Einundvierzigstes Kapitel

An diesem wie an jedem Arbeitstag stand Susanne hinter ihrer Verkaufstheke und notierte ein paar Preise auf dickes Papier, als sie sich plötzlich beobachtet fühlte. Sie blickte auf. An der großen Pferdetränke, die der Bäckerei genau gegenüberlag, stand Liam Pembroke und starrte durch die Schaufenster nach innen. Als er sah, dass Susanne in seine Richtung blickte, hob er leicht die Hand zum Gruß. Auf der Stelle drehte sich Susanne weg, zuckte hochmütig die Schultern und hoffte und befürchtete zugleich, dass Liam die Stadt wieder verließ und nie mehr zu ihr in die Bäckerei kommen würde. Er hatte gestern Brote bestellt, das schon. Das hieß aber noch lange nicht, dass er sie auch abholen würde. Und sosehr Susanne sich auch einredete, Liam Pembroke zu verabscheuen, zu hassen, so sehr beschäftigte er doch ihre Gedanken. Endlich schepperte die Ladenglocke. Susanne fuhr herum und stand Liam direkt gegenüber. «Guten Morgen. Sie sehen heute besonders hübsch aus. Sie sehen aus, als wären sie wütend.» Liam grinste, als er das sagte.

«Ich bin einfach nur beschäftigt, das ist alles. Ich habe keine Zeit, den halben Tag lang auf der Straße zu schwatzen.» Sie spielte damit auf das kurze Gespräch an, das Liam gerade mit dem alten Chinesen geführt hatte. Aber Liam ließ sich von Susannes Ton nicht beeindrucken. «Schade», sagte er nur und hob leicht die Schultern. «So ein Schwätzchen kann manchmal entspannen. Wäre ich Arzt, würde ich Ihnen dreimal täglich eine Viertelstunde Geschwätz verordnen, dann wären Sie gewiss nicht mehr so missmutig.»

«Erlauben Sie mal, ich bin doch nicht missmutig», brummte Susanne, doch da sie selbst wusste, wie sie Liam behandelte, ritt sie lieber nicht länger darauf herum.

«Wollen Sie Ihre beiden Brote abholen?», fragte sie.

Liam nickte. «Und ein paar Stücke Kuchen würde ich auch mitnehmen, falls die nicht alle vorbestellt sind.» Wieder grinste er. Zähneknirschend packte sie die Kuchenstücke in Papier und tat dies so schluderig, dass der Kuchen bei den ersten Schritten an den Seiten herausfallen musste. Deshalb schlenderte Liam einfach um die Theke herum, nahm Susanne das Papier aus der Hand und packte sich den Kuchen selbst ein. Dabei spottete er: «Wenn man so viele Kunden gleichzeitig bedienen muss, kann einem schon mal das Papier wegrutschen.» Dann sah er sich im Laden um, tat erstaunt und sprach: «Komisch, ich bin ja ganz allein. Also wird es wohl meine Männlichkeit sein, die Sie außer Rand und Band bringt.» Er lachte übermütig wie ein Kind, als er das sagte, und in Susanne loderte die Wut hoch. Sie blitzte den Mann an, suchte nach Worten, die ihn treffen und vernichten würden, aber ihr fiel nichts ein, kein einziges Wort, keine Silbe, also knirschte sie nur mit den Zähnen und musste zusehen, wie Liam Pembroke triumphierend die Bäckerei verließ.

So ging das die ganze Woche weiter. Jeden Tag bestellte Pembroke Brot und Kuchen, holte die Sachen ab und brachte Susannes Herz durcheinander. Dabei tat er gar nicht viel. Den einen Tag legte er lächelnd einen Kirschkern auf die Theke: «Den habe ich gestern in meinem Kuchen gefunden. Dabei haben Sie mir versichert, dass der Kuchen kernlos ist.» Susanne hätte sich bei jedem anderen Kunden für ihr Missgeschick entschuldigt, aber Liams Beschwerde brachte sie nur weiter in Zorn. «Schade, dass Sie nicht daran erstickt sind», blaffte sie, und Liam amüsierte sich prächtig. Am nächsten Tag wünschte er sich eine bestimmte Torte, von der Susanne noch nie gehört hatte, dann wieder tat er, als würde er in ihrem Laden ausrutschen und fallen. Am Samstag hatte Susanne die Nase so voll von Liam Pembroke, dass sie Geld dafür bezahlt hätte, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Endlich wurde es Abend, und Susanne badete, wusch sich das Haar, tupfte sich ein wenig rote Paste, die sie von Cherry bekommen hatte, auf die Wangen und die Lippen und begab sich in den Saloon. Sie war nicht überrascht, als sie Liam Pembroke an der Bar lehnen sah, sie hatte sich sogar auf das Zusammentreffen mit ihm vorbereitet. Wenn er nämlich käme, um sie zum Tanzen aufzufordern, würde sie laut und deutlich sagen: «Mister Pembroke, leider tanze ich ebenso schlecht, wie ich Kuchen backe.» Dann wollte sie sich hochmütig wegdrehen, den nächsten Mann bei der Hand packen und sich mit ihm auf die Tanzfläche stürzen.

Sie frohlockte regelrecht und wartete die ganze Zeit nur darauf, dass Mister Pembroke endlich zu ihr kam. Aber das tat er nicht. Er lehnte an der Bar, eine Zigarette im Mundwinkel, und redete mit dem Saloonbesitzer, der von den meisten Bewohnern Oak’s Hills «Moody» genannt wurde. Pembroke hatte sie noch keines Blickes gewürdigt. Susanne wusste das genau, denn sie ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte alle Frauen betrachtet, nur sie nicht. Verdammt! Sie wurde wütend und wusste selbst nicht so recht, warum. Wieso störte es sie, wenn er sie nicht beachtete? Zähneknirschend beschloss Susanne, sich ihr Vergnügen auf gar keinen Fall von einem Liam Pembroke verderben zu lassen.

