Drittes Kapitel

Nach genau achtundsiebzig Tagen erschallte der Ruf «Land in Sicht». Alles, was laufen konnte, begab sich auf das Oberdeck. Die Luft war mild und roch nach Land. Möwen kreisten schreiend über dem Schiff, und Menschen, eben noch dumpf in ihrer dunklen Behausung hockend, halb wahnsinnig von der Langeweile und dem engen Raum, lachten, schwenkten die Hüte und riefen durcheinander: «Amerika! Amerika!» Einige, die soeben noch im erbitterten Streit mit ihren Nachbarn lagen, fielen sich in die Arme, weinten vor Glück. Andere standen stumm und konnten den Blick nicht von der Küste wenden. Ein kleiner Junge, der, halb zwischen den Röcken seiner Mutter versteckt, auf den fernen Küstenstreifen schaute, fragte laut: «Wieso ist Amerika nicht golden?» Und die Erwachsenen lachten, und einer beugte sich zu dem Knaben und versicherte ihm: «Amerika ist ein goldenes Land. Man sieht es nicht immer gleich auf den ersten Blick. Aber du kannst mir glauben: Jetzt beginnt für uns alle das Glück.»

Annett, Gottwitha und Susanne standen Arm in Arm. «Ist es so?», fragte Susanne. «Beginnt jetzt wirklich das Glück?» Sie war verändert seit jener Nacht, in der ihr Mann in die Fluten gestürzt war. Sie hatte die ungeliebte Bettstatt neben dem Wasserfass verlassen und war zu Annett und Gottwitha gezogen. Einer hatte sie nach ihrem Mann gefragt, und sie hatte den Kopf gesenkt und erwidert: «Ich weiß nicht, wo er ist. Vielleicht hat er mich verlassen.» Und der Würfelkumpan wich zurück und floh aus Angst, dass er die arme schwangere Frau trösten müsste. Danach fragte niemand mehr. Erst als sich die Überfahrt dem Ende zuneigte, bemerkte Susanne, dass sein Gepäck verschwunden war. Aber es interessierte sie nicht. Sie wollte seine Habseligkeiten nicht. Alles, was sie wollte, war, dieses Scheusal so schnell wie möglich zu vergessen.

«Das Glück?», fragte Annett zurück. «Ich weiß nicht, ob wir das Glück finden. Aber eines weiß ich sicher: Wir finden die Freiheit.»

Und Gottwitha erschauerte, als habe sie Angst vor der Freiheit, doch Susanne lächelte still. Sie legte eine Hand auf ihren Leib, der immer dicker wurde, und sprach zu ihrem Kind: «Du wirst in Freiheit geboren. Und ich verspreche dir, dass du immer in Freiheit leben wirst. Ja, das verspreche ich dir.»

Das Dampfschiff näherte sich der Küste, von deren Anblick sich die Passagiere einfach nicht lösen konnten. Einige wenige waren zurück unter das Deck gelaufen, um ihr Hab und Gut zu sammeln und vielleicht das eine oder andere herrenlose Stück zu stehlen. Aber die meisten waren geblieben. Es herrschte eine fieberhafte, berauschende Atmosphäre auf dem Deck. Spannungsgeladen. Verheißungsvoll.

«Was werdet ihr als Erstes tun, wenn wir in New York sind?», fragte Annett.

Gottwitha hob die Schultern, wusste nicht, ob sie froh oder traurig sein würde. «Mein Bräutigam holt mich ab. Wir werden nach Pennsylvania gehen. Dort leben die Amischen.»

«Freust du dich?», wollte Annett wissen.

«Ich weiß es nicht. Alles fühlt sich so anders an, seit das Schiff in Bremen abgelegt hat.» Sie lachte kurz auf. «Manchmal denke ich, ich bin auf der Fahrt nach Amerika eine andere geworden. Und diese andere, die macht mir Angst.»

«Angst?»

