Susanne wollte Annett schreiben, wollte ihr schildern, in welcher Angst sie schwebte. Sie wollte sie bitten, vor Gericht für sie auszusagen, doch Liam schüttelte nur den Kopf. «Wir gehen fort», sagte er. «Wir gehen dorthin, von wo ich komme. Nach Virginia. Madame Joyce kann mitkommen, wenn sie mag.»
«Und was werden wir in Virginia machen?» Susanne stiegen schon wieder die Tränen in die Augen, aber Liams Entschlossenheit tröstete sie ein wenig. «Na, was schon? Das, was wir am besten können. Wir eröffnen eine kleine Bäckerei.»
«Und …» Susanne schniefte. «Und was wird mit dieser hier?»
Liam saß im Schaukelstuhl auf der Veranda vor Cherrys Haus, hatte Tuuli auf dem Schoß und schaukelte so heftig, dass die Kleine auflachte. Susanne stand an das Geländer gelehnt, zu unruhig, um irgendwo sitzen zu können.
«Diese Bäckerei bekommt der Fremde. Er will nicht dich. Und schon gar nicht Tuuli. Er will haben, was du dir geschaffen hast. Das hat er dir Wort für Wort so gesagt. Und ich bin sehr dankbar, dass du dir Bedenkzeit erbeten hast.»
«Ich verstehe es einfach nicht. Ich habe den Kerl wirklich noch nie zuvor gesehen.»
Liam sah Susanne fest in die Augen. «Ja, das glaube ich dir. Aber du selbst hast mir gerade erzählt, was wirklich auf dem Schiff geschehen ist und welche Angst du nun deswegen hast. Deshalb sollten wir ihm geben, was er will: die Bäckerei und ein paar Dollar. Und wir gehen weg von hier.»
Susanne senkte den Kopf, malte mit der Schuhspitze Kringel auf den Boden. «Ich habe noch nie zuvor etwas besessen», sagte sie leise. «Jetzt habe ich die Bäckerei, muss mir keine Gedanken machen, wo das Brot für morgen herkommt. Wenn ich sie aufgebe, dann habe ich wieder nichts.»
Liam stand auf, hielt Tuuli sanft im Arm und strich Susanne zärtlich über die Wange. «Sind sie dir so wichtig? Das Geld und der Besitz?»
Susanne zuckte mit den Schultern. «Nicht das Geld an sich, nicht der Laden und die Backstube. Aber das, was sie verkörpern.»
«Und was ist das?»
Jetzt sah sie auf. «Freiheit. Unabhängigkeit.»
«Ich verstehe.» Liam zog sie an sich. Tat es auf eine Art, die Tuuli mit einschloss. Dann sagte er: «Wirklich frei und unabhängig wären wir doch gerade, wenn wir uns jetzt die Freiheit nähmen, mit unserem Geld anderswo neu anzufangen. Du beherrschst dein Handwerk, wir sind mindestens zu dritt, vielleicht begleitet Madame Joyce uns – und ein Haus, das auch zur Backstube taugt, werden wir schon auftreiben.»
Susanne sah Liam eine ganze Weile lang an, schließlich nahm sie seine Hand, drückte sie und nickte: «Also gut.»
Liam lächelte. «Ich kümmere mich um alles Weitere», sagte er und legte Susanne die kleine Tuuli in den Arm. Entschlossenen Schrittes ging er die Mainstreet hinüber zum Saloon. Hier waren noch immer alle die versammelt, die eigentlich um diese Zeit die Hochzeit hatten feiern wollen. Auch der Fremde war darunter. Er stand allein an der Bar, misstrauisch beäugt von den Einheimischen und den Goldgräbern. Liam stellte sich neben ihn. «Mach uns zwei Whiskey, Moody», bat er den Wirt. Der nickte, und kurz darauf standen die beiden Gläser auf dem blankgescheuerten Holz der Theke. Liam schob dem Fremden ein Glas zu. «Wie heißt du?», fragte er. Der Fremde verzog verächtlich den Mund. «Wie soll ich schon heißen? Michael Kraus natürlich.»
«Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.»
Jetzt richtete sich der Fremde ein wenig auf. «Was ist mit ihrem Laden? Was hat sie gesagt?»
