Das Gemurmel in der Kirche schwoll an. Alle Gäste drehten sich zu dem Mann um, der in der letzten Reihe gesessen hatte und nun aufgestanden war und mit ausgestrecktem Finger auf Susanne zeigte.
Liam packte ihren Arm, so fest, dass sie leise aufschrie. «Was ist hier los?», wollte er wissen. «Wer ist dieser Mann?»
Susanne starrte mit großen Augen auf den Fremden und schüttelte fassungslos den Kopf. «Ich weiß es nicht. Beim Herrgott im Himmel, ich habe diesen Mann noch nie gesehen.»
«Schwörst du das?»
Sie blickte Liam fest in die Augen. «Ja, ich schwöre es beim Leben meiner Tochter und bei meiner Liebe zu dir.»
Da ließ Liam sie los, trat einen Schritt vor und fragte: «Wer sind Sie? Wie können Sie beweisen, dass das, was Sie behaupten, richtig ist?»
«Erlauben Sie, dass ich nach vorn komme?» Der Fremde hob eine kleine Aktenmappe auf, die neben ihm lag. «Ich habe Papiere, die das beweisen.»
Liam betrachtete Susanne mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen, dann nickte er.
Die Gäste in der Kirche begannen zu tuscheln, und der Pfarrer hatte sich ins Kirchengestühl gesetzt, dorthin, wo normalerweise der Chor saß. Alle Blicke folgten dem Mann, der gemessen nach vorn zum Altar schritt. Er war nicht besonders groß, auf alle Fälle kleiner als Liam. Obwohl er gerade mal dreißig Jahre alt sein mochte, lichtete sich sein Haar bereits. Er hatte ein ziemlich rundes Gesicht, kleine, eng beieinanderstehende Augen, die ihm ein verschlagenes Aussehen gegeben hätten, wäre da nicht der breite Mund gewesen, der wirkte, als würde er stets ein wenig lachen.
Susanne starrte auf den Mann und wusste ganz genau, dass sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er hier wollte. Und doch schlug ihr Herz heftig im Galopp, die Knie wurden ihr weich, und sie musste haltsuchend nach Liams Hand greifen. Ihre Zähne klapperten, ja sie zitterte am ganzen Leib. Wenn sie auch nicht wusste, wer dieser Mann war und was er von ihr wollte, so ahnte sie doch, dass es etwas mit dem Tode des Grobians zu tun haben könnte. «Hilf mir», flüsterte sie Liam zu, und der drückte ihre Hand ein wenig, aber sein Gesicht wirkte starr und zornig.
«Warten Sie! Bleiben Sie stehen!» Liam schob seine Hand vor, damit der Fremde nicht bis zum Altarraum vordringen konnte. Dann wandte sich Liam an den Reverend. «Ich bitte Sie, Reverend Milton, als Zeugen dazu.»
Seufzend erhob sich der Geistliche, versuchte mit einer Handbewegung die tuschelnde, flüsternde, raschelnde, summende Gemeinde zur Ruhe zu bringen, doch vergeblich. Schon war Liams Bruder aufgestanden und hatte sich mit drohend gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen neben Liam aufgebaut.
Der Fremde aber schien vollkommen ungerührt und angstfrei. «Darf ich Ihnen die Beweise vorlegen?», fragte er höflich.
Liam nickte, und Susanne spürte, dass auch er jetzt ein wenig zitterte.
Der Fremde entnahm seiner Tasche ein Papier und reichte es dem Reverend. «Hier, das ist die Eheurkunde. Schwarz auf weiß können Sie hier lesen, dass ich, Michael Kraus, mit Susanne, geborene Winter, verheiratet bin.»
Der Reverend studierte das Papier gründlich, hielt es sogar gegen das Licht, als könnte er so prüfen, ob der Stempel seine Gültigkeit hatte. Dann sah er nacheinander Liam und den Fremden an und nickte. «Das Papier scheint in Ordnung zu sein.»
«Aber ich kenne diesen Mann nicht!», schrie Susanne und brach dann in Tränen aus.
