Epilog

Unabhängigkeitstag, 4. Juli 1877

Das Wetter hätte nicht besser sein können. Die Sonne schickte freundliche warme Strahlen auf die Erde, die im Laufe des Tages ganz sicher für glühende Hitze sorgen würden. Schon jetzt stöhnten die Arbeiter, die an den Teerfässern tätig waren. Sie arbeiteten mit nacktem Oberkörper, hatten sich Tücher um den Kopf gebunden. Und auch die anderen, die hoch über dem East River in den Stahlseilen hingen, arbeiteten mit nackten Oberkörpern. Einer pfiff ein Lied, ein anderer schwenkte seinen Hut, als er Annett sah. «Einen frohen Unabhängigkeitstag wünschen wir Ihnen, Miss Singer», rief ein dritter ihr zu. Annett lachte, winkte zurück. Sie war froh, richtiggehend glücklich. Sie hatte in der letzten Woche außerhalb der offiziellen Wertung eine Klausur ihrer Ingenieursklasse mitgeschrieben, und der Professor war so freundlich gewesen, sie ebenso zu beurteilen wie die Arbeiten ihrer Mitstudenten. Annett hatte eine gute Arbeit vorgelegt. Keine sehr gute, aber eine gute. Der Professor war zufrieden mit ihr, Washington hatte sie umarmt, und Emily hatte zur Feier des Tages eine Flasche Champagner geöffnet. Und Annett hatte davon getrunken, war aber nicht davon trunken geworden, sondern von etwas ganz anderem. Ihre Freundinnen hatten ihr vor ein paar Wochen geschrieben. Beide innerhalb weniger Tage.

Susanne schrieb, dass sie geheiratet hatte, dass Tuuli nun einen Vater hatte und dass sie nach Virginia gehen wollten. Aber am 4. Juli, da wollten sie gemeinsam mit Annett das Feuerwerk betrachten. Wie hatte Annett sich gefreut! Und wie erst, als eine Woche später auch noch ein Brief von Gottwitha kam. Ich bin nicht mehr amisch, hatte sie geschrieben. Aber das macht nichts. Samuel und ich werden uns in Albany niederlassen. Er wird mit Holz handeln, und ich werde ihm dabei helfen. Und Annett war mit diesem Brief zu Emily gerannt, hatte ihr atemlos berichtet und hatte doch selbst nur so wenig gewusst.

Aber heute Nachmittag, da würden die Freundinnen kommen. Sie würden kommen mit Mann, Kind und Kegel, und sie würden am Abend gemeinsam mit Annett das Feuerwerk bestaunen. Emily hatte zwei Kuchen backen lassen, sie hatte sogar eine Flasche Champagner gestiftet, damit die Freundinnen auf das Wiedersehen anstoßen konnten. Und jetzt, während noch die allerletzten Arbeiten an der Brücke ausgeführt werden mussten, da schlenderte sie am Quai entlang, atmete tief den sommerlichen Duft der Linden ein, betrachtete das blaue Zelt am Himmel, dachte dann für einen Augenblick an Arthur und seufzte. Die Trennung lag nun schon eine Weile zurück, und Annett bedauerte sehr, dass sie nicht im Guten auseinandergegangen waren. Sie dachte noch oft an ihn, und sie war sich keineswegs mehr so sicher, wie sie es damals gewesen war. Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie insgeheim wohl doch gehofft, Arthur würde ihr erlauben, zu studieren und zu arbeiten. Aber das hatte er nun einmal nicht. Im Gegenteil, er hatte ihr sogar noch gedroht: «Wenn du eines baldigen Tages feststellen solltest, dass dein Weg falsch war, wenn du eines Tages zu mir zurückkehren möchtest, dann wird meine Tür für dich verschlossen sein.» Und Annett wusste genau, dass das nicht nur so dahingesagt war, sondern dass Arthur das genauso meinte. Sie blieb stehen, schaute zurück zur Brücke, die so majestätisch über dem Fluss thronte. Wash hatte beschlossen, sie nach der Fertigstellung illuminieren zu lassen. Annett hatte die dazugehörigen Berechnungen angestellt, hatte Messungen durchgeführt und Pläne gezeichnet. Es könnte tatsächlich gehen, dachte sie jetzt. Alles könnte gehen. Wenn man es nur von ganzem Herzen will.