«Was soll schon damit sein? Sie ist einverstanden, mit dir zu gehen und als deine Frau zu leben. Darum geht es dir doch, oder etwa nicht? Aber der Laden bleibt nun einmal hier. Ich werde ihn weiterführen.»
«Er gehört ihr», zischte der Fremde gefährlich leise. «Wage es ja nicht, mir wegzunehmen, was mir zusteht.» Er klopfte dabei auf seine Hüfte, an der ein Pistolenholster hing. Aber Liam lachte auf. «Du hast recht, hier im Wilden Westen ist schon so mancher in der Prärie verlorengegangen. Unseren Sheriff zumindest würde es nicht verwundern. Ich glaube kaum, dass er groß nach dir suchen ließe.»
Der Fremde trank erneut einen Schluck. «Ich habe den Trauschein.» Er schwieg einen Augenblick, ehe er weitersprach. «Ich hänge nicht besonders an Papier, würde den Wisch sogar verkaufen, wenn es sich lohnen würde.»
Liam nickte. Darauf hatte er gewartet. «Wie viel?»
«Eintausend Dollar.»
«Ha! Sonst noch etwas?»
«Achthundert Dollar.»
Liam schüttelte den Kopf. «So viel Geld haben wir nicht.»
«Die Bäckerei mit allem, was dazugehört, und obendrein noch zweihundert Dollar.»
«Nur die Bäckerei. Nichts sonst.»
Der Fremde trank den Whiskey aus und knallte das Glas auf den Tresen. «Abgemacht.»
«Übermorgen können Sie den Laden übernehmen», sagte Liam, dann rief er den Sheriff zu sich.
Wainwright, eine dicke Zigarre im Mund, kam herangeschlendert. Er war noch immer ein wenig schlecht gelaunt, weil ihm ein Hochzeitsfest durch die Lappen gegangen war. «Was willst du?»
«Wissen, wer den Friedensrichter vertritt, wenn der nicht da ist.»
«Ich natürlich.»
«Du kannst also Scheidungen vornehmen?»
«Kommt drauf an.» Liam sah den Sheriff abwartend an, bis dieser schließlich sagte: «Na ja, würde ich eine Scheidung durchführen, würde ich mich schon recht weit aus dem Fenster lehnen. Scheidungen können allgemein so lange warten, bis der Richter mal da ist. Es müsste schon ein besonderer Grund vorliegen.»
Liam grinste. «Du könntest heute noch auf meiner Hochzeit tanzen.» Dann griff er in die Tasche, holte fünf geknüllte Zwanzig-Dollar-Scheine heraus und schob sie dem Sheriff in die Hand.
Der schaute nicht einmal richtig hinab, sondern sagte nur: «Oh, das muss ja wirklich dringend sein. Nun ja, ich denke auch, dass es eilt. Schließlich muss die Kleine ja endlich einen richtigen Namen und einen richtigen Vater bekommen. Du bist doch der Vater, nicht wahr?»
Liam nickte grinsend.
«Nun, dann reiche mir den Trauschein. Ohne Trauschein keine Scheidung.»
Liam drehte sich um, stieß den Fremden leicht an. Der kramte in seiner Rocktasche, hielt plötzlich inne und sagte: «Wenn ich den Trauschein hergebe, möchte ich im selben Moment die Übertragungsurkunde für die Bäckerei. Ohne die Urkunde kein Trauschein.»
«Mann, Mann, Mann, Mann, Mann!», stöhnte der Sheriff. «Sonst noch irgendwelche Wünsche? Jetzt müssen wir auch noch in mein Office.»
Liam rief dem Wirt zu: «Moody, mach dem Sheriff einen Whiskey für den Weg.» Er packte ihn, drückte ihm das Glas in die Hand, forderte den Fremden mit einem Kopfnicken auf, ihnen zu folgen, und dann traten die drei den Weg ins Office an. Dort war die Sache schneller über die Bühne gebracht, als jeder gedacht hatte. Der Sheriff, rotwangig und glanzäugig vom Whiskey, stellte die Dokumente aus, ließ sie sich unterschreiben und begab sich direkt wieder in den Saloon, wo er verkündete, dass die Hochzeit nun doch stattfinden würde. Und so tranken die Bewohner von Oak’s Hill ihre Gläser aus, richteten ihre Sachen und machten sich auf den Weg zur Kirche.