Sechsundvierzigstes Kapitel

Ein Tag noch bis zur Hochzeit. Eine Nacht noch, dann würde sie Mrs. Susanne Pembroke sein. Und aus Tuuli würde Tuuli Pembroke werden. Oh, wie sie sich freute. Ihr Herz schlug einen schnelleren Takt, seit Liam um ihre Hand angehalten hatte. Und die Tage waren seither wie im Flug vergangen. Es war so viel zu tun gewesen, nachdem der Pfarrer, Reverend Jason Milton, das Aufgebot an der Kirche ausgehängt hatte. Das Kleid musste genäht, neue Schuhe mussten beschafft werden, von den Nachbarn mussten Stühle, Geschirr und Besteck geborgt werden, Brote, Kuchen und Torten mussten gebacken werden, andere Lebensmittel mussten beim Chinesen bestellt werden, und schließlich musste sogar noch ein Spanferkel gefunden werden, das man im Garten hinter der Bäckerei gut grillen konnte. Dann mussten der Garten und die Kirche mit Girlanden geschmückt und die Musikanten angeheuert werden. Der Wirt vom Saloon musste genügend Flaschen mit Scotch und Bourbon vorhalten, und dann mussten noch Einladungen geschrieben werden.

«Wer kommt von deiner Seite?», fragte Susanne ihren Bräutigam.

«Mein Bruder», antwortete er. «Ich habe sonst niemanden.»

«Keine Freunde?»

Liam kniff die Augen zusammen, dann schüttelte er den Kopf. «Nein, keine Freunde.»

Susanne nickte und fragte nicht weiter nach, denn sie hatte inzwischen begriffen, dass aus Liam nichts herauszubekommen war, wenn er nicht reden wollte. Also schrieb sie, ohne weiter mit ihm darüber zu sprechen, Einladungen an Madame Joyce, an Cherry, an den chinesischen Lebensmittelhändler, an den Besitzer der Mühle, von dem sie ihr Mehl bezog, und eigentlich auch an alle anderen, die sie kannte. Wirklich befreundet war sie nur mit Cherry und Madame Joyce, aber Oak’s Hill war so klein, dass sie praktisch mit allen, die hier wohnten, zumindest bekannt war. Zu gern hätte sie auch Annett und Gottwitha bei ihrer Hochzeit dabeigehabt, aber ihr war klar, dass Annett viel zu viel zu tun hatte, um eine so weite Reise auf sich zu nehmen, und von Gottwitha hatte sie bisher nichts gehört.

Ihr Kleid, das Hochzeitsgeschenk von Madame Joyce, hatte die Chinesin genäht. Es bestand ganz aus cremefarbener Spitze mit langen Ärmeln und hatte keinen Reifrock, sondern fiel schlicht herab bis auf die Schuhspitzen. Sie hatte überlegt, ob sie sich einen Blütenkranz auf den Kopf setzen sollte, war dann aber davon abgekommen, weil wirklich allen klar war, dass sie nicht als Jungfrau, sondern mit Tuuli auf dem Arm in die Ehe gehen würde. Dafür waren die Schuhe aus weißem Atlas, waren schön wie die Tanzschuhe der reichen Fräuleins in den Städten, und Susanne würde ihr Haar von Cherry aufstecken und mit Kämmen fixieren lassen, und Cherry würde ihr auch helfen, die Augen mit einem Kohlestift zu betonen, die Wimpern mit ein bisschen Schuhwichse schwarz zu färben, und sie würde Susanne helfen, rote Paste auf Wangen und Lippen aufzutragen. Zwei von Cherrys Mädchen würden die Gäste bedienen, der Koch aus dem Saloon würde das Fleisch grillen, und alle Frauen aus dem Städtchen würden Salate, Aufläufe oder Quarkspeisen mitbringen.