«Ja. Angst. Oder so etwas Ähnliches. Ich weiß nicht. Es ist ein neues Gefühl, und ich habe keine Ahnung, ob ich es mag oder nicht.»

Spontan umarmte sie Annett, danach Susanne. «Ich werde euch vermissen», sagte sie. «Ganz schrecklich werde ich euch vermissen.»

«Und du?», wandte Annett sich an Susanne, «was wirst du tun?» Susanne stand lächelnd, die Hand auf dem Bauch, und erklärte: «Ich habe keine Ahnung. Nicht die geringste. Ich bin erleichtert, aber auch ängstlich. Wie soll ich mich versorgen ohne Mann? Und das Kind, wenn es erst da ist? Ich kann nur hoffen, dass jemand eine Arbeit für mich hat. Wenigstens kann ich backen. Der Rest wird sich schon finden.»

Annett holte eine kleine, bestickte Börse aus ihrer Tasche und drückte sie Susanne in die Hand. «Da. Das ist für den Anfang. Es ist nicht viel, nur zwanzig Dollar, aber vielleicht hilft es. Du wirst damit nicht weit kommen, aber du hast wenigstens etwas für die ersten Tage.»

«Das kann ich nicht annehmen. Wie sollte ich dir das Geld je zurückzahlen?» Susanne lachte auf. «Wir werden uns niemals wiedersehen, vermute ich.»

«Doch!», beteuerte Annett. «Ich bin sicher, dass wir uns erneut begegnen werden. Und bis dahin werden wir uns schreiben.»

«Wie denn? Wir wissen doch gar nicht, wo wir hinkommen werden.»

«Ich schon», erklärte Annett. «Ich werde bei den Roeblings wohnen, den Brückenbauern. Sie leben in einem Haus in den Brooklyn Heights, in der Columbia Street.» Sie holte zwei Zettel hervor, die sie in der Nacht vorbereitet hatte. «Hier ist meine Adresse. Schreibt einfach immer an mich, dann kann ich die Post auch an die jeweils andere weiterleiten.»

Das Schiff nahm langsam Kurs auf den Batterfield Park, die südliche Spitze Manhattans, die an den Finanzdistrikt grenzte. Schaluppen und Schoner, beladen mit Kohle, Kalk und Kies, glitten vorüber, Marktboote voll frischer Salatköpfe, Lastkähne mit brüllenden Rindern, Fischfangkutter, Fähren, Barkassen und hin und wieder sogar Seitenraddampfer kreuzten den Weg der «Vineta».

Noch einmal umarmten sich die drei Frauen. Sie lachten und weinten, sie drückten sich und wollten sich gar nicht voneinander lösen. Doch dann kam das Signal, sich um das Gepäck zu kümmern, und sie ließen sich los, suchten sich im Strom der Menge jedoch mit den Augen, lächelten sich zu und fühlten sich einander so nah, als wären sie Schwestern. Ist es nicht auch so?, dachte Annett. Sind wir nicht wirklich Schwestern? Wir teilen ein Geheimnis. Das verbindet. Auch, wenn wir nie mehr darüber gesprochen haben, was in jener Nacht passiert ist.

Alle drei suchten nach ihrem Gepäck und fanden es. Sie stellten ihre Bündel nebeneinander und verglichen den Inhalt.

Annetts Koffer war der größte. Sie hatte darin: 1 gefütterten Seidenmantel, 1 gefütterten Wollmantel, 1 Seidenkleid, 1 Kleid aus hellem Musselin, 2 Umschlagtücher, 8 Unterröcke aus Batist, 6 Paar Handschuhe, drei davon aus wildem Leder, 2 Paar Schuhe aus Atlas, 6 Paar Lederpumps, 2 Paar weiche Stiefel, davon eines gefüttert, 12 Paar feine Strümpfe, 4 Paar Wollstrümpfe, 1 Fächer, 4 Rüschenkragen, 2 Pelzkragen, 5 Schärpen, zum Teil gestickt, 6 Schlüpfer aus Leinen, 6 Schlüpfer aus Batist, 3 Schlüpfer aus Seide, 6 Nachthemden aus Batist, 12 Unterhemden, 1 silbernen Spiegel und ein Dutzend Kleider für den Alltag. Dazu kam eine Kiste mit Büchern, die sich allesamt um Mathematik und Ingenieurwesen drehten, dazu ein ledernes Federmäppchen mit Zirkel, Winkelmesser und Fadenzähler sowie mit etlichen Bleistiften und mehreren silbernen Federn.

