Neununddreißigstes Kapitel

Das Leben war schön, so traumhaft schön und aufregend und lehrreich und bunt und charmant und ach …, das Leben war einfach nur wunderwunderschön. Mit diesen Gedanken wachte Annett jeden Morgen wieder auf. Seit vier Wochen war sie nun schon am Technicum, und ihre Begeisterung kannte keine Grenzen. Sie war stets die Erste im Hörsaal, setzte sich ganz hinten in die letzte Bank, legte weißes Papier, Pergamentpapier, Zirkel, Graphitstifte in verschiedenen Stärken, Lineal und Zeichendreieck vor sich hin und sah ihren Mitschülern beim Betreten des Hörsaales zu. Da gab es die Lärmenden, die sich über die unglaublichen Besäufnisse der letzten Nacht ausließen und dabei noch schnell ihre frischgestärkten Kragen ans Hemd knöpften. Da gab es die anderen, die Streber, die mit blitzenden Monokeln und Ärmelschonern brav wie Buchhalter in der ersten Reihe saßen, und dann gab es noch die, die so waren wie Annett und mit glühenden Wangen und rasch schlagenden Herzen darauf warteten, dass die Vorlesung endlich begann. Und dann schrieb Annett jedes Wort mit, welches der Professor sprach, zeichnete jedes Bild ab, das er mit Kreide an eine große Tafel malte. Ihre Zungenspitze tanzte dabei ein ganz kleines bisschen zwischen ihren Lippen, und sie war so eifrig bei der Sache, dass sie die verstohlenen Blicke der männlichen Mitstreiter überhaupt nicht wahrnahm. In den Pausen hielt sie sich abseits, aß einen mitgebrachten Apfel, blätterte in ihren Unterlagen oder las gar in einem der Bücher, die sie nun endlich aus dem Bookstore abgeholt hatte. Und wenn am frühen Nachmittag der Unterricht aus war, war sie beinahe ein wenig traurig. Zu Hause stürzte sie sich mit Feuereifer auf die Aufgaben, ließ sich von Washington oder Emily noch einmal genau erklären, was sie nicht hundertprozentig verstanden hatte. Eines Abends – sie war gerade erst ein paarmal im Technicum gewesen – kam Besuch zu den Roeblings. Mister Thunderbatch war Architekt, seine Frau eine mütterliche, liebreizende Person, die mit gleichbleibender Fröhlichkeit ihre sechs Kinder aufzog. Annett saß während des Essens neben Mister Thunderbatch, der sie zuerst mit Gesellschaftsklatsch unterhalten wollte, doch als er Annett etwas näher kennengelernt hatte, sofort auf seinen Beruf zu sprechen kam. Und als Annett ihm vom Technicum erzählte und Washington ihre Kenntnisse über Brückenbau und Ingenieurswesen bestätigte, die für eine Frau wahrlich sensationell waren, da fackelte Mister Thunderbatch nicht lange und fragte: «Wissen Sie schon, was Sie nach dem Technicum tun werden?»

«Sie wird heiraten und Kinder bekommen», antwortete Miss Thunderbatch für Annett. «Nicht wahr, meine Liebe?»

Annett aber lächelte. «Natürlich möchte ich einmal eine Familie haben. Aber es wäre sicher auch sehr schön, sich weiter mit den technischen Dingen zu befassen.»

Sie sah erst Emily, dann Washington an, bevor sie weitersprach: «Eine Ehe, wie die Roeblings sie führen, das wäre allerdings mein größter Traum.»

Emily lächelte geschmeichelt, doch Mister Thunderbatch sagte: «Ich habe schon vor einiger Zeit von Ihrem beachtlichen Talent gehört. Eine technische Zeichnerin könnte ich in meinem Büro sehr gut gebrauchen. Überlegen Sie es sich. Nach Ihren Studien können Sie sofort bei mir anfangen. Wir denken derzeit nämlich über den Bau eines Hochhauses nach, eines Wolkenkratzers. Dabei könnten Sie uns behilflich sein.»

Annett war verblüfft. Natürlich hatte sie schon von Wolkenkratzern gehört. Riesige Gebäude, die so genannt wurden, weil sie mit ihrer Höhe praktisch an den Wolken kratzen konnten. Derzeit sprach man am Technicum immer wieder von der Idee, ein Hochhaus in New York zu bauen, und Annett wusste, dass sich einige Architekturbüros bereits mit der Planung eines Entwurfs befassten.

