Vierzigstes Kapitel

Später bat Vivian Gottwitha, sie auf einen Spaziergang durch Albany zu begleiten. «Wie sollen die Frauen um ihre Rechte kämpfen, wenn ihre Ehemänner ihnen dazu die Erlaubnis verweigern?», wollte Gottwitha wissen, doch ihr Blick war so konzentriert auf den Boden gerichtet, als würde sie keine Antwort erwarten. Sie blieb sogar kurz stehen, ehe sie fortfuhr: «Ich kann einfach nicht sehen, welche Vorteile den Männern die Gleichstellung der Frau bringen soll. Was haben die Männer davon, dass die Frauen wählen gehen oder sich einen Beruf suchen dürfen?»

«Auf den ersten Blick natürlich nichts. Und deshalb werden die Männer auch alles daransetzen, ihre Frauen weiterhin klein und dumm zu halten. Und das Schlimmste daran ist, dass die meisten Frauen tatsächlich glauben, kleiner, schwächer und dümmer als die Männer zu sein.» Vivian hielt inne, fasste Gottwitha beim Arm. «Du hast doch früher auch so gedacht, nicht wahr?»

Früher, dachte Gottwitha, ich denke heute noch so. Und nichts auf der Welt kann mich vom Gegenteil überzeugen. Ich habe am eigenen Leib gespürt, wie dumm und unzulänglich ich war und bin.

«Na gut, du antwortest nicht. Stell dir nur vor, 1840 hat man einigen Amerikanerinnen die Teilnahme am Weltkongress für die Abschaffung der Sklaverei verboten. Und dabei waren die Hälfte der Sklaven Frauen. Hast du schon mal von Lucretia Mott gehört?»

Gottwitha verneinte. Eigentlich hatte sie gar keine Lust, noch mehr über die Frauenbewegung zu erfahren. Sie hatte begriffen, dass Vivian dieser Bewegung anhing, und Gottwitha konnte nicht erkennen, dass ihr das ein glückliches Leben bescherte. Vivian war jung, aber sie war nicht hübsch, obschon sie es hätte sein können. Sie hatte dunkle, buschige Augenbrauen, die sie nicht zupfte, sondern einfach wachsen ließ, sodass sie sogar über der Nase zusammenwuchsen. Ihre strahlenden blauen Augen glänzten, doch wie sollten die Männer – und allen voran Paul, ihr Ehemann – die Schönheit ihrer Augen genießen können, wenn sie den Männern damit dreist ins Gesicht blickte. Vivian trug kein Korsett und keinen Reifrock, sondern einfach nur ein Kleid, das am Kinn hoch geschlossen war und in geraden Falten bis auf den Boden fiel. Doch das Aussehen war nicht alles. Amische Frauen kümmerten sich ebenfalls nicht darum, wie sie aussahen. Sie kämmten sich lediglich das Haar und bissen sich manchmal heimlich auf die Lippen, damit diese ein bisschen röter wurden. Aber es war nicht so, dass Vivian nichts für sich tat, weil sie Gott nicht täuschen wollte, sondern weil ihr die Männer gleichgültig waren. Und wenn ihr die Männer gleichgültig waren, war ihr dann nicht auch der Herrgott gleichgültig, der ja wohl ein Mann war, sonst hieße er nicht Herrgott? Trotzdem war Vivian nun einmal ihre Herrin, und so sah sich Gottwitha gezwungen, zumindest ein klein wenig Interesse an der Frauenbewegung zu heucheln.

«Lucretia Mott? Nein, das sagt mir nichts. Wer ist sie?»

Vivian lächelte und blieb stehen. Das war ein schlechtes Zeichen. Wenn Vivian stehen blieb, so hieß das, dass sie zu einem längeren Vortrag ansetzte.

«Lucretia Mott. Nun, sie ist schon sehr alt. Ihr Vater war der Kapitän eines Walfangschiffes, während ihre Mutter ganz selbstverständlich eine Farm leitete, und auch Lucretia hatte dort ihre Aufgaben. Sie lebte auf Nantucket, der Walfängerinsel vor Massachusetts, und war bereits als Kind davon überzeugt, dass alle Menschen gleich viel wert wären, egal, ob schwarz, ob weiß, ob Mann, ob Frau.»

