Dreiundvierzigstes Kapitel

Liam Pembroke drehte Susannes Herz rum und rum und hin und her, bis sie nicht mehr wusste, wie sie jemals ohne diesen Mann hatte leben können. Er hatte sie an jenem Abend aus dem Saloon gebracht, und Susanne hatte sich nicht dagegen gewehrt. Dann hatten sie auf den Verandastufen gesessen, und Liam hatte sie angesehen, hatte ihr behutsam eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen und gesagt: «Du musst nicht laut sein, damit ich dich sehe. Ich habe dich bemerkt, als wir kaum in die Stadt eingeritten waren. Und ich sehe dich nicht nur, wenn du vor mir stehst. Ich sehe dich den ganzen Tag. Und sogar nachts, wenn ich träume, bist du da.» Und er hatte ihr Gesicht in seine Hände genommen und sie so sanft geküsst, dass Susanne ein Schauer über den ganzen Körper gelaufen war. Es schien nicht nur richtig, sondern die einzige Möglichkeit zu sein, nach dem Kuss aufzustehen, seine Hand zu nehmen und einfach «Komm mit» zu sagen. Was sie dann erlebte, das war anders, so ganz, ganz anders als mit dem Grobian, dass sie danach am liebsten die Hände gefaltet und gebetet hätte. Liam war sanft, seine Hände glitten weich und zart über ihren Körper. Er hielt sie, als ihr Leib sich vor Lust aufbäumte, und hernach küsste er ihr den Schweiß von der Haut. Das alles fühlte sich groß an und zugleich so normal und richtig, dass Susanne Liam nicht mehr missen wollte. Jetzt erst, das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele, war sie wirklich zu Hause angekommen.

Liam verpachtete sein Goldfeld und stand jeden Morgen vor Tau und Tag auf, um den Backofen anzuheizen und die vorbereiteten Brote dort hineinzuschieben, während sich Susanne noch einmal im Bett herumdrehte und erst aufstand, wenn es Zeit war, den Laden zu öffnen. Liam hatte sogar ein kleines Gitter für Tuuli aufgestellt, es mit dicken Decken und Fellen ausgelegt, sodass die Kleine den ganzen Tag bei ihrer Mutter im Laden oder in der Backstube sein konnte. Madame Joyce, die eine sehr eifersüchtige Großmutter war, kam jeden Mittag zum Essen, das Susanne neben ihrer Arbeit im Laden auch noch zubereiten konnte, denn sobald die Brote und Kuchen gebacken waren, band sich Liam eine frische weiße Schürze um und stellte sich hinter die Ladentheke. Er tat, als wäre alles in bester Ordnung, als hätte er sich nie zuvor so wohlgefühlt in seinem Leben, aber Susanne wusste, dass das nicht der Fall war. Die anderen Goldgräber. Sie kamen, zeigten ihm ihre Beutel voll Goldnuggets, fluchten gotteslästerlich, berichteten von Abenteuern und mordsmäßigen Sauftouren, spuckten auf den Boden und nannten Liam am Ende ein «altes Waschweib, das sich hinter den Röcken seiner Liebsten versteckt». Dass Männer vor ihren Ehefrauen in die Knie gingen und taten, was diese wollten, das war bekannt und auch im Wilden Westen mit seinen harten Kerlen nicht anders. Aber dass einer sich von der Liebsten anstellen ließ und von ihrem Geld lebte, das wollte nicht in ihre Köpfe, und sie nahmen es Liam Pembroke übel, als hätte er sie alle miteinander persönlich beleidigt.

«Komm zurück. Nimm endlich Vernunft an. Du weißt ja nicht, was du tust.» Liams Bruder Richard, Richy genannt, war der Schlimmste unter ihnen. «Wenn der Vater das wüsste, er würde den Knüppel holen und dich aus dem Laden herausprügeln», tönte er und ballte die Faust, als wollte er sogleich in die Rolle des Vaters springen. Dann wieder schmeichelte er: «Komm zurück in unser Lager. Dort können wir tun, was wir wollen. Ich wette, sie verlangt sogar, dass du dir vor dem Essen die Hände wäschst.»

«Ich bin glücklich», erwiderte Liam lächelnd und reichte seinem Bruder ein ofenwarmes, duftendes Hefehörnchen über die Ladentheke.

«Du bist ein Waschlappen», erwiderte Richy, biss herzhaft in das Hörnchen und wandte sich zum Gehen. «In einem Jahr werde ich reich sein», erklärte er, schon an der Tür. «Ich werde mir eine Farm kaufen und Rinder züchten, und ich werde mir eine Frau suchen, die nicht schon vor mir einen Braten in der Röhre gehabt hat.» Er sagte es mit Häme, aber Liam hörte nicht auf zu lächeln. «Ich wünsche dir, dass es so kommt. Du hast es verdient», erwiderte er nur und hob die Hand zum Gruß.