Liam räusperte sich und fragte mit rauer Stimme, die ihm nur schlecht gehorchen wollte: «Sie könnten das Papier gefunden haben. Wer sagt uns, dass Sie der sind, der Sie zu sein behaupten?»
Der Fremde nickte. «Ja», sagte er. «Ich könnte das Papier gefunden haben, und dann wäre ich selbstverständlich nicht Michael Kraus. Aber ich habe auch die Eheurkunde, sehen Sie selbst. Und ich habe noch weitere Papiere. Sogar einen Pass auf den Namen Michael Kraus habe ich.»
«Er ist tot», rief Susanne. «Er ist auf der Fahrt von Deutschland nach Amerika ums Leben gekommen!»
Der Fremde nickte und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. «Ja, das wäre zweifellos eine Möglichkeit. Aber wenn dem so wäre, meine Liebe, dann hättest du gewiss einen Totenschein, den du uns vorzeigen kannst.»
Susanne wurde blass, als sie das hörte. Ihre Lippen verloren jegliche Farbe, ihre Augen verdrehten sich, einmal noch seufzte sie auf, dann fiel sie einfach in Ohnmacht.
Madame Joyce schrie auf und eilte zu Susanne. Liam war sogleich auf die Knie gesunken und rief sie leise beim Namen, auch Cherry kam gelaufen, in der Hand schon das Riechfläschchen. Der Fremde aber stand ein Stück entfernt und betrachtete leise lächelnd Susannes Beine, denn beim Fallen war das Hochzeitskleid verrutscht. Es dauerte ein wenig, und Cherry musste das Riechfläschchen mehrfach schütteln und Susanne sogar einen Tropfen zwischen Nase und Lippen tupfen, aber schließlich kam Susanne wieder zu sich. Sie blickte als Erstes in Liams Gesicht und lächelte, doch sogleich schienen ihr die letzten Erlebnisse einzufallen, und ihr Gesicht verzog sich vor Angst und Schrecken. Sie wollte etwas sagen, doch Liam legte ihr einen Finger auf den Mund. «Pst. Nicht sprechen.» Dann rief er seinen Bruder und bat ihn, ihm zu helfen, Susanne in die Sakristei zu bringen. Die Gäste scharrten unruhig mit den Füßen. Ein kleines Kind quengelte. Ein paar der Goldgräber waren bereits hinausgegangen, um zu rauchen. Die Frauen neigten die Köpfe zueinander und tuschelten. Der Wirt stand im Gang und trommelte mit den Fingern auf die Lehne der Kirchenbank. «Was ist jetzt?», rief er. «Gibt es heute noch eine Hochzeit oder nicht?» Wenn einer schleunigst wissen musste, wie es nun weiterging, dann er, denn würde die Hochzeit ausfallen, so würde er rasch zum Saloon eilen und ihn öffnen, schließlich würden die Gäste auf keinen Fall direkt nach Hause gehen, sondern sich zuerst bei ihm treffen, um zu erfahren, ob jemand Genaueres wusste.
«Wie sieht es aus?», rief er noch einmal. Niemand antwortete ihm.
Liam und sein Bruder hatten Susanne aufgehoben und schickten sich an, sie in die Sakristei zu tragen, doch da stellte sich der Fremde ihnen in den Weg: «Wohin wollt ihr mit meiner Frau?», fragte er, und seine Stimme klang drohend dabei. «Ich dulde nicht, dass fremde Männer sie berühren.»
Da schritt der Sheriff ein. «Es ist noch nicht endgültig festgestellt, ob Sie tatsächlich Susannes Mann sind. Sie haben zwar die Papiere, aber das beweist noch gar nichts. Also besitzen Sie im Augenblick gar nicht das Recht, Ansprüche auf diese Frau zu erheben.»
Liam lächelte schmal und machte Anstalten, Susanne erneut wegbringen zu wollen, doch der Fremde mischte sich wieder ein: «Wenn ich nicht befugt bin, dann ist er es noch viel weniger!», rief er und deutete mit dem Finger auf Liam.
Madame Joyce drängelte sich nach vorn, stieß den Fremden rüde zur Seite. «Mir ist es gleich, wer hier Ansprüche auf sie erhebt. Zunächst kommt sie mit mir.»
