Siebenunddreißigstes Kapitel

«Ich möchte, dass du mit mir für eine Woche nach Albany kommst.» Vivian ließ keinen Zweifel daran, dass dies mehr ein Befehl als eine Bitte war. «Und wer kümmert sich in dieser Zeit um den Haushalt und um Mister Taylor?», fragte Gottwitha.

«Nun, im Haushalt wird nicht viel Arbeit anfallen. Die Köchin wird sich darum kümmern. Und mein Mann wird zum Essen in seinen Club gehen. Also mache dir keine Sorgen. Wie lange brauchst du, um deine Sachen zu packen?»

Weniger als eine Minute, dachte Gottwitha, denn seit sie aus dem Dorf hierher nach Philadelphia gekommen war, hatte sie zwei abgelegte Kleider von Vivian bekommen, sich selbst ein bisschen Unterwäsche und Strümpfe gekauft und ansonsten nichts gebraucht.

«Ich werde gleich anfangen», versprach sie. «Aber erst, wenn ich Ihre Sachen gepackt habe.»

Vivian schüttelte den Kopf. «Das kann ich selbst. Sag du mir nur, was du noch brauchst.»

 

Der Zug wurde von einer Dampflokomotive gezogen. Grauer Rauch zog an den Waggons entlang, es roch nach Ruß. Gottwitha war noch nie mit der Eisenbahn gefahren und sah aus dem Fenster, an dem die Landschaft in rasender Geschwindigkeit vorüberstrich. Sie konnte immer nur ein paar Augenblicke nach draußen schauen, dann wurde ihr übel, und sie machte sich Sorgen darum, ob ein Mensch für eine solche Geschwindigkeit überhaupt geschaffen war. Sie hatte gehört, was die Amischen über Lokomotiven sagten, nämlich dass sie vom Teufel kämen und man das schon an dem stinkenden Rauch sehen und riechen könne und dass die Seele mit diesem abartigen Tempo nicht mithalten konnte. Zwanzig Meilen in einer Stunde! Man hatte schon von Menschen gehört, deren Herzen einfach stehenblieben mitten in diesem Geschwindigkeitsrausch. Gottwitha saß im Abteil, hielt ihren Reisesack, geborgt von der Köchin, auf dem Schoß und wagte kaum, sich zu bewegen, während Vivian am Bahnhof noch einige Zeitungen gekauft hatte und jetzt darin las, als säße sie zu Hause in ihrem Sessel.

Endlich, sie waren schon eine ganze Stunde unterwegs, und Gottwitha gewöhnte sich langsam an das Ruckeln und Zuckeln, fragte sie: «Was werden wir in Albany tun?»

Vivian ließ die Zeitung sinken. «Habe ich dir das nicht gesagt?»

Gottwitha schüttelte den Kopf und dachte nur daran, was Mister Taylor ihr heute Morgen, als sie sich von ihm verabschiedete, ins Ohr geflüstert hatte: «Hüte dich vor dem, was meine Frau so von sich gibt. Sie ist nicht ganz normal, weißt du. Der Arzt sagt, sie wäre eine Hysterikerin. Weiß der Himmel, was sie in Albany alles anstellen wird.»

Und Gottwitha hatte geschwiegen und nur ein wenig gelächelt, aber eher aus Hilflosigkeit.

Auf dem Weg zum Bahnhof hatte sie dann daran gedacht, dass es sicher weit weniger schlimm war, eine Hysterikerin zu sein als eine Hure, die sich ihrem Arbeitgeber hingibt. Und dass es weit weniger schlimm war, um seiner selbst willen gemocht zu werden als dafür, dass man nachts einem fremden Mann das Bett wärmt. Und nicht nur das Bett. In den ersten Tagen hatten die Gewissensbisse ob dieser großen Sünde wie Pflastersteine auf Gottwithas Schultern gelegen. Kaum hatte sie ihren Anblick im Spiegel ertragen können. Aber dann hatte sie an das viele Geld gedacht und daran, wie unabhängig sie das eines Tages machen würde. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt und betrachtete die abendlichen Besuche von Paul als ganz gewöhnlichen Teil ihrer Arbeit. Ein bisschen anstrengender als Staub wischen, aber weitaus weniger anstrengend, als die Wäsche mit dem Waschbrett zu schrubben. Und war sie nicht ohnehin eine Verdammte? Gott hatte sich bestimmt schon lange von ihr abgewandt. Was machte da eine Sünde mehr oder weniger schon aus?