Und beim letzten Tanzabend im Saloon, da hatte der Bruder des Wirtes Liam dazu aufgefordert, sich mit ihm vor dem Lokal zu prügeln, damit Liam seine Manneskraft unter Beweis stellte. Aber auch da hatte Liam bloß gelächelt und dem anderen einen Whiskey ausgegeben. Susanne tat es weh, Liam so verspottet zu sehen, aber was konnte sie schon dagegen tun? Ihr musste er seine Manneskraft nicht beweisen. Das tat er überdies an beinahe jedem Abend. Und nie hatte Susanne die Liebe so genossen. Ja, sie fühlte sich in seinen Armen schön, jung und begehrenswert. Und wenn sie nebeneinander im Laden oder in der Backstube standen, dann vermittelte Liam ihr das Gefühl, klug und geschäftstüchtig zu sein. Susanne hätte sich so gern in seiner Bewunderung gesonnt, sie hätte so gern geglaubt, dass sie eine wundervolle Frau, klug und schön war, aber sie wusste doch, dass die Wahrheit eine andere war. Denn sie hatte sich zwar als Witwe ausgegeben, aber der Herrgott wusste, dass sie nicht nur die Witwe des Grobians war, sondern auch seine Mörderin. Und wenn sie Liam auch alles aus ihrem Leben erzählt hatte, so hatte sie doch die Erlebnisse dieser stürmischen Nacht auf dem Schiff verschwiegen. Manchmal, wenn sie Liam dabei beobachtete, wie er in der Backstube arbeitete, wie er den Teig so heftig knetete, dass seine Oberarmmuskeln fingerdick hervortraten, fragte sie sich, ob nicht auch er ein Geheimnis hatte. Eines Abends, sie saßen beide hinter dem Haus und blickten auf ihren winzigen Gemüsegarten, hielt sie es nicht mehr aus und fragte ihn: «Wo kommst du her, Liam? Wie hast du bisher gelebt?»

Er verzog das Gesicht, als ob ihm etwas weh täte, und schüttelte den Kopf. «Was soll das? Warum willst du das wissen?»

Susanne lachte leise. «Weil ich dich liebe. Darum möchte ich alles über dich wissen.»

Er sah sie an, blickte ihr direkt in die Augen und antwortete so nachdrücklich, dass sie erschauerte: «Die Vergangenheit ist vorbei. Es ist nicht wichtig, wer ich war. Wichtig ist nur, wer ich bin und wer ich sein werde.» Und Susanne nickte, dachte an ihre eigenen Geheimnisse und schwieg. Aber nicht lange. Schon am nächsten Abend versuchte sie es auf eine andere Art: «Wo bist du geboren?»

«In Virginia.»

«In einer Stadt? In einem Dorf?»

«In einer Stadt, die so klein war, dass jeder jeden kannte.»

«Dein Vater, was war er von Beruf?»

Ohne sie anzublicken, nahm Liam ihre Hände in seine: «Er war Schreiner. Aber das ist es nicht, was du wissen willst, nicht wahr?»

Susanne nickte.

«Ich war einmal im Gefängnis», erzählte Liam mit brüchiger Stimme weiter. «Für eine ziemlich lange Zeit. Ich habe jemanden getötet. Es war ein Unfall, und dennoch bin ich schuld daran. Wir haben uns geschlagen, eine ganz gewöhnliche Kneipenschlägerei. Aber der andere ist nach einem Schlag von mir so unglücklich die Treppe hinabgestürzt, dass er sich das Genick gebrochen hat. So, damit weißt du das Schlimmste, was es über mich zu wissen gibt. Meinst du, du kannst mich trotzdem noch lieben?»

Susanne presste eine Hand auf ihr Herz. «Natürlich kann ich das. Ich werde dich immer lieben. Und Tuuli könnte sich keinen besseren Vater wünschen.»

«Dann lass uns nicht weiter an die Vergangenheit rühren. Frag mich nicht, was ich im Gefängnis erlebt habe. Ich rede nicht gern darüber, möchte die Zeit einfach nur vergessen.» Susanne akzeptierte den Wunsch, denn wer wusste besser als sie, dass man manche Geheimnisse besser ruhen ließ?

Und dann gab es die Nächte, in denen Liam schweißgebadet und mit einem Schrei hochschreckte. Da wachte auch Susanne auf, strich sanft über sein Gesicht, seine Stirn, seine Arme. Wenn das Mondlicht durch das Fenster fiel und silbern über seinen Rücken strich, sah Susanne die Narben. Wulstige Gebilde mit grauem Rand. Vorsichtig berührte sie sie, fuhr über eine jede von ihnen, die sich über den gesamten Rücken zogen. «Was ist das?», fragte sie eines Nachts und wusste doch schon, dass sie keine Antwort bekommen würde.

