An dem Tag, an dem Vivian sie vor die Tür gesetzt hatte, war Gottwitha noch eine Weile in der Nähe des Hauses geblieben. Sie war in ihre Kammer gelaufen, hatte die wenigen Sachen, die ihr gehörten, in einen Leinensack gepackt, hatte das gesparte Geld im Lederbeutel gezählt, dann hatte sie sich noch einmal in ihrer Kammer umgesehen. Schmerzte sie der Abschied? Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts. Nur, dass jetzt gerade wieder irgendetwas zu Ende gegangen war und sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie es weitergehen würde.
Sie hatte in einer Hausnische gewartet, hatte die Kutsche des Arztes kommen sehen und hatte auch gesehen, wie er nach ungefähr einer halben Stunde wieder weggefahren war. Danach hatte Bonnie das Haus verlassen, in der Hand einen Zettel. Als er an der Nische vorüberkam, in der sie stand, trat Gottwitha vor.
«Himmel! Du hast mich zu Tode erschreckt», rief Bonnie aus und senkte dann rasch seine Stimme. «Was tust du denn noch hier? Hat die Herrin dir nicht das Haus verboten? Geh lieber, ehe sie dich entdeckt.»
«Das werde ich. Ich werde gehen.» Gottwitha legte Bonnie eine Hand auf den Arm. «Aber zuvor muss ich wissen, wie es dem Herrn geht. Er ist doch nicht tot, oder?»
Bonnie schüttelte den Kopf. «Nein, das ist er nicht. Dem Herrgott sei Dank.»
«Was hat er also?»
Bonnie zuckte mit den Schultern. «Was weiß ich? Der Arzt spricht eine Sprache, die ich nicht verstehe. Ich weiß nur, dass der Herr jetzt viel Ruhe braucht und ein gutes Kräftigungsmittel. In zwei Wochen, so sagt die Herrin, wird alles wieder sein wie immer.» Er stutzte, kratzte sich am Kopf. «Nein, es wird natürlich nicht so sein wie immer, denn du wirst uns fehlen.»
Gottwitha wusste, dass das nicht stimmte. Sie war viel zu kurz bei den Taylors gewesen, um einen unauslöschlichen Eindruck zu hinterlassen. Und vor ihr hatte der Haushalt auch irgendwie funktioniert. Der Einzige, der sie vielleicht ein wenig vermissen würde in der nächsten Zeit, war Paul.
«Es ist nett von dir, dass du das sagst. Bitte richte Edda meine Grüße aus und bestelle ihr, dass ich alles Gute wünsche.»
Bonnie nickte, dann musterte er sie besorgt. «Was wirst du nun tun?»
Sie zuckte mit den Schultern, sah unentschlossen die Straße herauf und herab. «Ich habe keine Ahnung.»
Bonnie nickte. «Als der Arzt ihn untersucht hat, da hat der Herr gesprochen, ohne wach zu sein. Er hat nach dir gerufen, hat dich sein ‹Lebenslicht›, seine ‹Liebste› genannt.»
Gottwitha lachte leise. «Das wird der Herrin nicht gefallen haben, oder?» Bonnie verzog das Gesicht. «Nein. ‹Halt den Mund!›, hat sie ihn angefahren, obwohl er sie gar nicht hören konnte. Und dann hat sie seine Schultern gepackt und ihn geschüttelt, bis der Arzt seine Hände auf ihre gelegt und sie damit beruhigt hat.»
Gottwitha seufzte. «Ich habe ihn gern, den Herrn. Er war eigentlich immer nett zu mir.» Sie dachte an die kleinen Geschenke, die er ihr oft gebracht hatte: ein wenig Schokolade, einen halben Silberdollar, gezuckerte kleine Kuchen, eine Blume und einmal sogar ein weißes Batisthemdchen. Nun, für dieses Geschenk hatte sie sich geschämt, sie war ganz rot geworden, und Paul hatte darüber gelacht.
«Hör zu, ich muss weiter, muss zum Drugstore, der Herr braucht sein Stärkungsmittel», erklärte Bonnie. «Lass von dir hören, wenn du einmal in der Gegend bist.»
«Das mache ich», versprach Gottwitha tapfer und wusste doch, dass sie niemals wieder hierherkommen würde. Ja, sie wusste sogar, dass sie nicht in Philadelphia bleiben durfte. Die Stadt war groß, hatte etwas mehr als 600000 Einwohner, aber sie war nicht groß genug für Vivian und Gottwitha. Denn obgleich Vivian sich anfangs nichts hatte anmerken lassen, war Gottwitha doch klar geworden, dass sie niemals Freundinnen gewesen, und jetzt, nach der letzten Nacht, zu erbitterten und unversöhnlichen Feindinnen geworden waren. Und weil Gottwitha wusste, dass sie hier nicht bleiben konnte, solange Vivian ihr derart zürnte, wandte sie sich in die Richtung, in der der Bahnhof lag. Immerhin hatte sie in der Zeit bei den Taylors gut verdient, nicht zuletzt durch ihre speziellen Dienste, und sich einiges an Geld zur Seite gelegt. Allerdings wusste sie noch immer nicht, wohin sie gehen sollte, also beschloss sie, einfach den nächstbesten Zug zu nehmen, der abfuhr. Sie hatte sich noch nie gut für Dinge entscheiden können, und sie hatte das ja bisher auch nie gemusst. Amische Frauen entschieden ebenso wenig wie Dienstboten; die Entscheidungen wurden für sie getroffen, und ihre gesamte Freiheit lag darin, diese Entscheidungen auszuführen.
Plötzlich konnte sich Gottwitha nicht mehr bewegen. Ihre Füße wurden schwer wie Schiffspoller, ließen sich einfach nicht heben. Und ihr Kopf war leergefegt. Ein Stück neben ihr stand ein schwarzhäutiger Mann mit einem Karren, von dem herunter er Obst verkaufte. «Ist Ihnen nicht gut?», rief er ihr zu, aber Gottwitha konnte nicht einmal den Kopf schütteln. Ein großes, großes Grauen hatte sie gepackt. Sie zitterte, Schweiß lief über ihren Rücken, benetzte Stirn und Oberlippe. Sie fühlte ihr Herz wie rasend gegen ihren Brustkorb trommeln, doch das Schlimmste war, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie riss den Mund auf, aber es war nicht genug. Ihre Kehle war so eng wie ein Strohhalm, der Atem kam nicht durch, erreichte die Lungen nicht. Bunte Kreise wirbelten vor ihren Augen, und dann fiel sie. Fiel in die Dunkelheit, in die Stille.