«Wir besuchen eine Freundin von mir», sagte Vivian nun. «Ich bin sicher, du wirst sie mögen. Meine Freundin ist sehr klug, weißt du. Sie hat unglaublich viele Bücher gelesen, sie spricht mehrere Sprachen und hat besonderen Geschmack an der Philosophie gefunden. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.»

Warum sollte Gottwitha sich mit der Freundin ihrer Herrin verstehen? Wäre es nicht wichtiger, dass sie sich mit deren Haushälterin verstand? Vivian schien das anders zu sehen, und Gottwitha wusste nicht, warum. Ebenso wenig, wie sie wusste, was Philosophie war. Aber sie mochte nicht fragen, mochte so wenig wie möglich wissen über das, was geschehen war, geschah und geschehen würde. Und Vivian hatte sich wieder hinter ihrer Zeitung verkrochen und las, während Gottwitha die Henkel ihres Gepäcks noch fester umkrallte und weiter aus dem Fenster blickte, bis der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, kreischend bremste und ruckelnd und zuckelnd zum Stehen kam. Dann standen sie auf dem Bahnsteig, der Zug stieß einen gellenden Pfiff aus und setzte sich wieder in Bewegung. Gottwitha sah sich um. Plötzlich hörte sie lautes Rufen. «Vivian! Meine liebe, liebe Vivian!» Eine Frau, die einen wagenradgroßen Hut trug und ihr Kleid mit der rechten Hand gerafft hielt, kam ganz und gar undamenhaft über den Bahnsteig auf Vivian zugerannt. Sie umarmte sie, drückte sie an sich, bedeckte ihre Wangen mit Küssen. «Ach, wie ich mich freue, dich zu sehen, meine Liebe», sagte sie ein ums andere Mal. Schließlich wandte sie sich an Gottwitha, die artig knickste, doch die fremde Frau reichte ihr die Hand. «Ich freue mich, dich kennenzulernen», sagte sie. «Mein Name ist Sybil, und du bist in meinem Hause herzlich willkommen.»

Gottwitha schüttelte den Kopf. Nicht nur, dass es einer Frau ganz sicher nicht zustand, jemanden im Hause ihres Mannes vor diesem willkommen zu heißen, auch verwechselte die Dame sie ganz bestimmt und hielt sie für eine Freundin von Vivian.

«Verzeihung», stammelte Gottwitha deshalb und wurde über und über rot. «Ich bin die Haushälterin und werde Mrs. Taylor auf Reisen auch als Zofe dienen.»

Sybil starrte sie an, als hätte sie etwas ganz und gar Ungehöriges gesagt, dann brach sie in ein gewaltiges unfeines Gelächter aus, das Gottwitha noch tiefer erröten ließ. «Aber das weiß ich doch», japste Sybil schließlich. «Trotz allem steht aber fest, dass du ebenso eine Frau bist wie Vivian und ich, nicht wahr? Und wir Frauen müssen zusammenhalten, wenn wir etwas bewirken wollen.»

Während der Kutschenfahrt zu Sybils Wohnung musterte Gottwitha die Frau unauffällig. Sie war eigentlich nicht schön, aber sie tat, als wäre sie die schönste Frau der Welt. Sie spitzte die Lippen beim Sprechen, riss die Augen auf, gestikulierte mit den Händen und lachte dabei immer wieder, sodass ihre weißen Zähne leuchteten. Und noch ehe die Kutsche vor dem Haus gehalten hatte, war Gottwitha davon überzeugt, die schönste und klügste Frau der ganzen Welt vor sich zu haben. Und als sie ankamen, in einem prächtigen Haus, in dem es Blumen in Hülle und Fülle gab und alles äußerst verschwenderisch eingerichtet war, glaubte Gottwitha, dies müsse das Paradies sein. Dann aber fielen ihr die amischen Regeln ein, und schon glaubte sie sich im Vorhof der Hölle. Jemand, der so ausschweifend lebte, der konnte keiner von Gottes Gerechten sein. Und dann blickte Gottwitha wieder auf die äußerst lebendige Sybil, und zum ersten Mal in ihrem Leben dachte sie: Woher soll ich wissen, dass es im Himmel wirklich himmlisch sein wird? Manche sagen, die Erde wäre die eigentliche Hölle. Aber was, wenn sie der eigentliche Himmel ist?