Susanne dachte daran, wie Liam und sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Dass sie ihn nicht hatte ausstehen können und wie er sie jeden Tag besucht und geneckt und sich langsam, aber sicher in ihr Herz geschlichen hatte. Er war ein so ganz anderer Mensch als der Grobian! Er würde gut für sie und Tuuli sorgen. Vielleicht, dachte Susanne, ist es Zeit, endlich alle Ängste und Sorgen hinter mir zu lassen. Zeit, endlich glücklich zu sein.

Am Tag vor der Hochzeit war ohnehin noch so viel zu erledigen, dass Susanne kaum Gelegenheit hatte, zu grübeln. Das Kleid war fertig und befand sich zum letzten Aufbügeln bei der Chinesin. Das Essen war soweit vorbereitet, die Kuchen und Brote gebacken, das Spanferkel lag in der Vorratskammer, die Getränke waren bestellt. Nur die Kirche musste noch geschmückt werden. Am liebsten hätte Susanne im Mittelgang an jeder Kirchenbank ein kleines weiß-grünes Blumensträußchen befestigt, aber hier in Montana waren Blumen so selten wie Eisbären. Also band sie eben das graubraune Präriegras büschelweise mit roten Bändern zusammen und schmückte damit die Kirche. Cherry half ihr dabei. Sie wickelte schmale Spitzenstreifen um die Grasbüschel, stellte einen Korb mit frischen roten Äpfeln auf den Altar als Zeichen der Fruchtbarkeit, hernach polierte sie den Abendmahlskelch, und als sie am späten Nachmittag mit allem fertig waren, hakte Cherry die Freundin unter und fragte: «Was wünschst du dir von mir zu deiner Hochzeit?»

Susanne blieb stehen und drückte Cherrys Hand. Sie hätte jetzt gern gesagt, wie sehr sie Cherry mochte, aber sie hatte das noch nie zu jemandem gesagt, sie kannte die rechten Worte nicht, wurde schamrot allein bei dem Gedanken. Und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Cherry ihre Freundin bleiben möge.

«Ich habe alles, was ich brauche», sagte sie schließlich.

«Ich weiß. Aber was wünschst du dir darüber hinaus?»

Und da wagte Susanne es. Sie blickte Cherry kurz an, senkte dann vor Verlegenheit den Blick und flüsterte: «Ich wünsche mir, dass du für immer meine Freundin bleibst.»

Tat sich der Boden auf und verschluckte sie? Lachte sich Cherry halb tot und fragte, wie sie denn auf diese absurde Idee käme? Verdunkelte sich die Sonne? Nein, nichts dergleichen geschah. Cherry breitete die Arme aus, drückte Susanne an sich und küsste sie herzlich auf beide Wangen. «Aber ich bin doch schon lange deine Freundin», erklärte Cherry. «Und ich werde es auch für den Rest meines Lebens sein. Das heißt, wenn es dich nicht stört, dass ich eine Hure bin.»

Hure. Früher, vor und während ihrer Ehe mit dem Grobian, da hatte Susanne genau gewusst, was eine Hure war: ein liederliches Frauenzimmer ohne Anstand, Moral, Manieren und Gottesfurcht. Ein Weib, das alle Sünden auf sich versammelte, ein Sündengefäß sozusagen. Schmutzig und so verderbt, dass jedes an «so eine» gerichtete Wort einen selbst beschmutzen würde. Das hatte sie gedacht, als sie noch keine einzige Hure kannte. Und nun kannte sie gleich mehrere und hatte nichts an ihnen auszusetzen. Sie waren ebenso verderbt wie alle anderen auch, ebenso tugendsam oder tugendlos, so liederlich oder ordentlich. Aber von Cherry und von Madame Joyce hatte Susanne gelernt, was Freundschaft war, was schwesterliche Zuneigung und Solidarität. Ohne Madame Joyce und Cherry wäre Susannes Leben nicht nur schwerer, sondern auch dunkler gewesen.

Am Abend lag Susanne neben Liam im Bett. Sie hatten darauf verzichtet, getrennt zu schlafen, wie es der Brauch war, denn sie hatten ja bereits all die Wochen zuvor beieinandergelegen und fanden es albern, jetzt mit der vorehelichen Ziererei zu beginnen. Also lagen sie nebeneinander, hatten sich an den Händen gefasst und starrten zur dunklen Decke hinauf.