Gottwitha rümpfte ein wenig die Nase. «Dann war sie sicher nicht besonders christlich. Wahrscheinlich sogar katholisch.» Sie sprach das letzte Wort mit einer gehörigen Portion Verächtlichkeit aus, aber Vivian schüttelte den Kopf. «Sie war Quäkerin.»

«So?» Gottwithas Stimme klang nun beinahe gehässig. «Bisher glaubte ich immer, Quäker wären einigermaßen aufrechte Christen, denen es nicht gleichgültig ist, was in der Bibel steht.»

Vivian schien sich über Gottwitha zu ärgern. Sie zog die Augenbrauen zusammen und stieß die nächsten Worte beinahe zischend wie eine Schlange hervor: «Sie gehörte zur Abolitionisten-Bewegung. Ich nehme an, du weißt nicht, was das ist.»

So zurechtgewiesen, senkte Gottwitha den Blick und kratzte mit ihrer Schuhspitze im Straßendreck herum.

«Die Abolitionisten setzten sich für die Abschaffung der Sklaverei ein. Auf Grundlage der Heiligen Schrift. Denn dort steht geschrieben, dass sich kein Mensch über einen anderen erheben darf.»

Gottwithas Röte verstärkte sich. Sie glühte regelrecht. Und noch etwas wurde ihr in diesem Augenblick klar. Bisher hatte sie sich immer auf der Seite derer gefühlt, die recht hatten. Das war typisch für die Amischen. In dieser gottlosen Welt glaubten sie die Einzigen zu sein, die so lebten, wie es dem Herrn gefiel. Damit standen sie ein winziges Stückchen über allen anderen Menschen. Sie waren dem Herrn einfach näher. Niemals wäre Gottwitha auf die Idee gekommen, dass andere Menschen noch mehr als die Amischen für Gott taten. Dass sie sogar kämpften für das, was sie für gottgefällig hielten. Für andere kämpften, nicht für sich selbst. Da begriff Gottwitha die gesamte Selbstgerechtigkeit der Amischen, da begriff sie deren Egoismus, der sie sich nur um sich selbst und die Ihren kümmern ließ, während die Welt ringsum in Trümmern versank. Dana hatte ihr geholfen, als sie dringend Hilfe gebraucht hatte. Hätte Samuel für Dana dasselbe getan? Wohl nicht. Und sie begriff, wie verstockt sie selbst war, und schwor sich, die Augen und Ohren in Zukunft weiter zu öffnen.

«Wie ging es weiter mit Lucretia?», fragte sie, und ihre Stimme klang ein wenig brüchig.

«Sie heiratete, zog nach Philadelphia. Ich kann dir bei Gelegenheit zeigen, wo sie gelebt hat. Ihr Haus wurde das Zentrum der Bewegung gegen die Sklaverei.»

«Hat ihr Mann mitgemacht?» Jetzt hob Gottwitha den Kopf, wartete ungeduldig auf eine Antwort.

«James Mott war ein kluger Mann. Er wusste wohl um den Wert der Frauen im Allgemeinen und um den Wert seiner Frau im Besonderen. Lucretia hatte es schwer in der Abolitionisten-Bewegung. Man glaubte damals noch mehr als heute, dass Frauen ungeeignet für die Öffentlichkeit seien. Trat Lucretia bei einer Zusammenkunft vor, um eine Rede zu halten, wurde sie manchmal sogar von den eigenen Mitstreitern niedergebuht. Das ärgerte sie natürlich, und so gründete sie die Female Anti-Slavery Society, die weibliche Gesellschaft gegen die Sklaverei.»

«Und? Fand sie viele Mitstreiterinnen?» Gottwitha konnte sich das eigentlich nicht vorstellen, aber allmählich begann sie, sich ernsthaft für Lucretia zu interessieren, denn die erinnerte sie ein wenig an ihre Schiffsfreundin Annett. War es wirklich möglich, sein Leben so zu gestalten, wie man es wollte?

«Ja, sie fand ein paar Frauen, die ebenso mutig waren wie sie, aber viele waren es nicht. Sie wurde beschimpft, bespuckt, sie erhielt Morddrohungen, aber sie gab nicht auf.»