Sie gab Cherry ein Zeichen, und zusammen hakten sie Susanne unter und schleppten sie mehr oder weniger aus der Kirche.
Der Sheriff legte seine Brautführerwürde ab und die Sheriffmiene an den Tag. Dann stieß er den Fremden in die Seite und befahl: «Sie kommen mit mir. Die Sache hier muss geklärt werden. Und du, Liam, kommst ebenfalls mit.»
Kurz darauf waren die Hauptakteure der Hochzeit verschwunden, die Gesellschaft löste sich auf und fand sich kurz darauf im Saloon zusammen.
Madame Joyce und Cherry brachten Susanne nicht in ihr Haus, sondern in das Bordell. Oben, im Salon von Madame Joyce, legten sie Susanne auf das Sofa. Die Chinesin hatte die kleine Tuuli gebracht, die sie nun ebenfalls in ihr Bettchen legten. Madame Joyce begab sich zu einer kleinen Bar. «Noch jemand einen Brandy? Ich brauche jetzt dringend einen.»
«Ich auch», erwiderte Cherry. «Und gießen Sie auch einen für Susanne ein. Ich glaube, sie braucht ihn am nötigsten.»
Madame Joyce schenkte ein und verteilte die Gläser. Dann ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer in einen Sessel fallen, streckte die Beine ein wenig, lockerte die Schultern und sagte: «Ich glaube, es wird Zeit, dass du uns erzählst, was hier los ist.»
Susanne fasste sich mit der Hand an die Stirn, als ob sie Kopfschmerzen hätte, dann sagte sie leise: «Wenn ich es doch wüsste!»
«Wer ist der Mann? Kennst du ihn? Ist das der Mann, mit dem du verheiratet warst? Ich dachte, der ist gestorben.» Madame Joyce rutschte in ihrem Sessel ein wenig vor.
«Nein!» Susanne schüttelte energisch den Kopf. «Ich schwöre beim Leben meiner Tochter, dass ich diesen Mann nicht kenne. Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, mein Mann wäre auf der Überfahrt von Deutschland nach Amerika ums Leben gekommen.»
«Hm. Aber einen Totenschein, der das beweist, den hast du nicht?», fragte Cherry.
«Nein. Der ist mir doch auf der Reise in den Westen gestohlen worden, zusammen mit meinem Geld. Von den Fremden, die wir aufgenommen hatten.»
Eine kleine Weile schwiegen die drei Frauen. Madame Joyce hatte nachdenklich die Lippen geschürzt, Cherry betrachtete Susanne mit hochgezogenen Augenbrauen, und Susanne selbst hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und tat einen herzzerreißenden Seufzer nach dem anderen.
«Stimmt, ich erinnere mich. Aber trotzdem: Was verschweigst du uns?», fragte Madame Joyce schließlich.
«Wieso glauben Sie, dass ich etwas verschweige?» Susannes Stimme zitterte ein wenig.
«Du fällst in Ohnmacht. Du weist den Fremden nicht zurück. Alles, was du seit seinem Auftauchen getan und gesagt hast, war von Angst begleitet. Und du hast uns zwar berichtet, dass dein verstorbener Mann Tuulis Vater ist, aber auf ihrem Taufschein steht ‹Vater unbekannt›. Du selbst hast es so gewollt.»
«Ja. Das stimmt. Ich mochte meinen Mann nicht leiden. Er war ein Grobian, ein Trinker. Tuuli sollte Gelegenheit haben, sich einen neuen Vater zu erdenken. Jedes Kind hat das Recht auf einen guten Vater, oder nicht?»
«Na ja, so einfach ist das wohl nicht», wiegelte Madame Joyce ab. «Das alles erklärt uns noch immer nicht dein Verhalten in der Kirche und die Tatsache, dass ein dir offensichtlich vollkommen Fremder hierherkommt und dich derart in Angst und Schrecken versetzt, dass du in Ohnmacht fällst.»
Langsam empörte sich Susanne ein wenig. «Wie hätte ich denn eurer Meinung nach reagieren sollen?»
