Neunundvierzigstes Kapitel

«Du?», wiederholte Gottwitha fassungslos. «Was in aller Welt machst du denn hier?»

Vivian drängte sich vor und erwiderte: «Das hättest du nicht gedacht, nicht wahr, meine Liebe? Ein dummes Huhn wie du ist nicht für die Freiheit gemacht, das ist mir in der Zwischenzeit klar geworden. Kein Wort hast du von dem verstanden, was ich dir erzählt habe. Frauen wie du verdienen es nicht, selbstbestimmt zu leben.» Sie lächelte hämisch und verließ das Zimmer.

«Nein, das hätte ich wahrlich nicht gedacht», murmelte Gottwitha, dann richtete sie sich in ihrem Bett auf und griff nach ihrem Haar, das nicht bedeckt war. Sogleich erfasste sie die Scham, und sie zog die Bettdecke bis zum Hals hoch.

«Wie geht es dir?», fragte Samuel Stoltzfuß und knetete den Hut in seiner Hand.

«Es geht so», erwiderte Gottwitha. «Warum bist du gekommen?»

«Das ist nicht so einfach zu sagen.»

«Lass dir Zeit.»

«Darf ich mich setzen?»

«Natürlich, entschuldige bitte. Und falls du ein Glas Wasser trinken möchtest, bediene dich von meinem Nachtkasten.»

Samuel tat wie Gottwitha ihm geheißen, schenkte sich aus der Karaffe ein Glas mit Wasser ein und stürzte es in einem Zug herunter. Dann setzte er sich auf den Schemel, der vor dem Waschgeschirr stand, und sah Gottwitha an. Ja, er starrte geradezu, ohne ein einziges Wort zu sagen, und Gottwitha schien es, als würde er ein winziges kleines bisschen lächeln. Misstrauisch betrachtete sie ihren Mann. Er schien sich verändert zu haben, seine Gesichtszüge waren weicher, die Strenge war aus seinem Blick verschwunden. War er gekommen, um sie zurück in das amische Dorf zu holen? Sie musste schlucken bei diesem Gedanken. Sie war zu lange weg gewesen, hatte inzwischen ein Stückchen von der Welt gesehen. Nicht viel, wahrlich nicht viel, aber doch so viel, dass sie die Amischen mit anderen Augen sah. Sie lebten ja nicht, die Amischen. Sie warteten auf den Tod und freuten sich zu Lebzeiten schon auf das Himmelreich. Das konnte nicht richtig sein. Schließlich hatte Gott, der Herr, den Menschen nach seinem Bilde geschaffen. Und Jesus Christus hatte die Sünden der Welt auf sich genommen. Das hieß doch, dass die Menschen frei sein sollten. Frei und dankbar. Frei und froh. Es war ja nicht so, dass das Leben der Amischen nicht froh wäre. Es wurde gelacht in den Dörfern, das schon, aber irgendwie hatte sie sich immer unter Beobachtung gefühlt. Hier, in Philadelphia, war das nicht so gewesen. Sie hatte mit Bonnie und seiner Frau ungehemmt reden können. Und selbst Vivian gegenüber hatte sie sich freier geben und äußern können als in Gegenwart ihrer Schwiegermutter. Und eines hatte sie hier in der Stadt begriffen: Sie wollte keine Angst mehr haben vor dem Leben, keine Angst mehr vor dem, was andere über sie dachten. Sie war nicht schlechter und nicht besser als andere Menschen auch. Das Wichtigste aber war, dass sie endlich nach und nach herausfand, was für ein Mensch Gottwitha Stoltzfuß eigentlich war.

«Wieso bist du hierhergekommen?», fragte sie wieder. Dann fiel ihr Blick auf Samuels Hand. «Wie geht es dir? Hast du noch große Schmerzen?»

«Danke, dass du danach fragst. Ich kann die Finger nicht mehr bewegen, tauge nicht mehr viel.» Es schmerzte Gottwitha überraschenderweise, ihren Mann so reden zu hören. «Dein Wert hängt doch nicht von ein paar steifen Fingern ab», erwiderte sie, aber Samuel nickte. «Doch. Das tut er. Ich kann dem Herrn mit meiner Arbeit nicht mehr so viel Ehre erweisen.» Er ließ deprimiert den Kopf sinken und seufzte.

Das war es. Genau das war es, was ihr das erneute Leben in einem amischen Dorf nicht mehr möglich sein ließ. Der Anspruch. Die Erwartung, so gut wie Gott sein zu müssen. Ganz gleich, dass dies nicht möglich war und dass man jeden Tag erneut daran scheitern musste.