«Narben», war alles, was Liam erwiderte.

«Woher?»

«Ach, Susanne.»

«Ich möchte doch einfach nur wissen, wer du bist.»

«Vertraust du mir?» Liam sah Susanne in die Augen, und Susanne nickte.

Da stand Liam auf, kniete vor dem Bett nieder, hielt dabei Susannes Hand: «Willst du mich heiraten? Willst du meine Frau werden?»

Ein heißer Strom schoss durch Susannes Körper. Ja. Natürlich. Natürlich wollte sie eine verheiratete Frau sein. Eine, die von den Goldgräbern in Ruhe gelassen wurde, eine, der niemand nachpfiff oder in deren Gegenwart man Zoten riss. Ja, sie wollte geliebt werden, gerade von Liam, und sie wollte lieben, wollte ihr Herz ganz öffnen und eine Familie haben. Eine richtige Familie, Mann und Kind. Susanne, Liam und Tuuli.

Seit Liam bei ihr lebte, wurde sie ohnehin behandelt wie eine verheiratete Frau. Sie wurde «Mrs» genannt und nicht mehr «Miss», und die meisten Goldgräber sagten sogar «Ma’am» zu ihr. In Deutschland wäre das so nie möglich gewesen. Herr im Himmel, eine unverheiratete Frau lebte mit einem unverheirateten Mann in wilder Ehe! Die Kanzel der nächsten Kirche würde unter den drohenden Predigten des Pastors erzittern! Ihr Laden würde gemieden werden wie die Pest, als hätte sie all ihre Sündhaftigkeit mit in das Brot der ehrbaren Leute gebacken. Hier, in Oak’s Hill, der kleinen Stadt in Montana, war das anders. Hier galten die städtischen Konventionen nichts, und dörfliche Spießigkeiten kannte man hier nicht. Niemand wusste vom anderen, wo er herkam, was er früher getan hatte. Und es war auch nicht wichtig. Wichtig war allein, was heute war und was morgen geschehen würde. Niemand wollte wissen, ob die Nachbarn verheiratet waren oder regelmäßig in die Kirche gingen. Keiner fragte den anderen nach seiner politischen Meinung oder stellte dessen Moral in Frage. Und trotzdem wollte Liam sie heiraten! Wenn Susanne ganz ehrlich war, dann hatte sie sich schon eine kleine Weile gefragt, wann Liam ihr endlich einen Antrag machen würde. Immerhin lebten sie nun schon drei Monate miteinander, und sie hatten sich bisher noch nie gestritten.

«Ja», sagte sie leise und war sich vollkommen sicher dabei. «Ja, ich würde gern deine Frau werden. Aber willst du das auch wirklich?»

Hat man je von einer dümmeren Frage nach einem Antrag gehört? Liam nicht, er lachte, lachte aus voller Kehle, und erwiderte: «Oh, nein, Darling, vergiss es, es war nur eine Laune des Augenblicks.» Und dann zog er Susanne an sich und küsste sie so heftig und gierig wie nie zuvor.

 

Am nächsten Tag lief Susanne als Erstes ins Nachbarhaus zu Madame Joyce. «Er will mich heiraten. Er hat mir einen Antrag gemacht, und ich habe ‹Ja› gesagt!»

«Oh, mein Kind, das freut mich aber.» Madame Joyce breitete ihre Arme aus und zog Susanne an ihre üppige Brust, die so weich wie Wolken war.

«Wirklich?» Plötzlich doch unsicher, schluckte Susanne. «Es ist nur, ich kenne ihn eigentlich kaum. Finden Sie nicht, es ist zu früh?»

Madame Joyce zuckte mit den Schultern. «Zu früh, zu spät, was heißt das schon? Ich kannte in New York mal eine Frau, die war sieben Jahre lang verlobt. Dann hat sie endlich geheiratet, und nach drei Monaten hat sie sich aufgehängt, weil sie ihren Mann nicht mehr ertragen konnte.»

«Oh!» Susanne riss die Augen auf.

«Och, Kindchen, wie dumm von mir! Hör nicht auf das Geschwätz einer alten Puffmutter. Meine Mutter sagte immer, wenn du nach acht Wochen noch nicht weißt, ob er der Richtige ist, dann ist er es nicht. Also: Höre auf meine Mutter, die viel, viel klüger war, als ich es je sein werde, und sei glücklich.»

