Vierundvierzigstes Kapitel

Eigentlich hatte Annett längst geahnt, dass es so kommen musste. Nur hatte sie einfach nicht wahrhaben wollen, dass schon seit längerer Zeit eine Kälte zwischen ihr und Arthur herrschte. Darum hatte sie seine Launen und seine Anfälle von Eifersucht hingenommen. Und hatte wohlweislich jede Diskussion über ihre berufliche Zukunft vermieden. Aber das, was jetzt kam, kam trotzdem überraschend.

«Was glaubst du, wie viele Kränkungen ich noch ertragen kann?»

Annett hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Arthur gerade sprach. «Was für Kränkungen meinst du? Wer ist gekränkt worden?»

Sie lächelte ihn dabei freundlich an, doch als sie seinen Gesichtsausdruck sah, gefror ihr das Lächeln. «Du?», fragte sie vollkommen verblüfft. «Wer hat dich denn gekränkt?»

Arthur schob die Unterlippe nach vorn, sodass er aussah wie ein trotziges Kind. «Du. Du natürlich. Wer sonst?»

Schockiert riss Annett die Augen auf. «Ich? Was habe ich denn getan?»

Von Annetts mangelndem Unrechtsbewusstsein derart aufgebracht, biss Arthur die Zähne aufeinander und presste heraus: «Du treibst dich auf Baustellen herum, inmitten von Männern bist du die einzige Frau. Du lachst mit ihnen, du redest mit ihnen …»

Annett hob die Hand, unterbrach den Redestrom. «Ich arbeite mit ihnen, wolltest du wohl sagen.»

«Pft! Ich habe keine Ahnung, was du daran Arbeit nennst, aber das ist ja auch egal. Denn wenn du in der übrigen Zeit wärst wie eine richtige Frau, so könnte man darüber vielleicht hinwegsehen. Aber du kochst nicht, du nähst nicht, stickst nicht, engagierst dich nicht für wohltätige Zwecke, sondern immer nur für dich selbst.»

Der Hieb saß. Er hat recht, dachte Annett verblüfft. Ich engagiere mich nur für mich selbst. Aber war das denn so schlecht?

Arthur, einmal in Fahrt, tischte jetzt alles auf, was ihn jemals gestört hatte, die kleinste Kleinigkeit. «Als wir neulich vom Chefredakteur zum Essen eingeladen waren, da hattest du Tinte am Finger. Weißt du, wie sehr ich mich deswegen geschämt habe? Aber seine Frau hat meine Qual bemerkt und hat dich mit in die Küche genommen, wo ein Dienstmädchen dir den Finger mit Essig gesäubert hat. Wochenlang danach habe ich es nicht gewagt, meinem Chefredakteur in die Augen zu blicken.»

Annett blinzelte, sie konnte sich nur vage daran erinnern, und dann vor allem daran, dass sie diese Begebenheit am nächsten Morgen beim Frühstück den Roeblings zum Besten gegeben hatte. Wash und Emily hatten gelacht, sehr gelacht, und sie noch ein-, zweimal damit aufgezogen.

«Und nun besuchst du auch noch das Technicum. Ich bin überzeugt, dass sich deine Mitstudenten schier darum reißen, dir die Tasche zu tragen. Wollen sie vielleicht auch noch Hausaufgaben machen mit dir?»

Sie schüttelte den Kopf. «Niemand hat mir bisher die Tasche getragen.»

Aber Arthur hörte gar nicht zu. «Und dann noch dein Gerede über eine Arbeit in einem Architekturbüro.» Er wackelte mit dem Kopf hin und her und äffte Annett nach: «Ich möchte Wolkenkratzer bauen.» Dann schlug er so fest mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser in die Höhe hüpften und sich die anderen Gäste nach ihnen umschauten. «Ich habe es satt», rief er aus. «Ich bin mit einer Suffragette verlobt, dabei wollte ich doch immer nur eine gute Ehefrau und Mutter.»

Sein Gesicht war hochrot, die Ader auf der Stirn trat hervor, und seine Augen glänzten, als müsste er mit den Tränen kämpfen. Da stand Annett auf. «Ich glaube, wir beide werden uns heute nicht so gut amüsieren», sagte sie leise. «Und noch ehe etwas geschieht, das wir nicht mehr gutmachen können, gehe ich lieber. Bleib sitzen, ich lass mir vom Portier eine Mietkutsche rufen.» Dann drehte sie sich um und ging, doch Arthur sprang auf, eilte ihr hinterher, hielt sie vor der Garderobe auf. Die Garderobenfrau saß hinter ihrer Theke, die dicken Arme unter dem Busen verschränkt, und schniebte leise im Schlaf. Arthur schenkte ihr nicht die geringste Beachtung. Er hielt Annett am Arm gepackt. «Ich meine es ernst», sagte er. «Du musst dich entscheiden, Annett. Entweder deine Arbeit oder ich.»