«Hast du Angst vor morgen?», fragte Liam nach einer kleinen Weile.

«Angst? Ich weiß nicht. Ja. Vielleicht. Ein bisschen. Ich mache mir Sorgen, ob alles gut klappen wird.»

«Nein, das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, ob du Angst vor der Ehe hast.»

«Ja, das habe ich.» Susanne gab sich überhaupt keine Mühe, das Gegenteil zu behaupten. «Ich war schon einmal verheiratet, wie du weißt.»

«Ja. Du hast es mir erzählt. Dein Mann ist auf dem Schiff gestorben, nicht wahr? Aber woran eigentlich?»

Susanne schluckte, dann sagte sie leise und bedacht darauf, dass ihre Stimme nicht zu sehr bebte: «Er ist über Bord gegangen. In der Nacht.»

Sie wartete, ob Liam noch etwas sagen würde. Wenn, dann konnte sie ihr Geheimnis nicht länger für sich behalten, dann musste sie ihm gestehen, dass sie eine Mörderin war, dass er drauf und dran war, eine Ehegattenmörderin vor den Altar zu führen. Gleich, gleich musste sie den Mund aufmachen. Die Worte lagen ihr auf der Zunge – aber Liam schwieg. Lange. So lange, dass Susanne sich allmählich entspannte.

Und als er dann den Mund aufmachte, da war Susanne so überrascht, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.

«Auch ich habe Angst vor der Hochzeit und vor der Ehe», sagte Liam leise. «Ich möchte, dass du glücklich wirst. Ich möchte, dass wir – du, ich und Tuuli – eine glückliche Familie sind. Gerne möchte ich noch mehr Kinder mit dir, aber das Wichtigste ist mir wirklich dein Glück.»

Susanne hatte das Zittern in seiner Stimme gehört. Sie wusste, dass er jedes Wort so meinte, wie er es gesagt hatte. «Weißt du, Glück ist vielleicht nicht etwas, das einem einfach so zustößt. Glück ist etwas, das mit dem Willen zu tun hat. Ich jedenfalls will dir eine gute Ehefrau sein, will dich lieben und achten, dich wertschätzen und vor allem, dich glücklich machen.»

Er denkt zuerst an mich, dachte Susanne, und das rührte sie so, dass sie wiederum mit den Tränen kämpfte. Liam beugte sich über sie und küsste sie sanft, dann sagte er: «Schlaf gut, Liebste. Morgen wird ein anstrengender Tag.»

 

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne vom Himmel, als wäre das gesamte Gold Montanas zu ihr aufgestiegen. Die Luft war nicht zu kühl und nicht zu heiß, ein paar Schäfchenwolken tummelten sich über den Dächern von Oak’s Hill. «Das ist wahrlich ein Tag zum Heldenzeugen», meinte Madame Joyce. Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, nahm sie den bestickten Beutel, der ihr als Handtasche diente, rückte ihren Hut zurecht und sagte: «Also. Jetzt geht es los.» Sie umarmte zuerst Susanne, ganz vorsichtig, damit die Frisur und das Kleid keinen Schaden nahmen, dann umarmte sie auch Cherry. Ein letzter Blick, und sie verließen das Haus, liefen über die staubbedeckte Straße hinüber zur Kirche. Susanne hatte ihr weißes, wunderschönes Kleid gerafft und setzte vorsichtig einen Fuß im weißen Atlasschuh vor den anderen. Der Sheriff stand schon vor der Kirchentür. Er trug einen schwarzen Anzug, der an den Ellenbogen ein wenig abgetragen war, dazu einen frischgebürsteten Stetson und akkurat geschnittene, beeindruckende Kotletten im Gesicht. An seiner Brust glänzte der frischpolierte Sheriffstern, aber unter seinen Hosenbeinen sahen staubige Cowboystiefel mit schmaler Spitze hervor. Die drei Frauen hatten eben die Kirche erreicht, als die Glocken verstummten. Ein letzter Ton hing noch einen Augenblick in der Luft, dann strich sich der Sheriff über das Kinn und sagte: «Jede Braut ist hübsch, aber du, meine Liebe, schießt den Vogel ab. Wenn ich nicht schon vergeben wäre, wüsste ich nicht, ob ich dich vor dem Altar loslassen könnte.» Er lachte zufrieden, und auch Susanne lächelte, obgleich sie wusste, dass Wainwright jeder jungen Frau diesen Spruch mit auf den Weg gab.