«Du bist derselbe Mensch wie vor deinem Unfall», sagte sie, aber Samuel schüttelte nur hoffnungslos den Kopf und ließ ihn noch weiter sinken. Das rüttelte sie auf. Sie fühlte plötzlich starkes Mitleid mit Samuel, mit sich selbst, mit den anderen Amischen, die glaubten, sie würden nur geliebt, wenn sie in Gottes Nähe kämen. Dabei liebte Gott doch alle Menschen, selbst die Sünder, ja die reuigen Sünder vielleicht sogar ein wenig mehr als die Gerechten.

Sie setzte sich auf, sprach mit mehr und mehr Nachdruck. «Du bist ein guter Mensch, Samuel. Das bist du. Du hattest in deinem Leben nicht viel Glück mit den Frauen, aber vielleicht lag nicht einmal das an dir. Hast du dir je eine danach ausgesucht, ob sie zu dir passt? Nein, du hast gemacht, was man dir gesagt hat, hast mich geheiratet, ohne mich zu kennen. Das kann doch nicht gutgehen. Sieh dir Noah und Rebecca an. Die beiden kennen sich seit Kindheitstagen. Sie kennen einander so gut wie sich selbst. Sie wussten vom ersten Tag ihrer Ehe an, was sie vom anderen halten durften. Wir nicht.»

Samuel nickte. Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Hände ineinander verschränkt. Sein blaues Hemd war ein wenig zerknittert, was Gottwitha beinahe mehr erschütterte als Samuels Stimmung.

«Ich bin dir ein schlechter Ehemann gewesen, ich weiß», murmelte er.

«Wie bitte?»

Gottwitha glaubte wirklich, sich verhört zu haben.

«Ich bin dir nie ein guter Ehemann gewesen», wiederholte Samuel und wagte es nicht, den Blick zu heben und seiner Frau ins Gesicht zu sehen. «Ich verstehe, dass du von mir weggelaufen bist.»

«Nein!», widersprach Gottwitha. «Ich war dir eine schlechte Ehefrau. Ich habe es nie geschafft, deine Mutter und dich zufriedenzustellen. Mein Essen hat euch nicht geschmeckt, meine genähten Quilte waren euch zu bunt, und meine Zärtlichkeiten haben dich, Samuel, abgestoßen.» Sie seufzte. «Ich tauge nicht zu einer amischen Ehefrau.»

Jetzt erhob sich Samuel. «Darf ich mich zu dir setzen?», fragte er leise.

Gottwitha war perplex. Noch nie hatte Samuel ihre Nähe gesucht. Jetzt verließ er den Schemel neben dem Nachtkasten, ließ sich auf der Bettkante nieder und griff sogar nach ihrer Hand. Sein Griff war hart und fest, und eigentlich wollte Gottwitha ihre Hand aus diesem Eisengriff am liebsten befreien, aber sie las in Samuels Gesicht, dass er diese Geste weich und freundlich meinte. Seine Augen wirkten müde und waren von dunklen Ringen umschattet. Sein Bart hing ungekämmt und zauselig über seinem Kinn, die Wangen waren eingefallen, das blaue Hemd zerknittert, und die Schuhe starrten vor Staub. Er sah aus, als wäre er den ganzen Weg vom Dorf bis hierher zu Fuß gegangen.

«Sie hat dich geholt, nicht wahr?», fragte Gottwitha und hatte das Gefühl, nicht einen Augenblick länger im Ungewissen bleiben zu können.

«Sie musste mich nicht holen. Ich wäre sowieso gekommen. Ich meine, ich habe dich gesucht. Aber ich wusste ja nicht, wohin du gegangen warst. Und Philadelphia ist eine große Stadt.»

Die letzten Worte verschlugen Gottwitha schier den Atem. «Du hast mich gesucht? Ist das wahr?»

Samuel nickte und drückte Gottwithas Hand noch fester. Er wich ihrem Blick aus und flüsterte mit rauer Stimme: «Ja, das habe ich. Weil ich dich liebe.»

Am liebsten wäre Gottwitha hochgefahren, so erschrocken war sie über diese Worte. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, dass er sie liebte.

«Du liebst mich?» Gottwitha schüttelte fassungslos den Kopf. «Aber das kann doch gar nicht sein. Meine Zärtlichkeiten. Du hast sie gehasst. Ich dachte, du hasst auch mich.»

«Nein.» Samuel hob die Hand und machte Anstalten, über Gottwithas Haar zu streicheln. Etwas, das er noch nie getan hatte und das Gottwitha so bestürzte, dass sie den Kopf einzog, als fürchtete sie, geschlagen zu werden.

«Nein, ich habe dich nie gehasst. Ich hatte einfach Angst.»