«Das wäre wunderbar. Damit würde ein Traum für mich in Erfüllung gehen», brach es aus ihr heraus.

«Du schaust aus, als wolltest du auf der Stelle mit der Arbeit beginnen», meinte Wash. «Vergiss aber nicht, dass wir dich hier bei uns noch dringend brauchen.» Er lachte, doch Annett wurde rot vor Scham und wand sich verlegen auf ihrem Stuhl. «Oh, so habe ich das nicht gemeint. Ich werde natürlich hierbleiben, bis der letzte Hammerschlag an der Brücke getan ist.»

Emily, die neben ihr saß, legte ihr eine Hand auf den Unterarm. «Du kannst bei uns bleiben, solange du willst, das weißt du. Aber du bist zu nichts verpflichtet. Du machst deine Arbeit hervorragend. Seit wir dich haben, sind die Pläne und Berechnungen fehlerfrei. Und du warst es ja auch, die bemerkt hat, dass wir fehlerhaften Draht auf der Baustelle hatten.»

Annett nickte, als sie an dieses Drama dachte, das sich erst kürzlich abgespielt hatte. Sie war wieder einmal auf der Baustelle gewesen, um mit Mister Farrington einige Dinge zu besprechen, die Emily ihr aufgetragen hatte. Farrington war aber noch mit dem Chefingenieur in einer Sitzung, sodass Annett Zeit hatte, sich auf der Baustelle umzusehen. Und da sie im Technicum gerade die Grundzüge der Werkstoffkunde gelernt hatte, untersuchte sie eindringlich die eben gelieferten Kabel. Dabei stellte sie fest, dass für die Kabel schlechter Draht verwendet worden war. Zuerst traute sie ihren Augen nicht, doch dann machte sie Mister Farrington darauf aufmerksam, der die Sache wiederum mit Washington und Emily besprach. Hernach war sie von allen über den grünen Klee gelobt worden, und Emily hatte ihr sogar eine kleine goldene Kette geschenkt – mit einem Anhänger der Brücke. Beim Bau eines Skycrapers dabei zu sein, wenn die Brücke erst einmal fertig war, das war ein Traum, den sich Annett zu gern erfüllen würde.

Liebend gern hätte sie Arthur von Mr. Thunderbatchs Angebot erzählt, aber sie befürchtete, dass er an diesem Abend nicht in der richtigen Stimmung dafür war. Zuerst hatte er ihre Hand gehalten, hatte mit ihren Fingern gespielt, sie zärtlich gestreichelt. Sie hatten in dem Lokal gesessen, in dem sich die Leute von den Zeitungen trafen, darunter auch ein paar Frauen, die als Sekretärinnen oder Buchhalterinnen arbeiteten. Annett fühlte sich wohl im Newspaper Club, in dem es unglaublich laut war, weil alle Anwesenden durcheinanderschrien und lauthals lachten, weil die Türen beständig auf und zu gingen und jedes Mal einen neuen Schwall schwatzender Menschen mit hereinbrachten. Der Newspaper Club lag unweit der Mulberry Street, in der sich das Polizeipräsidium befand, und so drehten sich die meisten Gespräche um Mord und Totschlag, und Annett hielt die Ohren offen, doch es gelang ihr nur hin und wieder, ein paar Satzfetzen aufzuschnappen. Einmal war auch von der Brooklyn Bridge die Rede, aber Annett hörte nicht viel mehr als das Stichwort. Sie lachte Arthur an, entzog ihm ihre Hand, um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen und den Hut zu richten.

«Es gefällt mir immer wieder hier», erklärte sie.

«Mir nicht mehr», brummte Arthur.

«Warum nicht? Was hast du?»

Er verzog den Mund und ließ seinen Blick durch das Lokal schweifen. Jetzt zündete sich eines der Tippmädchen eine Zigarette an, und Arthur schnappte vor Empörung nach Luft.

«Sieh dir das an. Wie schamlos!»

Annett zuckte mit den Schultern. «Warum? Männer rauchen auch. Niemand würde auf die Idee kommen, einen Mann schamlos zu nennen, wenn er raucht.»