Cherry sprang auf. «Eine Ohrfeige für den dreisten Lügner, wenn er denn einer ist, wäre wohl das Mindeste gewesen. Ich bin sicher, auch Liam hätte das von dir erwartet. So wie du aber reagiert hast, möchte ich nicht wissen, was er jetzt denkt.»
«Du meinst, er glaubt dem Fremden?»
Cherry verzog den Mund. «Würde mich jedenfalls nicht wundern.»
Madame Joyce hatte die Hände vor ihrem Bauch verschränkt. «Susanne, jetzt erzähl uns endlich, was auf der Überfahrt geschehen ist. Sonst können wir dir nicht helfen. Und im Übrigen hat Cherry recht. Dein Verhalten in der Kirche war sonderbar, und es muss dich nicht wundern, wenn Liam misstrauisch ist.»
Susanne sank auf das Sofa zurück und kaute auf ihrer Unterlippe. Sie tat das nicht, um nicht erzählen zu müssen, sondern weil ihr die Tränen in die Augen schossen. Und auch, weil sie sich so sehr schämte. Aber schließlich hielt sie es nicht mehr aus: «Ich habe ihn umgebracht», flüsterte sie. «Ich habe meinen Mann Michael Kraus getötet.»
«Was?» Cherry presste sich vor Schreck eine Hand vor den Mund, aber Madame Joyce blieb unbewegt. «So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht», meinte sie. «Dein ganzes Wesen zittert vor Angst. Zittert, seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe. Keine schwangere Frau geht freiwillig auf einen Treck in den Westen. Es sei denn, sie flieht vor ihrer Vergangenheit. Warum hast du ihn umgebracht? Und wie?» Sie stand auf, nahm die Brandyflasche und goss noch einmal alle drei Gläser voll. Susanne trank ihr Glas in einem Zug aus und hielt es Madame Joyce wieder hin, damit sie es noch einmal vollschenkte. Dann lehnte sich Susanne zurück und begann leise zu sprechen: «Michael war ein Grobian. Er hat mich geschlagen, erniedrigt und beschimpft, wann immer er konnte. Ich war einst ein hübsches Mädchen, das gern lachte. Bei ihm habe ich das Lachen verlernt. Auf der Überfahrt nahm seine Gewalttätigkeit noch zu, und eines Tages kam er während eines Sturmes nach oben zu mir an die Reling. Er beschimpfte und schlug mich, da ergriff ich die Gelegenheit und stieß ihn ins Wasser.» Erschöpft hielt Susanne inne. Cherry hatte ihr mit großen Augen zugehört. «Ist das wirklich wahr?», fragte sie, und Bewunderung für Susanne überzog ihr Gesicht.
«Ja. Das ist wirklich wahr.»
Madame Joyce sah Susanne forschend an: «Dann musst du ja riesige Kräfte haben. Na gut, schwach bist du nicht. Aber bist du wirklich so stark, einen ausgewachsenen Mann über eine brusthohe Reling zu stürzen?»
Susanne fühlte, wie die Röte ihr ins Gesicht kroch. Doch sie biss die Lippen aufeinander und schwieg.
Madame Joyce erhob sich und setzte sich zu Susanne auf das Sofa, nahm deren Hand in die ihre. «Liebes, ich frage dich nicht, um dich zu verletzen. Ich frage dich, weil du vielleicht Zeugen dafür brauchen wirst, die gesehen haben, wie dein Mann ertrank, und die den Fremden als Lügner entlarven. Verstehst du?»
Susanne nickte.
«Und habe ich recht? Gibt es Zeugen?»
Wieder nickte Susanne.
«Wo sind sie jetzt?»
«Eine, meine Freundin Annett, lebt in New York im Hause des Brückenbauers Roebling.»
«Der, der eine Brücke über den East River bauen will?»
«Genau der. Sie ist ebenfalls an diesem Bau beteiligt.»
«Das ist gut», meinte Madame Joyce. «Das ist sogar sehr gut. Mr. Roebling ist sehr einflussreich. Kein Gericht wird es wagen, jemanden, der ihm verbunden ist, vor Gericht der Lüge zu bezichtigen.»