«Geht es dir gut, meine Liebe?» Sybil berührte Gottwitha leicht am Oberarm und setzte hinzu: «Dort hinten ist dein Zimmer. Das letzte im Gang. Vivian wohnt gleich daneben.» Und Gottwitha trug ihr kleines Bündel in das ihr zugewiesene Zimmer und wollte anschließend Vivians Gepäck holen, doch das hatte die Herrin zu Gottwithas grenzenloser Überraschung schon selbst getan. Also hockte sich Gottwitha auf ihr Bett, schaute aus dem Fenster und wusste absolut nicht, was sie tun sollte. Nach einer Weile erhob sie sich und suchte die Küche, die sie schließlich im Erdgeschoss des Hauses fand. Darin wirkte eine dicke schwarze Köchin, und zwei magere schwarze Mädchen saßen am Küchentisch und putzten Gemüse. Ein großer schwarzer Mann mit einer Narbe, die sich durch das halbe Gesicht zog, schichtete neben dem Herd einen Stapel Holz auf. Als die dicke Köchin Gottwitha bemerkte, ließ sie den Kochlöffel sinken. «Ma’am?», fragte sie. «Kann ich etwas für Sie tun?»

Gottwitha schluckte. «Nein, im Gegenteil. Ich bin gekommen, um zu fragen, ob Sie meine Hilfe brauchen könnten.»

Die beiden Mädchen starrten Gottwitha mit riesigen Augen an. Der schwarze Mann hielt in seiner Arbeit inne und begaffte Gottwitha ebenso fassungslos wie die beiden jungen Mädchen. Nur die Köchin lächelte ein wenig. «Nein, Ma’am. Wir brauchen Sie natürlich nicht. Aber wenn Sie einen Wunsch haben, sind wir gern für Sie da.»

Gottwitha schüttelte den Kopf. «Sie verstehen nicht. Ich bin auch ein Dienstmädchen. Genau wie Sie. Es ist meine Aufgabe, Ihnen zur Hand zu gehen.»

Jetzt schüttelte die dicke Köchin ihrerseits den Kopf, und die beiden Mädchen begannen leise zu kichern, während der große Schwarze Gottwitha anstarrte, als hätte sie nicht alle Becher auf dem Bord. «Zwischen uns gibt es einen gewaltigen Unterschied, Ma’am. Sie sind weiß, und wir sind schwarz. Hier in Albany ist es nicht wie in New York oder Philli. Hier gibt es zwar offiziell keine Sklaverei mehr, aber noch immer arbeiten wir als Dienstboten.» Sie machte eine kleine Pause, schwang den Löffel und fügte hinzu: «Und ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir sehr gern im Hause von Ma’am Sybil arbeiten. Wir sind froh darüber, nicht wahr?» Sie stieß die beiden Mädchen mit dem Löffel an. «Jawohl, Ma’am. Das sind wir. Froh sind wir. Ja.» Gottwitha fühlte sich so überflüssig in dieser Küche, dass sie dankend nickte, lächelte und sich dann ein wenig beschämt zurückzog. Warum hatte Vivian sie mitgenommen nach Albany, wenn sie sie doch nicht brauchte? Gottwitha kehrte auf ihr Zimmer zurück, setzte sich auf das Bett, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet, und wartete. Es machte ihr nichts aus zu warten. Ja, ihr schien, als habe sie den Großteil ihres Lebens mit Warten verbracht. Warten worauf? Dass etwas geschah. Was? Ganz gleich. Zumeist eine neue Demütigung oder eine Beschimpfung oder eine neue Arbeit. Aber hier kümmerte sich niemand um sie. Als sie eine Stunde gesessen hatte, ohne dass sich etwas tat, begab sie sich auf die Suche nach Vivian. Sie fand sie in ihrem Zimmer, lang auf dem Bett ausgestreckt und in einem dünnen Buch lesend.