Jetzt öffnete der Kirchendiener die schwere, zweiflüglige Tür, die Orgel brauste auf, und schon schritt Susanne am Arm des Sheriffs den Mittelgang entlang nach vorn zum Altar. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals. Ihre Kehle war trocken, die Hände mit leichtem Schweiß bedeckt. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Alles, was in Oak’s Hill laufen konnte, war gekommen. Sogar die Goldgräber, die Goldkäufer und die Eisenwarenhändler standen neben den grellgeschminkten Mädchen, die in der Zeltstadt der Goldgräber wohnten. Der Schmied neben seiner Frau hielt den Mund vor Bewunderung offen. Der Chinese und die Chinesin verbeugten sich leicht, als Susanne an ihnen vorüberschritt, und selbst der Wirt Moody hatte heute ein weißes Hemd mit weißer Hemdbinde zu seinen grauen Schaflederhosen angezogen.

Susanne erkannte die Gesichter ihrer Freunde und Bekannten links und rechts des Gangs nicht, sie sah die geschmückten Bänke nicht, erblickte nicht einmal die kleine Tuuli, die auf Madame Joyce’ Arm saß und beim Anblick ihrer Mutter fröhlich quiekte.

Susannes Blick war einzig auf Liam gerichtet, der neben seinem Bruder vor dem Altar stand. Er trug ebenfalls einen schwarzen Anzug, allerdings einen, der ihm viel zu klein war, sodass die Handgelenke aus den Ärmeln schauten und die Hosenbeine einen großzügigen Blick auf seine staubverschmierten Stiefel erlaubten. Sie schritt so schnurgerade dahin, als zöge Liam sie an Fäden zu sich. Dabei lief sie so schnell, dass Wainwright ein klein wenig außer Atem kam und gottfroh zu sein schien, die wilde Braut endlich an ihren Bräutigam übergeben zu können.

Und dann stand Susanne, am ganzen Leib zitternd, neben Liam und war trotz allem so glücklich, dass sie Mühe hatte, die Freudentränen zurückzuhalten. Er hielt ihre Hand, und seine Wärme und Ruhe übertrugen sich auf sie, sodass ihr wildjagendes Herz langsamer wurde, der Schweiß trocknete, ihre Kehle sich nicht mehr so rau anfühlte und sie nun die Umgebung wahrnehmen konnte. Sie sah den Reverend, dessen gütige Augen wohlwollend auf ihr ruhten. Sie hörte Tuulis Lachen und Madame Joyce’ Stimme, die die Kleine zu beruhigen versuchte.

Und dann hob Reverend Jason Milton die Hände, überblickte die gesamte Gemeinde und sprach: «Wir haben uns heute hier versammelt, um im Angesicht Gottes die Ehe zwischen Susanne und Liam zu schließen. Ist jemand unter den Anwesenden, der gegen diese Verbindung etwas einzuwenden hat? So möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.»

Susanne musste ein Kichern unterdrücken. Wer sollte etwas gegen ihre Verbindung einzuwenden haben? Sie lebte ja erst ein halbes Jahr in Oak’s Hill. Viel zu wenig Zeit, um sich richtige Feinde machen zu können. Aber plötzlich wurde es ganz still in der Kirche. Das Rascheln und Kruscheln, das Knistern und Tuscheln hörten auf, und dann erklang eine Stimme: «Ja, Reverend. Ich habe etwas gegen diese Verbindung einzuwenden. Denn diese Braut da ist bereits verheiratet, und zwar mit mir.»