Und Annett blitzte ihn wütend an, riss sich los und sagte: «Keine Sorge, ich werde die richtige Entscheidung treffen.» Dann eilte sie hinaus, sprang, ohne sich noch einmal umzudrehen, in eine Mietkutsche und fuhr davon.

Später lag sie im Bett, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und dachte nach. Sie war ganz unsicher, und hin und wieder begann sie zu weinen, doch ihre Tränen trockneten jedes Mal recht schnell. Hatte Arthur recht? War sie keine richtige Frau? Sie dachte an alle, die sie kannte. Und sie musste zugeben, dass Arthur zumindest in gewissem Sinne recht hatte. Keine war wie sie. Nur Emily. Und nicht einmal sie lebte freiwillig so, wie sie lebte, sondern weil Washs Unfall sie dazu getrieben hatte. Annett dachte auch an ihre Mutter, an den Brief, den sie von ihr bekommen hatte.

Wir freuen uns so, dass du einen netten Mann getroffen hast und mit ihm verlobt bist. Ehrlich gesagt, meine Kleine, hatte ich die Hoffnung darauf, dass du ein normales Leben führst wie alle anderen auch, schon aufgegeben. Und natürlich möchten wir bei deiner Hochzeit dabei sein. Ich wünsche mir nichts mehr, als stolz wie eine Schneekönigin in der ersten Kirchenbank zu sitzen. Dafür würde ich sogar bis zum Nordpol fahren. Außerdem würde ich gern meinen Schwiegersohn in die Arme schließen, auch wenn ich ihn bisher nur aus deinen Briefen kenne. Und dein Vater ist wahnsinnig gespannt auf die Brücke.

Das hatte Annetts Mutter geschrieben, und Annett wusste, dass sie jedes ihrer Worte auch genauso meinte.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich derart zerschlagen, dass sie daran dachte, liegen zu bleiben. Aber Emily hatte, seit Annett hier bei ihnen lebte, noch keinen einzigen Tag wegen irgendwelcher Beschwerden zu Bett gelegen, und also kam das auch für Annett nicht in Frage. Sie erhob sich, massierte ihre Schläfen, um den drückenden, bohrenden Kopfschmerz loszuwerden, doch es half nichts. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und ließ sich nach dem Waschen und Anziehen vom Dienstmädchen einen Löffel voll Laudanum geben, erst dann begab sie sich in den Salon zum Frühstück. Emily wartete schon auf sie.

«Du bist gestern gar nicht so spät nach Hause gekommen, nicht wahr? Mir schien, ich hätte gegen 9 Uhr eine Kutsche gehört. Hast du dich gut amüsiert?»

Annett schüttelte den Kopf. «Nein. Eher war das Gegenteil der Fall. Aber wo ist Wash?»

Emily wies nach draußen. Dort fiel ein leiser Nieselregen, malte die Welt grau und dunkel. «Das Wetter, weißt du. Seine Knochen tun ihm weh. Er kann heute nicht aufstehen.»

Annett nickte. Es geschah öfter, dass Washington den ganzen Tag liegen bleiben musste.

«Warum hast du dich nicht amüsiert, meine Liebe?», wollte Emily wissen und schenkte sich aus einer silbernen Kanne noch etwas Kaffee ein.

Annett schluckte. «Er hat mich vor die Wahl gestellt.»

«Arthur?»

«Ja. Er verlangte, ich solle mich entscheiden, ob ich lieber eine richtige Frau sein und ihn heiraten will oder eine Suffragette.»

Emily runzelte die Stirn und stellte ihre Tasse ab. «Eine Suffragette. Was meint er damit?»

«Ganz einfach. Ich soll das Technicum aufgeben, meine Arbeit hier bei euch. Ich soll Kinder bekommen, ich soll darauf achten, dass die Dienstboten ihre Arbeit ordentlich verrichten, und wohltätigen Vereinen beitreten.»

«Du sollst also ein ganz normales Leben führen», stellte Emily fest.

«Ja.»

«Ein Leben, das auch ich früher geführt habe.»

Annett schwieg, wartete darauf, dass Emily weitersprach. Und das tat sie nach einem Seufzen. «Mein Leben, Liebes, ist nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen. Ich habe dir schon erzählt, wie einsam ich mich manchmal fühle, wie gerne ich noch mehr Kinder bekommen hätte.» Sie seufzte wieder, und Annett fand, dass sie nun unendlich traurig wirkte. «Du leidest also? Es ist nicht die Freiheit, die du dir erträumt hast?», fragte sie.

Emily schüttelte den Kopf. «Nein. Ich liebe mein Leben, verstehe mich bitte nicht falsch, und ich bereue keinen einzigen Tag davon. Aber ebenso gut weiß ich, dass es nicht das einzige Leben für mich ist. Als Ehefrau und Mutter wäre ich auch sehr glücklich geworden. Vor allem aber: Ich wäre weniger einsam.»

Und da wusste Annett überhaupt nicht mehr, was sie denken, wie sie sich entscheiden sollte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen.