Zweiundvierzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen packte Gottwitha die Koffer und bereitete die Abreise vor. Sibyl begleitete Vivian und sie zum Bahnhof und verabschiedete die beiden Frauen herzlich.

Am Abend, die Dämmerung hatte gerade eingesetzt, kamen sie in Philadelphia an. Paul Taylor hatte eine Kutsche zum Bahnhof geschickt, und der schwarze Kutscher verstaute das Gepäck, und als die Damen saßen, wandte er sich an Vivian. «Ihr Gatte lässt sich vielmals entschuldigen», sagte er. «Er wäre gern zu Hause gewesen, um Sie zu begrüßen, aber leider war es unumgänglich, dass er heute in seinen Club geht.»

Vivian nickte. «Ist gut, Bonnie. Ich habe nichts anderes erwartet. Fahr los. Deine Frau wird sicher schon mit dem Abendessen warten.»

Und Bonnie nickte, schnalzte mit der Zunge, und die Kutsche ruckte an. Vivian stieß einen leisen Seufzer aus, dann zog sie sich die Handschuhe aus und legte sie säuberlich in ihren Schoß.

«Sind Sie enttäuscht?» Gottwitha wunderte sich. Vivian tat stets so, als wäre Paul ein Mitbewohner, der hin und wieder ein wenig lästig wurde. Nie hatte sie auch nur das kleinste Gefühl für ihn gezeigt. Aber Gottwitha war viel zu müde, um noch lange darüber nachzudenken. Vivian blieb ihr die Antwort schuldig. Sie lehnte am Polster, die Handschuhe noch immer im Schoß, und sah gedankenverloren zum Kutschenfenster hinaus. Sie mussten beinahe durch die ganze Stadt fahren, zuerst am Schuylkill River entlang bis zum Rittenhouse Square und von dort fast bis zum Delaware River in die Delancy Street. Ihr Haus, ein dreistöckiges Gebäude aus rotem Backstein, lag dem Delancy Park genau gegenüber und hatte noch vor zwanzig Jahren zu den elegantesten Anwesen Philadelphias gezählt. In letzter Zeit aber, so hatte Paul Taylor Gottwitha erzählt, wurde das Viertel Society Hills von habgierigen Kaufleuten als bevorzugtes Viertel angesehen, und deshalb mussten sich die Taylors bald eine neue Bleibe suchen. Er selbst war beileibe kein Kaufmann, aber er hatte mit Geld zu tun. Vielleicht war es ihm so wichtig, den Begriff Gier, der immer dort blühte, wo Geld war, von sich fernzuhalten, weil Paul Taylor eine große Abteilung der First Bank of the United States leitete, deren Gebäude so nah bei der Delancy Street lagen, dass Paul jeden Morgen nur einen kurzen Fußweg dorthin zu bewältigen hatte.

Jetzt war er also in seinem Club. Irgendwann in der Nacht, wenn das Haus schon im tiefsten Schlaf lag, würde er nach Hause kommen. Wahrscheinlich würde er trunken auf der Treppe stolpern und leise fluchen, wenn er nicht schon die Vase von der Kommode im Flur gestoßen hatte. «Pst, nicht so laut, Ihre Frau schläft. Wollen Sie sie etwa aufwecken?», würde Gottwitha, ein Tuch um ihr Nachthemd geschlungen, sagen.

«Mir doch … hicks … egal, ob Vivian aufwacht. Sie … hicks … ist mir keine Frau, Gott sei’s geklagt.» Dann wechselte seine Stimme für gewöhnlich vom Verärgerten ins Quengelige. «Lass mich endlich rein in dein Bett, Gottwitha, Herzenskind. Ich bin so müde.» Und Gottwitha würde seufzen, die Tür zu Mr. Taylors Arbeitszimmer öffnen und Paul am Arm zu einer breiten Couch führen. Der würde, wie immer, wenn er die Nächte durchgetrunken hatte, darauffallen wie ein Stein und wenige Augenblicke später eingeschlafen sein. Gottwitha konnte es nur recht sein, wenn er leise vor sich hin schnarchend seinen Rausch ausschlief und nicht mehr von ihr verlangte, als dass sie seinen schweren Körper auf das Sofa bugsierte.

Und heute würde es also wieder so sein, denn der Herr war im Club. «Brauchen Sie mich noch?», fragte Gottwitha Vivian nach dem Abendmahl. Vivian betrachtete ihre Dienstbotin ein wenig amüsiert, dann sagte sie mit einer leisen Spur von Häme: «Nein, ich brauche dich heute nicht mehr. Gute Nacht, meine Liebe.»