Gottwitha nickte. Das hatte sie erwartet. In ihrer Vorstellung begann Lucretia Mott, Annetts Züge zu tragen. «Und dann?»

«1840 fand in London endlich der Weltkongress statt, der die Abschaffung der Sklaverei beschließen sollte. Natürlich wollte Lucretia Mott dabei sein, aber man verbot ihr die Teilnahme. Man verbot sie ihr, weil sie eine Frau war.»

«Aber Lucretia ließ nicht locker, oder?»

«Nein, das tat sie nicht. Sie rief alle ihre Freundinnen und Mitstreiterinnen zusammen und organisierte acht Jahre später den ersten Frauenrechtskongress. Er fand im Bundesstaat New York statt, im Seneca County, unter der Leitung von Lucretias Freundin Cady Stanton.»

«Was ist dabei herausgekommen?» Nicht so viel, dachte Gottwitha insgeheim. Die Sklaverei ist abgeschafft, aber gleichberechtigt sind die Schwarzen noch immer nicht. Und für die Frauen hat sich bisher auch nichts geändert. Und wieder wurden zwei Stimmen in ihr laut. Die eine, die alte Stimme, frohlockte ein wenig, dass diese anmaßende Person Lucretia Schiffbruch erlitten hatte. Die andere Stimme, die kleine, leise, summte ein wenig vor sich hin und wartete ab.

«Sie haben eine Deklaration verabschiedet, die Seneca Falls Declaration.» Vivian kramte in ihrer Tasche herum und zog ein doppelseitig beschriebenes Papier hervor. «Hier, das ist sie. Du kannst sie nachher lesen.»

Gottwitha nahm das Blatt, betrachtete es ein wenig misstrauisch. Zum einen hielt sie diese Declaration für ein Werk des Teufels, zum anderen brannte sie darauf, den Inhalt zu erfahren. Sie sah Vivian an, die, wie es Gottwitha schien, über die Maßen zufrieden dreinblickte. So als hätte sie Gottwitha schon von der Frauenrechtsbewegung überzeugt. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil. Dieser Blick machte, dass Gottwitha ein wenig trotzig wurde.

«Nun», sagte sie und steckte das Papier scheinbar achtlos in ihre Tasche. «Es ist ja alles gut und schön, und Papier ist geduldig und so weiter. Aber wenn Sie, Vivian, und Ihre Freundin Sybil sich auch zur Frauenrechtsbewegung zählen, warum arbeiten dann Sklaven in Mrs. Sybils Haushalt?»

Vivian hakte sich bei Gottwitha ein und zwang sie so, ein wenig weiterzuschlendern. «Es sind keine Sklaven, die bei Sybil arbeiten, Gottwitha. Aber du hast recht, früher waren sie welche. Heute bekommen sie Lohn für ihre Arbeit und können jederzeit selbst entscheiden, ob sie bleiben oder lieber woandershin gehen möchten. Niemand darf sie mehr von ihren Ehemännern, Eltern oder Kindern trennen. Niemand darf sie grundlos schlagen.»

Gottwitha wollte so unbedingt widersprechen, dass sie schier am ganzen Leib zitterte. Es war ihr, als wäre sie von Vivian bei einer großen Sünde ertappt worden. Sie war irgendwie wütend auf Vivian und wusste doch nicht, warum. Hatte sie ihr von Lucretia Mott erzählt, damit Gottwitha begriff, wie erbärmlich ihr bisheriges Leben gewesen war? Gottwitha schluckte, hing an Vivians Arm fest, hing fest in ihrem Leben als Dienstbotin, wäre gern anders, aber sie wusste nicht wie.

Am Abend dann, als Gottwitha in ihrer Kammer saß, dachte sie darüber nach, was Vivian ihr heute erzählt hatte. Die Gedanken jagten durch ihren Kopf, bis ihr ganz schwindelig wurde. Schließlich holte sie das halb zerknitterte Papier aus ihrer Rocktasche und begann zu lesen:

Declaration of Sentiment

Wir halten folgende Wahrheiten für keines Beweises bedürftig: dass alle Männer und Frauen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind, dass zu diesem Leben Freiheit und Streben nach Glück gehören, dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen eingesetzt werden, die den Rechtsgrund ihrer Macht aus der Zustimmung der Regierten ableiten. […]