Sheriff Wainwright war sauer. Er hatte sich auf eine Hochzeit mit gutem Essen und gutem Whiskey gefreut, auf ein bisschen Musik und ein lustiges Tänzchen, stattdessen hockte er nun in seinem Büro, vor sich einen Mann, den er schon auf den ersten Blick nicht ausstehen konnte, und dazu Liam, der seine Sympathie genoss, den er aber seit den Vorkommnissen am heutigen Tag für einen Trottel hielt.
«Sie behaupten also, der rechtmäßige Ehemann unserer Mitbürgerin, der Bäckerin Susanne, zu sein. Wie wollen Sie das beweisen?» Der Sheriff suchte in der Schublade seines Schreibtisches nach Zigaretten, aber er fand zu seinem großen Ärger nur ein leeres Päckchen. Er überlegte, ob er seinen Jungen zum Chinesen schicken sollte, damit er ihm Zigaretten kaufte, aber dann fiel ihm ein, dass der Chinese ja nicht in seinem Laden war, sondern höchstwahrscheinlich im Saloon. Seine Laune wurde daraufhin noch schlechter.
«Also?», blaffte er den Fremden an.
Dieser holte wiederum den Trauschein aus seiner Tasche und legte ihn vor den Sheriff auf den Tisch, ohne jedoch die Hand davon zu lassen.
«Wie ich schon sagte: Der Trauschein könnte gefunden worden sein.»
«Ja, da haben Sie recht. Aber ich habe auch noch einen Pass.»
«Auch den könnten Sie gefunden oder irgendwo gekauft haben.» Der Sheriff seufzte verdrießlich und fragte gequält: «Haben Sie, wenn schon keine gescheiten Beweise, wenigstens eine Zigarette für mich?»
Der Mann zog bedauernd die Schultern hoch. «Es tut mir leid, ich rauche nicht.»
Liam zog ein Päckchen aus seiner Tasche und warf es dem Sheriff hin. «Da, nimm die.»
Wainwright dankte erleichtert, zog eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an und sog genussvoll den Rauch ein.
«So. Weiter geht es!», sagte er mit einer Stimme, die eindeutig frischer klang.
«Wenn Sie meine Beweise nicht anerkennen wollen, dann bleibt mir nur die Hoffnung, dass meine Frau zur Vernunft kommt und sich zu dem bekennt, der ihr vor Gott und den Menschen zur Seite gegeben wurde.»
Der Fremde betrachtete Liam kurz von der Seite. Liam rauchte ebenfalls und sah dem Qualm nachdenklich hinterher.
«Warum erzählt sie, dass sie Witwe ist, wenn sie doch einen Mann hat?», wollte Liam wissen, aber der Fremde zuckte nur lächelnd mit den Schultern.
Dem Sheriff wurde das Ganze langsam zu blöd. «Die Sache ist so: Die eine Partei könnte recht haben, die andere Partei aber auch. Deshalb verfahren wir folgendermaßen: Ich schicke die Parteien nach Hause, damit sie die Ereignisse überdenken können. Morgen zur selben Zeit erwarte ich Sie alle hier, und wir werden dieses Gespräch fortsetzen. Kommen wir dann nicht zu einem Ergebnis, muss die Sache dem Gericht vorgetragen werden.» Er schlug mit der flachen Hand auf den hölzernen Tisch, stand auf, zog sich die Stiefel von den Füßen, setzte sich wieder hin und legte die Füße auf den Tisch. Liam hatte wie versteinert dagesessen, unfähig, sich zu rühren. Der Fremde aber hob die Hand: «Ich habe einen Antrag.»
Der Sheriff rollte genervt mit den Augen. «Hier stellt niemand außer mir einen Antrag. Was wollen Sie?»
«Nur das, was mir zusteht. Ich möchte mit meiner Frau ein kurzes Gespräch unter vier Augen führen.»
Liam sprang auf. «Sie ist nicht seine Frau. Ich erlaube nicht, dass er mit Susanne spricht.»