Und Gottwitha knickste und begab sich in ihre Kammer. Dort legte sie sich auf das Bett, ohne sich auszuziehen. Sie schlief ein, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührt hatte. Stunden später wurde sie vom Klopfen an ihrer Tür geweckt. «Lass mich ein, meine milchbusige Gottwitha, lass mich ein, ich bin so müde.»

Gottwitha schlug die Augen auf, doch der Schlaf steckte ihr noch in allen Gliedern. Sie war fürchterlich müde. Sie hatte gerade mal drei Stunden geschlafen. Ach, dachte sie, wie wunderbar wäre es, wenn ich einfach nicht aufmachen würde, wenn ich einfach hier liegen bliebe, mir das Kissen über die Ohren zöge und nicht das täte, was der Herr von mir erwartet. Und plötzlich fiel ihr die Seneca Falls Declaration ein. Dort stand – sie hatte es auswendig gelernt –: Der Mann hat sich in jeder Weise bemüht, ihr Vertrauen in ihre eigene Kraft zu zerstören, ihre Selbstachtung zu verringern und sie willig zu machen, ein abhängiges und unwürdiges Leben zu führen.

Und ja, Paul Taylor hatte ihre Selbstachtung verringert. Obgleich Gottwitha zugeben musste, dass sie lange Zeit gar nicht gewusst hatte, was Selbstachtung war, und dass diese ihr einfach zustand wie das Recht auf Atmung. Aber eigentlich war das alles ihre eigene Schuld. Paul hatte sie nicht gezwungen, ihn in ihr Bett zu lassen. Sie hatte zugestimmt und sich obendrein noch dafür bezahlen lassen. Doch jetzt, so beschloss sie, war Schluss damit. Sie zog sich tatsächlich das Kissen über den Kopf, ließ Paul noch eine Weile klopfen und quengeln, und als endlich Ruhe einkehrte, fiel sie zurück in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte sie ausgeruht und erfrischt. Sie goss Wasser aus einer Kanne in ihr Waschgeschirr, wusch sich, steckte sich das Haar auf und zog sich an, dann ging sie, um nach dem Frühstück zu sehen. Auf ihrer Türschwelle fand sie Paul. Er trug noch immer seinen langen Rock, der Zylinder lag neben ihm auf dem Boden, seine Halsbinde war verrutscht. Gerade wollte Gottwitha über ihn steigen, da sah sie die kleine Blutlache, die neben seiner Stirn in die Holzdielen sickerte. Sie kniete sich neben ihren Herrn, rüttelte ihn leicht an der Schulter. Zugleich raste ihr das Herz in der Brust. Er würde sich doch nichts getan haben, er würde doch nicht bewusstlos sein? Seine Lippen, das erkannte sie jetzt, waren so bleich wie bei einem Toten, und auch seine Haut war grau und fahl. «Mister Taylor, Mister Taylor, hören Sie mich?» Sie rüttelte ein wenig fester an seiner Schulter, aber Paul Taylor gab nur ein Grunzen von sich und rührte sich ansonsten nicht. Vor Aufregung wie gelähmt, blickte Gottwitha sich um. «Hilfe!», rief sie. «Bonnie, wo bist du? Edda!» Aber niemand kam. Das Haus lag totenstill, nur aus der weitentfernten Küche konnte man das Klappern von Töpfen hören. Jetzt stand Gottwitha auf, raste den Gang entlang, riss die Küchentür auf und rief: «Der Herr, der Herr. So helft mir doch!»

Und Bonnie und seine Frau rannten hinter ihr her, standen dann ebenso ratlos wie sie selbst vor dem verletzten Herrn. Edda schlug sich die Hände vor den Mund und flüsterte mit schreckensweiten Augen: «Er sieht aus wie tot, mausetot.» Dann bekreuzigte sie sich und sprach halblaut ein Gebet, während Bonnie sich am Kopf kratzte und dem Herrn mit der Schuhspitze ganz leicht in die Seite stieß, ohne dass dieser sich rührte.

Gottwitha rang die Hände. «Was sollen wir nur machen?», fragte sie bang. «Sollen wir die Herrin wecken? Bonnie, wirst du den Arzt holen?»

Bonnie nickte. «Ich hole den Arzt, das wird am besten sein.» Dann stieß er seine Frau leicht mit dem Ellbogen an. «Weck du die Herrin.»