In Susannes Reisekiste befanden sich: 2 Baumwollunterröcke, 1 gesteppter Unterrock, 2 Kleider, eines davon für den Alltag, eines für den Sonntag, 4 Hauben, 4 Paar Strümpfe aus grober grauer Wolle, 3 Leinenschürzen, 2 Nachthemden, 1 Paar derbe Lederschuhe, 1 Wollschal und 1 Leinendecke.

Gottwitha reiste beinahe ohne Gepäck. In ihrem Kistchen befanden sich nur 1 Kleid aus blauem Tuch, 2 Schürzen, 2 Unterröcke und 1 Bibel.

So vertieft waren die Frauen in ihr Gespräch, dass sie nicht bemerkten, dass sie beobachtet wurden. Beobachtet von einem Mann, der sie so lange und intensiv anstarrte, als wolle er sich jede Kleinigkeit einprägen: zuerst Susannes hochgewachsene Gestalt mit den langen, zu einem Flechtzopf gebundenen Haaren. Ihr schmales Gesicht mit den blauen Augen, die ebenfalls schmale Nase und den Mund, der aufblühte, wenn er lächelte und sichelschmal vor Angst werden konnte. Sie trug ein verschossenes dunkelrotes Kleid, das am Saum ein wenig ausgefranst war. Darüber ein Umschlagtuch aus brauner, filziger Wolle und eine Haube, deren Farbe so verwaschen war, dass man sie nicht mehr erkennen konnte. Daneben Gottwitha in ihrer mausgrauen Tracht, die rötlichen Haare unter der Haube verborgen, die Nase von Sommersprossen übersät, die Hände in banger Erwartung vor dem Bauch gefaltet. Schließlich Annett in ihrem leichten Mantel, dem seidenen Schal um den Hals neben ihren Koffern aus Leder. Der Mann beobachtete, wie die Frauen nebeneinander die Gangway herunter vom Schiff und hin zur Einwanderungsstelle in Batterfield Park liefen. Dann schlug er den Mantel seines Kragens hoch und verschwand ebenfalls im Getümmel der ausgestiegenen Passagiere.

Annett, Gottwitha und Susanne standen hintereinander vor dem Tisch des Mannes von der Einwanderungsbehörde, der ihre Namen mit der Passagierliste abglich. Und als Susanne nach ihrem Mann gefragt wurde, da sagte sie, dass er auf dem Schiff verstorben wäre, und die anderen beiden Frauen nickten bestätigend und tätschelten der Witwe den Arm. Und der Mann von der Behörde fragte, ob der Kapitän einen Totenschein ausgestellt hatte. «Einen Totenschein?» Dann erinnerte sie sich vage daran, dass Annett ihr einen solchen Schein besorgt hatte. Und sie hatte ihn einfach irgendwo hingesteckt. Aber wohin? Sie durchwühlte ihre Taschen, und tatsächlich fand sie inmitten der anderen Papiere den Totenschein und zeigte ihn vor.

«Na, dann ist ja alles in Ordnung», meinte der Mann in der Uniform und stempelte ihr Einreisedokument ab. Er winkte Susanne mit der Hand weiter und wendete sich Gottwitha zu und hernach Annett.

Dann trennten die drei Frauen sich, wurden getrennt von ihren Wünschen und Träumen und gingen ihrem Schicksal entgegen, aber nicht, ohne sich noch einmal in den Arm genommen und geküsst zu haben.

Drei Frauen, drei Schicksale, die sich hier in Amerika entfalten sollten.