 

Und dann war es so weit, der Sommerabend legte sich mild und pastellig über New York. Am milchig blauen Himmel zogen ein paar Möwen ihre Bahnen, etwas weiter stieg Rauch kräuselnd auf und malte weiß zerzauste Blumen in die Luft. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Familien drängten im Pulk durch die Straßen, Kutschen und Droschken verstopften die Kreuzungen. Junge Väter trugen ihre Kinder auf den Schultern, junge Mädchen zeigten sich kichernd in ihren schönsten Kleidern, und selbst die Newsies, die Zeitungsjungen, hatten heute frei. An den Garküchen drängten sich die Leute, Männer verkauften kleine amerikanische Flaggen, mit denen die Kinder winkten. Ein alter Mann, der keine Beine mehr hatte, wurde von einem jungen Mann in einer Schubkarre gefahren, eine alte blinde Frau von zwei jungen Frauen durch die Menge geführt. Selbst die Straßenköter wedelten aufgeregt mit den Schwänzen, und vom Fluss tönten die Schiffssirenen. Die Türen der Kneipen standen weit offen, die Pferdeomnibusse waren so voll, dass ein paar junge Leute halb draußen hingen. Über alldem lag ein unbeschreiblicher Lärm: Hunde bellten, Kinder kreischten, Frauen lachten, und Männer riefen anderen Männern fröhliche Grüße zu. Es roch nach dem Fett der Garküchen, den Duftwässern der Frauen, nach Bier und einfach nur nach Fröhlichkeit.

Annett stand auf der Manhattaner Seite der Brücke. Hinter ihr ragte der mächtige Pfeiler auf, und Annett hätte ihn am liebsten gestreichelt. Voller Stolz betrachtete sie die neu angebrachten Lichter auf der Brücke. Ihr Herz schlug rasch vor Aufregung. Gleich würden die Freundinnen kommen. Gleich würde sie Susanne und Gottwitha wiedersehen. Oh, wie sie sich freute! Ob sich die Freundinnen sehr verändert hatten? Wie hatten sie ihr Leben gemeistert? Standen ihnen die Erlebnisse ins Gesicht geschrieben? Und vor allem: Würden sie an ihre alte Freundschaft anknüpfen können? Sie waren so verschieden, hatten so unterschiedliche Dinge erlebt. Aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie waren auf dem Weg in ein glückliches Leben. Sie hatten Rückschläge hingenommen, aber sie hatten sich niemals unterkriegen lassen. Annett war so stolz auf ihre Freundinnen und sie hoffte insgeheim, dass Gottwitha und Susanne auch ein wenig stolz auf sie waren. Sie würde ihnen die Brücke zeigen, an der sie, eine Frau, mitgearbeitet hatte. Und dann würden die Freundinnen erzählen müssen. Alles, was ihnen in den letzten Monaten widerfahren war. Und sie würde deren Männer kennenlernen und vor allem die kleine Tuuli, die sie schon jetzt in ihr Herz geschlossen hatte. Bei diesem Gedanken zog ein wehmütiger Ton in ihr Herz. Sie hatte sich so gewünscht, mit Arthur hier zu stehen, aber sie hatte begriffen, dass Arthur eben nicht mit ihr hier stehen wollte. Das tat weh, aber immerhin hatte sie nun Klarheit. Annett seufzte und drehte sich um. Sie blickte die Straße hinab, und plötzlich sah sie, wie ein Arm hochgerissen, und hörte, wie ihr Name gerufen wurde. Und sie selbst lachte über das ganze Gesicht und rief: «Susanne!» Dann rannte sie los, und auch Susanne rannte, ließ den Mann neben ihr, der ihr kleines Kind hielt, einfach stehen. Und schon lagen sich die Freundinnen in den Armen. Sie drückten einander, küssten sich, und Annett sagte ein ums andere Mal: «Es ist so unglaublich schön, dass du gekommen bist.» Susanne drückte Annett so fest sie konnte und erwiderte: «Einmal wollte ich deine Brücke sehen. Wenigstens einmal.» Und dann ließ sie die Freundin los, betrachtete das riesige Bauwerk, griff nach ihrer Hand und flüsterte: «Du hast es geschafft.» Und Annett, tränenblind vor Glück, drehte sich um, deutete auf den Mann mit dem Kind und antwortete: «Und du auch. Du hast es auch geschafft.» Da legten sich zwei Arme um die Schultern der beiden jungen Frauen, und die beiden wirbelten herum, standen vor Gottwitha, die vor Freude ein ganz rotes Gesicht hatte. «Ja», sagte sie und hielt die Hände von Annett und Susanne fest in den ihren. «Wir haben es alle drei geschafft. Jede auf ihre ureigene Weise.» Sie lächelte und blickte zu dem großen Mann, der hinter ihr stand und ihr zulächelte.

Und in den Augen der drei Frauen, die sich einfach nicht loslassen konnten, blitzte die Freude, blitzte der Stolz. Dann brach das Feuerwerk los. Eine erste Rakete schoss pfeifend in den Himmel, zerbarst und verwandelte sich in eine lodernde rote Blume. Und beinahe zeitgleich schoss die nächste Rakete in den Himmel und malte eine grüne Blume in den Abend, und sofort danach erblühte eine weiße Rose, und die drei Frauen hielten sich noch immer fest an den Händen und sahen auf die drei aufgeblühten Blumen, die über ihnen am Himmel prangten.