Der Sheriff, dem die ganze Sache mittlerweile ein wenig Spaß zu machen schien, grinste. «Deine Frau ist sie auch nicht. Deshalb hast du hier gar nichts zu erlauben, Liam.» Er zog an seiner Zigarette, blies einen wunderschönen Rauchring und sah ihm hingerissen nach. Dann bestimmte er: «Du, Liam, hast mit ihr gesprochen. Deshalb soll der Fremde nun auch mit ihr sprechen dürfen.» Er zeigte mit dem Finger auf den Fremden. «Fünf Minuten, mehr nicht.»
Der Fremde verzog den Mund. «Fünf Minuten sind eine sehr kurze Zeit. Mister Pembroke hatte in der Vergangenheit Millionen mal so viel davon.»
«Wollen Sie mit mir diskutieren? Das sollten Sie besser nicht tun, sonst sind Ihre fünf Minuten schon jetzt vorbei. Und im Übrigen muss ich mich schon wundern, dass Sie Ihre Frau – wenn sie es denn ist – alleine in den Wilden Westen haben reisen lassen.» Er rief nach seinem Jungen und befahl ihm, Susanne zu holen. Nur fünf Minuten später war sie da und schaute von einem zum anderen. Sie begriff noch immer nicht so recht, was hier eigentlich geschah. Doch sie nickte dem Sheriff zu und folgte dem Fremden, der ihr die Tür aufhielt, nach draußen. Dort hockte er sich auf die Stufen, die von der Veranda zur Straße führten, holte einen hölzernen Zahnstocher aus seiner Hosentasche und kaute darauf herum.
«Wer sind Sie?», fragte Susanne. Sie stand an das Geländer gelehnt und hielt sich krampfhaft daran fest, weil ihre Knie zitterten und sie Angst hatte, umzufallen.
«Dein Mann bin ich, wer sonst?» Er blickte zu ihr hoch und grinste.
«Sie und ich wissen, dass es nicht so ist. Mein Mann ist tot. Also, wer sind Sie?»
«Ich bin Ihre Rettung.»
«Meine was?»
«Hören Sie, wir können mit offenen Karten spielen. Ich bin auf demselben Schiff nach Amerika gereist wie Sie. Ich habe gesehen, wie Sie Ihren Mann über Bord gestoßen haben. Sie und ihre sauberen Freundinnen. Sie haben ihn ermordet!» Er wurde lauter beim letzten Satz. «Es ist ein Zufall, dass ich Sie hier getroffen habe. Ich hatte gehofft, Sie in New York aufzuspüren, hatte aber kein Glück. Dann bin ich in den Westen gereist, des Goldes wegen. Und gestern sah ich Sie dann. Ich dachte, diese Chance hat mir der liebe Gott gegeben. Tja, meine Liebe. Pech für Sie. Aber was bedeutet ein solches Pech schon für Sie – eine Mörderin.»
«Pst. Seien Sie still. Was wollen Sie jetzt von mir?»
Wieder grinste der Fremde, und Susanne hätte sich am liebsten vor Ekel und Abscheu geschüttelt. «Sie sind eine Frau mit einem gutgehenden Geschäft. Sie wohnen in einem schönen Haus, es geht Ihnen gut. Nun, ich hatte nicht so viel Glück. Als Ihrem Mann stehen mir Ihr Vermögen und der Laden zu. So einfach ist das.»
Susanne sah schwarze Kringel vor ihren Augen tanzen. Ihr Herzschlag war kaum mehr zu spüren. Kalte Schauer rannen ihr die Wirbelsäule hinab. «Sie wollen mich erpressen?» Leise klang ihre Stimme. Leise und fast schon zerbrechlich.
«Nennen Sie es, wie Sie wollen», erwiderte der Fremde gleichmütig. «Sie haben Ihr Glück gemacht, und ich sehe nicht ein, warum mir nicht dasselbe zusteht.»
Susanne nickte. «Sie verlangen also von mir, dass wir jetzt dort hineingehen und ich erkläre, mir wäre wieder eingefallen, dass ich ja doch mit Ihnen verheiratet bin. Und wenn ich das nicht tue, so werden Sie dem Sheriff erzählen, dass ich meinen Mann umgebracht habe. Ist das soweit richtig?»
Der Fremde grinste und spuckte seinen Zahnstocher in den Straßendreck. «Richtig. Das ist der Plan.»