tages überdrüssig werden sollte, so wäre es doch wirklich gut, ein wenig Geld zu haben. Und vielleicht würde sie ja wirklich einen Kursus belegen. Frei sein. Unabhängig sein. Darauf kam es schließlich an und nicht darauf, wie man sich diese Freiheit verdient hatte. Lange dachte Gottwitha nach, und erst in den frühen Morgenstunden fielen ihr die Augen zu.

Am nächsten Tag, gleich nach dem Frühstück, klopfte sie an die Tür des Salons, in dem sich Paul aufhielt. «Wie viel?», fragte sie. «Wie viel ist es Ihnen wert, dass ich Sie in der Nacht wärme?»

Paul tupfte sich mit einem Mundtuch die Lippen ab. «Zwanzig Dollar im Monat», sagte er, als hätte er nicht darüber nachzudenken brauchen.

«Für dreißig Dollar mache ich es.» Sie hatte lange überlegt, wie viel Geld sie verlangen konnte. Die Sünde, die sie damit auf sich lud, würde sie tragen können. Schließlich hatte sie schon die Schuld aus jener Nacht auf dem Schiff auf sich geladen, und außerdem hatte sie sich an ihrem Ehemann versündigt, indem sie ihn zuerst aufgeweicht und dann verlassen hatte.

«Gut», erwiderte Paul, erhob sich, holte eine Geldbörse aus seiner Hosentasche und zählte dreißig Dollar ab. «Bitte.»

Gottwitha trat näher, betrachtete das Geld in Pauls Hand und wartete darauf, dass sich ihr amisches Gewissen meldete. Aber das geschah nicht, und Gottwitha hatte auch keine Angst mehr vor dem Begehren. Und was mit Gott war, darüber würde sie bei Gelegenheit nachdenken. Eines hatte sie jetzt schon gelernt, nämlich dass Gott und Freiheit unauflösbare Widersprüche waren.