Und schon war Gottwitha wieder allein mit dem Herrn. Er lebte, zitterte aber am ganzen Körper, und als Gottwitha ihm ihre Hand auf die Stirn legte, da fühlte sie das Fieber in ihm. Sie rannte in ihre Kammer zurück, deckte ihr Bett über Paul, doch das Zittern wurde nur stärker. Da faltete sie die Hände, schloss die Augen und betete, wie sie seit ihrer Abreise aus dem amischen Dorf nicht mehr gebetet hatte. Und sie bat nicht für sich, sondern einzig für ihren Herrn, und zugleich gab sie sich die Schuld an seinem Zustand, denn hätte sie ihn zu Bett gebracht, so läge er jetzt nicht hier. Aber lange konnte sie nicht beten, denn schon kam Vivian mit gelöstem Haar im Nachthemd angerannt. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, einen Morgenmantel überzuwerfen. Jetzt stürzte sie sich auf ihren Mann, rüttelte ebenfalls an seiner Schulter, rief seinen Namen so laut sie konnte, doch Paul reagierte nicht. Und als Vivian das Blut entdeckte, da stieß sie einen Schrei aus, einen lauten, gellenden Schrei, und Gottwitha wusste, dass sie verloren war. Vivian funkelte sie an, so wütend, wie Gottwitha sie noch nie gesehen hatte. «Was hast du mit ihm gemacht?», fragte sie.

Gottwitha schluckte. «Nichts habe ich gemacht. Gar nichts. Ich habe ihn nur nicht eingelassen, als er geklopft hat.»

«Du hast ihn nicht eingelassen? Warum nicht, um alles in der Welt!»

Gottwithas Mund war staubtrocken, und sie hätte alles, was sie hatte, in diesem Augenblick für einen Schluck Wasser gegeben. Aber sie wagte es nicht, sich von der Stelle zu rühren.

«Warum nicht?» Vivian schrie jetzt. «Dachtest du etwa, ich wüsste nicht, was zwischen dir und Paul ist? Natürlich weiß ich es, und ich war sogar froh, dass du ihm das Bett wärmst und ich es nicht machen musste. Aber wie kommst du dazu, dich ihm zu verweigern? Bist du denn zu nichts zu gebrauchen, du Trampel vom Land?»

Und auf einmal fiel Vivian die Maske vom Gesicht, und Gottwitha sah sie, wie sie wirklich war. Keineswegs eine Kämpferin für die Rechte der Frauen, sondern eine Kämpferin nur für die eigenen Rechte. Also schob Gottwitha die Unterlippe ein wenig vor und sagte: «Sie haben selbst gesagt, dass Männer und Frauen dieselben Rechte haben. Nun, da habe ich geglaubt, so, wie es das Recht des Herrn ist, an meine Tür zu klopfen, so ist es auch mein Recht, ihm nicht zu öffnen. Ich habe nur gemacht, was Sie mich gelehrt haben.»

Und Vivian klappte den Mund auf, klappte ihn wieder zu, und als sie sich endlich gefangen hatte, da zischte sie nur wenige Worte: «Geh mir aus den Augen! Verschwinde aus meinem Haus und lass dich niemals mehr hier blicken.»

Gottwitha stand wie erstarrt, bis sich Vivian erhob: «Na los!» Sie stieß Gottwitha so heftig, dass diese taumelte und beinahe gestürzt wäre. Da begriff sie, dass Vivian es wirklich ernst meinte, sie wirklich und wahrhaftig auf die Straße setzte. Und sie begriff noch mehr. Vivian war nicht etwa aufgebracht, weil sie um Pauls Leben fürchtete. Das, was sie am meisten ärgerte, war, dass Gottwitha Paul nicht versorgt hatte, dass Gottwitha in der letzten Nacht eben nicht Vivians Aufgaben als Ehefrau erbracht hatte. All die Vorträge über Frauen und ihre Rechte kamen Gottwitha plötzlich leer und unsinnig vor. Vivian hatte sie ermutigt, eigene Entscheidungen zu treffen, für sich selbst einzustehen. Und hatte es doch geduldet, dass Gottwitha mit ihrem Mann für Geld ins Bett stieg, damit sie selbst ihren Pflichten als Ehefrau entgehen konnte. Vivian durfte ein selbstbestimmtes Leben führen. Aber Gottwitha stand es nur dann zu, das gleiche Recht für sich in Anspruch zu nehmen, wenn sie damit Vivians Interessen nicht in die Quere kam.