«Angst?»

«Ja. Du hast mich verändert, hast mich weich gemacht, empfindsam. Du hast Gefühle in mir geweckt, die ich nicht kannte. Auch Begehren war dabei.»

«Und das Begehren ist eine Sünde.»

«Ja. Und diese Sünde kam von dir. So habe ich mir das zurechtgelegt, und der Bischof und meine Mutter haben mich in diesem Irrglauben bestärkt. Und dann warst du weg. Von einem Tag auf den anderen einfach weg. Ich wusste sofort, dass du mich verlassen hast und dass das meine Schuld war. Aber ich war noch zu krank, konnte nichts tun, musste warten, bis ich wieder gesund war. Und dann habe ich angefangen, dich zu suchen. Ich war in allen Dörfern in der ganzen Gegend. Aber niemand hatte etwas von dir gehört.»

«Auch Dana nicht?» Gottwitha musste wider Willen lächeln.

«Nein, auch Dana hat mir nichts erzählt. Aber als dann eines Tages Vivian erschien, da schickte sie sie zu mir ins Dorf. Und jetzt bin ich hier.»

«Wie konnte Vivian herausfinden, woher ich komme?»

Samuel lachte leise. «Du kannst nicht verbergen, dass du eine Amische bist. Deine Kleidung, dein Gebaren. Es war nicht schwer für deine Herrin, das herauszufinden. Sie musste einfach nur ins Lancaster County fahren und fragen. Wie du weißt, kennen sich die Amischen im Umkreis von hundert Kilometern alle, weil viele miteinander verwandt sind.»

Er blickte sie so treuherzig an, dass sie sich aufrichtete und ihm einen sanften Kuss auf die Wange gab.

«Und nun?», fragte sie.

«Ich möchte, dass wir zusammenbleiben. Für immer. Nicht einen einzigen Tag mehr möchte ich von dir getrennt sein.»

Gottwitha schüttelte den Kopf und spürte eine unfassbar große Traurigkeit in sich aufsteigen. «Ich kann nicht, Samuel. Ich kann nicht mehr in einem amischen Dorf leben. Selbst, wenn ich es wollte. Ich möchte gottgefällig leben, das ja, aber niemals mehr von anderen bestimmt werden. Außerdem hat man mich mit dem Bann belegt.»

Da strahlte Samuel über das ganze Gesicht. «Ja. Der Bischof hat dich verbannt. Aber auch ich möchte gar nicht mehr zurück. Jedenfalls nicht, wenn du es nicht willst. Hier, sieh!» Er zog einen Lederbeutel aus seiner Hosentasche und reichte ihn Gottwitha. «Hier sind dreihundert Dollar. Mein Erspartes. Ich dachte, wir könnten in eine Stadt gehen und einen kleinen Laden eröffnen. Einen Holzwarenladen vielleicht. Am liebsten hätte ich eine eigene Schreinerei, aber mit meinen kaputten Fingern geht das nicht mehr. Mit Holz kenne ich mich trotzdem gut aus.»

«Meinst du das ernst?» Gottwitha kam aus dem Staunen einfach nicht heraus. Etwas in ihr blieb unsicher, obgleich ein anderer Teil von ihr Samuel jedes Wort glaubte. «Du würdest sogar nach New York gehen?», fragte sie. «Du würdest außerhalb der amischen Gemeinschaft leben, würdest unter den sittenlosen Englischen leben wollen? Du würdest die Landwirtschaft aufgeben und dir vielleicht eine Beschäftigung suchen, bei der du nicht dein eigener Herr bist? Das alles würdest du für mich tun?»

Sie hatte sich das nicht überlegt, sondern einfach nur drauflosgeplappert. Vielleicht weil Samuel immer so getan hatte, als wäre New York das Sündenbabel schlechthin. Vielleicht wollte sie prüfen, ob er es ernst meinte. Und jetzt, als er nickte, da wusste sie mit Sicherheit, dass er sie wirklich liebte.

«Ja. Mit dir würde ich überall hingehen», sagte er leise, und sie sah, wie seine Augen feucht wurden, und da war sie gewiss, dass er sie immer geliebt hatte, doch sie erkannte auch, dass er der Liebe nicht hatte trauen wollen. Ja, er hatte sogar dagegen angekämpft. Aber die Liebe. Nun ja, sie hatte gesiegt. Gottwitha lächelte und nickte, als hätte sie das schon immer gewusst, aber auch sie erfuhr die Kraft der Liebe erst in diesem Augenblick.

Sie entzog ihm ihre Hand, schlang die Arme um seinen Hals und sagte leise: «Ja. Lass uns nach New York gehen und ein neues Leben beginnen.»