Jetzt erst wagte Susanne ein winziges Lächeln. Dann aber fiel ihr der Grobian ein, und sie dachte an ihre Hochzeit mit ihm zurück. Nein, sie hatte sich diesen Mann nicht selbst ausgesucht. Ihr Vater hatte das für sie erledigt und dabei nicht die geringste Rücksicht auf sie genommen. Sie wusste nur, dass sie plötzlich vor dem Altar stand, einen Blumenkranz auf dem Kopf und neben sich den Grobian, der ihr vollkommen fremd war. Er hatte sie angelächelt, aber Susanne hatte gefunden, dass es wie ein Zähnefletschen aussah. Trotzdem hatte sie tapfer zurückgelächelt. Dann sprach der Pfarrer ein paar kurze Worte, legte ihre Hände ineinander, und schon war Susanne verheiratet. Während der Feier sah sie den Grobian nur hin und wieder. Sie saß neben ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin auf einer Bank, während der Grobian lachend und saufend durch die Gegend taumelte und nicht einen Blick für seine junge Gattin übrig hatte. Später hatten ihn vier Männer bewusstlos betrunken in ihr Bett gebracht, und sie hatte sich danebengelegt, das neue Nachthemd hatte auf der Haut gekratzt, und der Grobian hatte neben ihr gegrunzt und geschnarcht, als gäbe es kein Morgen. Und am nächsten Tag war er todkrank im Bett geblieben, doch schon am Abend hatte sich sein Befinden gebessert, und er war über sie hergefallen, hatte ihr die Beine auseinander- und sich in sie hineingedrückt, dass ihr die Tränen aus den Augen geschossen waren. Und irgendwann hatte er sich von ihr heruntergerollt und ihr gedroht: «Heulst du nur noch ein einziges Mal, wenn ich bei dir liege, du frigide Schlampe, dann schlage ich dir jede Träne einzeln aus dem Gesicht.» Und da hatte sie sicher gewusst, dass diese Ehe eine Farce war, eine Hölle für sie, und zugleich hatte sie auch gewusst, dass sie dem Grobian nie entkommen würde. Ja, sollte sie je jemand danach fragen, so würde sie zugeben, dass sie sich den Tod des Grobians häufig gewünscht hatte. Sie hatte oft am Fenster gestanden und gebetet, dass ein Kutschgaul durchgehen und ihn einfach über den Haufen rennen mochte. Oder dass ein Ziegelstein vom Dach rutschte und ihn erschlug, dass ein Blitz ihn traf oder ein Baum umstürzte, ein Stier sich aus seinem Stall befreite und ihn auf die Hörner nahm oder ein tollwütiger Fuchs ihn biss. Sie hatte sich vorgestellt, Petroleum in ein ihm bestimmtes Feuer zu gießen, hatte sich vorgestellt, wie die Flammen nach ihm griffen, aber nichts dergleichen war eingetreten, und Tag für Tag hatte der Grobian nach ihr gegriffen, um sie zu schlagen oder zu küssen. Ganz egal, was er tat, alles fühlte sich gleich an. Und jetzt sollte sie wieder heiraten? Sie glaubte, Liam zu lieben. Aber was, wenn er sich nach der Hochzeit verändern, sie ebenso schlagen würde wie der Grobian? Und dass er ihr kaum etwas aus seiner Vergangenheit erzählen wollte, machte die Sache nicht besser. Sie schluckte. «Soll ich wirklich?»

Madame Joyce strich ihr über den Rücken. «Wovor hast du Angst?»

Und da sprach Susanne es endlich aus: «Vor seiner Vergangenheit. Er erzählt nichts darüber.»

Madame Joyce lachte. «Und du? Bist du nicht ebenso schweigsam, was deine Vergangenheit angeht? Und kenne ich dich deshalb weniger gut? Sollte ich dir deshalb nicht vertrauen?»

Jetzt lächelte Susanne ein kleines, blasses Lächeln. Sie fühlte sich auf eine beruhigende Art und Weise ertappt.

«Würden Sie meine Trauzeugin sein?»

Madame Joyce lachte aus vollem Hals. «Ich?», fragte sie ungläubig. «Meinst du wirklich mich? Eine Puffmutter?»

Und Susanne fand das überhaupt nicht komisch und nickte heftig. «Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir diesen Gefallen täten.»

«Also gut, dann tue ich es.»

«Dann brauche ich jetzt nur noch jemanden, der mich zum Altar führt.»

Madame Joyce winkte ab. «Das ist kein Problem. Auch wenn wir hier im finstersten Montana sind, so gibt es doch sogar hier Regeln: Für alle vaterlosen Mädchen geht der Sheriff mit zum Altar.»

«Dann werde ich also wirklich heiraten?» Susanne spürte, wie ihr Herz in der Brust klopfte.

«Es scheint so, meine Liebe. Ja, du wirst heiraten. Und dieses Mal wird es eine gute Ehe werden, das verspreche ich dir.»