«Was ist los?»

«Ich habe nichts zu tun.» Gottwitha schoss bei diesem Geständnis erneut die Röte ins Gesicht. Wenn sie eines gelernt hatte, dann das: Jede Minute, die mit Nichtstun vergeudet wurde, war dem Herrgott persönlich gestohlen und war durch nichts und aber nichts zurückzubringen.

Vivian schüttelte genervt den Kopf. «Du kannst dich ausruhen. Geh ein wenig spazieren. Lies etwas, wenn du Lust dazu hast.»

Diese Sätze, so schnell und unbekümmert dahingesprochen, trafen Gottwitha ins Herz. Mehr, als es eine Pistolenkugel vermocht hätte. Sie senkte den Kopf und begann lautlos zu weinen. Man brauchte sie also nicht mehr. Hatte Vivian sie deshalb mit nach Albany genommen? Um ihr zu zeigen, wie überflüssig sie war? Ach, nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. So war Vivian nicht. Also war es wahrscheinlich nur Freundlichkeit. Und als Gottwitha sich dessen sicher war, flossen ihr die Tränen nur umso mehr.

Verblüfft erhob sich Vivian. «Aber was ist denn mit dir?», wollte sie wissen. «Warum in aller Welt weinst du?»

Doch Gottwitha wusste keine Antwort und weinte nur noch lauter. Vivian zog sie neben sich auf das Bett und legte den Arm um Gottwithas Schulter. «Meine Güte, so beruhige dich doch. Ich bitte dich.» Nichts half. Gottwitha weinte. Sie weinte, als wollten mit einem Schlag alle Tränen ihres gesamten Lebens aus ihr hinaus. Und Vivian blieb nichts zu tun, als ihr hin und wieder ein frisches Taschentuch zu reichen. Es dauerte lange, ehe Gottwitha endlich wieder Worte fand: «Ich meine … ich … es ist das erste Mal … das erste Mal, dass mir jemand sagt, ich könnte tun, was immer ich wollte.» Und kaum waren diese Worte ausgesprochen, da musste sie wieder bitterlich weinen, und ihre Schultern bebten, die Nasenflügel zitterten, die Brüste hoben und senkten sich. Vivian versuchte nun gar nicht mehr, Gottwitha zu beruhigen, sondern wartete einfach, und dabei lächelte sie. Und Gottwitha hätte nicht sagen können, ob aus Mitgefühl oder weil sie sich über ihren Gefühlsausbruch amüsierte.

Es dauerte noch eine Viertelstunde und einen kleinen Brandy, bis Gottwitha das Taschentuch wegsteckte. Sie saß mittlerweile in Sybils Salon, den beiden Herrinnen gegenüber, die sie anschauten wie Lehrerinnen die Lieblingsschülerin. Irgendwie erwartungsvoll, ohne dass Gottwitha diesmal hätte sagen können, was genau von ihr erwartet wurde.

Schließlich sprach Sybil: «Oh, meine Liebe, wir wollten dich selbstverständlich nicht erschrecken. Ganz und gar nicht.» Sie wechselte einen beredten Blick mit Vivian und wusste offensichtlich nicht, wie sie weitersprechen sollte.

Da übernahm Vivian das Wort: «Du weinst, weil du endlich einmal das tun darfst, was du möchtest. Ein Mann hätte an deiner Stelle nicht geweint, denn er ist es ja gewohnt, die Dinge zu tun, die er möchte. Findest du nicht auch, dass es Zeit ist, für Frauen dasselbe Recht zu verlangen?»

«Wie?», fragte Gottwitha verblüfft. Sie hatte kein einziges Wort verstanden. «Was für ein Recht?»