Der Saloon war brechend voll. Jeder Stuhl war besetzt, die Tanzfläche ordentlich gekehrt und mit Sägespänen bestreut. Susanne saß an einem Tisch mit Cherry, die ihr Bordell an den Samstagen und Sonntagen erst gegen 22 Uhr öffnete, weil vorher ohnehin jeder im Saloon war. «Was hast du?», fragte Cherry. «Du siehst aus, als wolltest du gleich vor Wut platzen. Was ist los mit dir?»

Susanne schüttelte den Kopf. «Eigentlich nichts. Ich ärgere mich nur über diesen Liam Pembroke. Die ganze Woche über hängt er in der Bäckerei an der Ladentheke, und jetzt steht er an der Bar und tut, als wäre ich unsichtbar.»

Cherry zuckte mit den Schultern. «Ich kenne ihn nur vom Sehen. Aber ich finde, dass er gar nicht schlecht ausschaut.»

Susanne hob die Augenbrauen. «Kommt er nie zu dir in den Puff?», wollte sie wissen. Sie war so sicher gewesen, dass Männer von der Sorte eines Liam Pembroke den ganzen Tag im Puff hängen würden.

«Nein. Bei mir war er noch nicht. Er scheint wirklich ein Ehrenmann zu sein.»

«Pft!» war alles, was Susanne dazu zu sagen hatte. Und dann stand sie auf, zog den missmutigen Steve mit der Knieverletzung von seinem Stuhl und zerrte ihn auf die Tanzfläche. Dort gesellte sich sogleich ein anderer Goldgräber zu ihr, sodass der missmutige Steve wieder die Kurve kratzen konnte, und Susanne tanzte mit dem Goldgräber so wild herum wie sonst nie. Sie lachte laut, fast kreischend, schüttelte ihr Haar, schwang die Röcke, warf dem Goldgräber sogar eine Kusshand zu und benahm sich nicht besser als Cherrys Huren. Dem Goldgräber gefiel das natürlich. Er versuchte, ihr einen Klaps auf den Hintern zu geben, aber Susanne wich ihm aus. Er hielt sie fest in seinem Arm und wollte sie küssen, doch Susanne entwand sich der Umklammerung. Sie spielte mit dem Mann, aber eigentlich führte sie dieses Theater nur für Liam Pembroke auf. Der aber sah sie noch immer nicht an, tat ganz so, als wäre sie nicht vorhanden. Er schien ihr schrilles Lachen nicht zu hören, und selbst, als sie so dicht an ihn herantanzte, dass sie mit der Schulter beinahe seinen Arm berührte, zuckte er nicht einmal und tat, als hätte er nichts bemerkt. Das war zu viel für Susanne. Diese letzte Kränkung, die vielleicht gar keine war, aber das war gleichgültig, schlug dem Fass den Boden aus. Susanne packte den Goldgräber, der sie noch immer herumschwenkte wie eine Gliederpuppe, bei seinem roten Halstuch und fragte so laut, dass es beinahe alle im Saloon hören konnten: «Sag mal, hast du schon jemals in deinem Leben mit einer Bäckerin geschlafen?»

Die Umstehenden merkten auf, denn wenn der Wilde Westen auch eine rohe Gegend war, so gehörte es sich doch nicht für eine unverheiratete Frau, einem Mann öffentlich solche Angebote zu machen.

Und der Goldgräber grinste von einem Ohr zum anderen und erwiderte: «Ich wette, der Leib einer Bäckerin schmeckt besonders süß.» Und dann ging alles ganz schnell: Im Saloon verstummten alle Gespräche. Der Pianist nahm die Hände von den Tasten, der Geiger ließ seine Fiedel sinken. Die, die bereits mit Flirten und Zärteleien beschäftigt waren, rückten von ihrem Partner ein wenig ab, die, die zum Gucken gekommen waren, verschränkten die Arme vor der Brust. Susanne bekam plötzlich Angst. Das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte nur einen Witz machen wollen, einen Spaß, passend zur Samstagabendstimmung. Und jetzt? Sie war eingeklemmt in die starken Hände des Goldgräbers, der sie mit schlechten Zähnen anlächelte. Sein Atem roch nach Whiskey und Tabak, und jetzt, jetzt beugte er sich über sie, und sie wollte den Kopf abwenden, doch seine Hände umgriffen ihr Kinn, sodass sie nicht ausweichen konnte, und gerade eben wollte er sie küssen, als sich eine Hand zwischen die beiden Münder schob. Es war die Hand von Liam Pembroke.

«Es reicht!», sagte er. Nicht wütend, nicht besonders laut, nur bestimmt. «Es reicht.» Mehr nicht. Und ein paar im Saloon nickten, als wären sie seiner Meinung, und einer, auch ein Goldgräber, rief sogar: «Du solltest ihm eine aufs Maul hauen.»

Und Susanne zog sich zurück, wusste nicht, was sie sagen sollte, wusste nicht, was sie denken sollte, wusste nicht, was sie fühlen oder gar tun sollte. Und als Liam Pembroke sie am Oberarm fasste und ganz ruhig sagte: «Ich glaube, es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen», da nickte sie und ging mit ihm fort.