«Aber sie ist eine Frau, und Frauen und Männer sind nun einmal nicht gleich.» Arthur sprach mit einer gehörigen Portion Bitterkeit. «Das kommt davon, wenn Frauen arbeiten, einen Beruf haben.» Er warf einer Gruppe schnatternder und lachender Büromädchen wütende Blicke zu.

«Was hast du gegen Frauen, die arbeiten?», wollte Annett wissen. Sie war noch immer gut gelaunt, ließ den Blick schweifen und freute sich an der quirligen Atmosphäre.

«Sobald Frauen arbeiten, werden sie schamlos.»

«Was?» Annett konnte nicht anders, sie prustete los.

«Hör auf!», zischte Arthur. «Es gehört sich nicht, in der Öffentlichkeit dermaßen zu lachen. Und schon gar nicht gehört es sich, seinen Mann auszulachen.»

Da wurde Annett ernst. «Entschuldige. Ich wollte dich natürlich nicht auslachen. Ich dachte, du machst einen Witz.»

«Einen Witz? Worüber?» Er sah sie verkniffen an. Und da erst begriff Annett, dass Arthur keinen Witz gemacht hatte, sondern dass es ihm bitterernst mit seinen Worten war. Sie griff nach seiner Hand. «Glaubst du wirklich, dass die Arbeit die Frauen schamlos werden lässt?», fragte sie.

Arthur war noch immer verärgert. «Natürlich. Oder gehört es sich etwa, sich allein, ohne männliche Begleitung, in einem Lokal sehen zu lassen und Zigaretten zu rauchen?»

Annett bekam ein wenig Angst, doch noch immer glaubte sie, dass Arthur nur so sprach, weil er verärgert war.

«Warum sollten die Frauen nicht in ein Lokal gehen? Sie sind ja nicht allein, sie sind in einer ganzen Gruppe.» Annett schüttelte den Kopf, sie verstand Arthur einfach nicht.

«Ach?», schnappte Arthur. «Du würdest also auch allein in ein Lokal gehen, dich von fremden Männern anschauen und vielleicht sogar ansprechen lassen wie eine Straßendirne?»

Bei dem Wort «Straßendirne» war Annett wie vor den Kopf gestoßen. «Du nennst diese Frauen Dirnen? Das sind sie nicht. Sie sind Angestellte. Genau wie du.»

«Pft.»

Arthur blickte wütend auf den Tisch. Dann sah er auf. «Ich denke, wir sollten gehen. Die Atmosphäre hier ist nichts für dich. Ich hätte dich niemals mit hierhernehmen sollen.»

«Warum nicht?» Annett war nun vollkommen ernst. Sie blieb einfach sitzen, hatte die Hände vor sich auf den Tisch gelegt. Arthur, der begriff, dass sie nicht aufstehen und ihm folgen würde, setzte sich wieder. Sein Gesicht war inzwischen zu einer wütenden Fratze verzogen. «Weil es sich nicht gehört. Weil du hier Dinge siehst und hörst, die sich für meine zukünftige Gattin einfach nicht ziemen.»

Annett traute ihren Ohren nicht. «Du willst mir also verbieten, ein Lokal aufzusuchen, in dem berufstätige Frauen verkehren?»

«Ja. Denn eine anständige Frau arbeitet nicht, sondern bleibt zu Hause und kümmert sich um Mann und Kinder.»

Da richtete sich Annett kerzengerade auf, sah Arthur fest in die Augen und sagte laut und vernehmlich: «Nun, so muss ich dir leider mitteilen, dass mir meine Gasthörerschaft am New Yorker Technicum sehr viel Spaß macht. Und ob du es glaubst oder nicht: Man hat mir bereits eine Stellung angeboten. Ich könnte in einem Ingenieurs- und Architekturbüro beginnen und beim Bau eines Wolkenkratzers mitwirken.»

Doch Arthur lachte nur.

Annett kniff die Augen zusammen. «Du wirst schon sehen», fauchte sie. «Vielleicht werde ich sogar die erste Ingenieurin von Amerika sein. Das wäre wenigstens ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.»

Da seufzte Arthur, zog die Unterlippe zwischen die Zähne, blickte eine Minute lang auf den Tisch, während Annett noch immer schäumte. Dann sah er auf: «Nein. Das wirst du nicht», sagte er mit fester Stimme.

Annett lachte auf. «Ach, und warum nicht?»

«Weil ich es dir verbiete.»