Jetzt richtete sich Sybil kerzengerade auf und fragte zunächst, ob Gottwitha noch etwas zu trinken wünsche, und Gottwitha verneinte, denn wenn sie ja gesagt hätte, dann hätte ihr Sybil die Tasse vollgegossen, und das war etwas, das sie überhaupt nicht aushalten konnte, denn noch immer war sie ja das Dienstmädchen und nicht andersherum.

«Sieh, Gottwitha», begann Sybil. «Frauen haben in beinahe allen Dingen weniger Rechte als Männer. Das ist in Deutschland so, und in Amerika ist es ebenso. Dabei wissen wir doch, dass die Menschen alle gleich sind. Egal, was für ein Geschlecht sie haben, was für eine Hautfarbe und was für eine Religion. In Amerika dürfen Frauen nicht studieren, obgleich sie in vielen Dingen ebenso klug sind wie Männer, sie dürfen nicht wählen, aber sie müssen den Anordnungen gehorchen, sie müssen den ganzen Tag in der Küche schuften, aber ein eigener Beruf, mit dem sie Geld verdienen können, ist ihnen weitestgehend verschlossen, den Ehemännern sind sie zum Gehorsam verpflichtet, ja, der Ehemann darf sein Weib sogar züchtigen.»

Gottwitha hob die Schultern. Das wusste sie alles seit langem, eigentlich schon immer. Neu war daran nichts, gar nichts. Nur vielleicht, dass die Amischen ihre Frauen meist nicht schlugen. Nur, wenn es ganz und gar unumgänglich war. Aber so, wie es war, hatte Gott doch die Welt eingeteilt. Oder nicht? Der Mann sei das Haupt der Frau, so wie der Bischof das Haupt der Gemeinde sei. So hieß es, und so ähnlich stand es in der Heiligen Schrift. Darauf hätte sie jeden Eid schwören können. Aber noch immer schauten Vivian und Sybil, als erwarteten sie etwas Besonderes von Gottwitha. Also nickte sie.

«Du hast also begriffen, dass alle Menschen gleich sind?» Sybil betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.

«Wenn Sie das sagen, Ma’am.»

«Nenn mich Sybil. Und jetzt sage uns doch: Stimmst du uns zu?»

Gottwitha sah auf, suchte Vivians Blick, der noch immer überaus erwartungsvoll an ihr hing. «Das kann ich nicht», erwiderte Gottwitha leise und blickte dabei auf ihre Hände. Sie hörte Vivian stöhnen und Sybil sagen: «Sieh mich an, mein liebes Kind. Du bist noch jung, und wer immer dir den Unfug, den du im Hirn hast, eingetrichtert hat, der gehört an den Beinen aufgehängt.» In Wirklichkeit hatte Sybil etwas anderes als «Beine» gesagt, aber Gottwithas Ohren weigerten sich, diesen Ausdruck zu hören. «Denkst du wirklich, du bist weniger wert als ein Mann?»

Was sollte Gottwitha erwidern? Sie dachte das nicht nur, sie wusste es. Nicht zuletzt Samuel hatte es ihr bewiesen. Doch plötzlich erinnerte sie sich an Annett, die ihr auf dem Schiff von dem Wunsch erzählt hatte, eines Tages Mathematik zu studieren. Annett war klug, das hatte sie gleich gemerkt. Klüger sogar als die meisten Männer, die Gottwitha kannte. Ach was, als alle Männer, die sie kannte. Auch Susanne war kein dummes Schäfchen gewesen. Am Anfang vielleicht, als das Scheusal von ihrem Mann noch lebte und sie den ganzen Tag drangsaliert hatte, aber dann, nach seinem Tod, da war sie richtig aufgeblüht. Und wenn Annett ihnen ein paar englische Vokabeln beigebracht hatte, dann war es Susanne gewesen, die sie sich sofort merken konnte. Aber sie?

Was kann ich schon?, fragte sich Gottwitha. Und als hätte Vivian ihre Gedanken gelesen, antwortete sie: «Du bist allein nach Amerika gekommen, hast dich allein nach Philadelphia durchgeschlagen. Du sorgst für dich selbst. Das ist mehr, als die meisten anderen Frauen schaffen.» Und plötzlich wusste Gottwitha, was Vivian und Sybil meinten.