Siebtes Kapitel

«Hier, sieh dir das an!» Emilys Stimme zitterte leicht, als sie auf die Zeitungsartikel klopfte, die quer über den großen Zeichentisch verteilt waren. Annett trat näher, nahm einen der Artikel in die Hand, las:

Nicht nur, dass Mrs. Emily Warren Roebling unzählige Arbeitsplätze im Fährbetrieb zwischen Brooklyn und Manhattan vernichtet, überdies ist sie nun einmal eine Frau, auch wenn ihr zum Teil herrisches Auftreten an einen zänkischen Mann erinnert. Ich befürchte jedoch – und da bin ich weiß Gott nicht allein –, dass die Brücke einstürzen wird und ihre Teile die Fahrrinne verstopfen werden, sodass ein gutes Stück der New Yorker Wirtschaft darniederliegen wird …

Annett schüttelte den Kopf. «Was hat er gegen dich?», fragte sie. Die beiden Frauen hatten sich am Abend zuvor darauf geeinigt, sich zu duzen, so, wie es unter engen Mitarbeitern bei einem solch großen Projekt in Amerika üblich war. «Dieser Munroe, was hat er gegen dich?»

Emily zuckte mit den Achseln. «Arthur Munroe ist Journalist bei der New York Times. Er hat dort eine wöchentliche Kolumne, in der er über den Bau der Brücke berichtet. Immer montags …» Emily brach ab und zwinkerte mit den Lidern, als wollte sie Tränen zurückhalten. «Und an jedem Montag beschwört er wieder und wieder meinen Untergang. Er ist gegen die Brücke an sich, aber insbesondere dagegen, dass eine Frau die Bauleitung innehat. Dabei stimmt das so nicht einmal ganz. Die oberste Bauleitung liegt noch immer bei Washington.»

Annett nahm den nächsten Artikel auf und begann zu lesen:

Die Brücke – der Tragödie erster Teil.

Es geschah am 28. Juni 1869. John und Washington Roebling standen an einem Fähranleger der Manhattan-Brooklyn-Ferry-Lines und unterhielten sich über den besten Standpunkt des östlichen Brückenturms, der im Wasser errichtet werden sollte, als eine Fähre ein wenig hart anlegte. Dabei wurde nicht nur das Fendergerüst ein wenig eingedrückt, sondern obendrein der Fuß unseres großen Brückenbauers. Mehrere Zehen wurden zerquetscht. Während die ersten Gegner der Brücke zaghaft frohlockten, drängten sich die besten Ärzte der Stadt vor Roeblings ansehnlichem Haus in den Brooklyn Heigths. Doch Roebling, der es gern hat, als klügster Mann Amerikas beschrieben zu werden, als bester Ingenieur aller Zeiten, als erfolgreicher und klug agierender Seilwerksbesitzer, war in Wahrheit nicht annähernd so klug, wie mancher meint. Denn er jagte die Ärzte allesamt von seinem Krankenbett und kurierte seinen lädierten Fuß mit Wasserkuren und Kneippbädern. Obwohl sein Sohn den genialen Brückenbauer dazu drängte, sich der Obhut der Mediziner anzuvertrauen, verweigerte der alte Roebling jedwede Hilfe. Er ließ sich von seinem Sohn eine Apparatur bauen, in der sein verletzter Fuß permanent mit Wasser übergossen wurde, und lehnte kategorisch alle weiteren Maßnahmen ab. Infolge eines Wundstarrkrampfes bekam er eine Kiefersperre, die ihn elendiglich verhungern ließ. Er starb am 22. Juli 1869. Wer kann sich darüber verwundern, dass nun gefragt wird, ob ein Mann, der sich nicht einmal richtig um den eigenen Fuß kümmern kann, die nötige Sorgfalt und das notwendige Wissen für den Bau einer Brücke hat?

Annett legte den Artikel zur Seite, schüttelte den Kopf. «Es ist ungeheuerlich. Ich hätte nicht gedacht, dass es erlaubt ist, jemanden so zu schmähen. Gibt es eine Möglichkeit, ihn zu stoppen?», fragte sie. Emily schüttelte den Kopf. «Wenn es eine gibt, so habe ich sie noch nicht gefunden», erklärte sie. «Aber lies weiter. Ich will, dass du alles gut verstehst, was geschehen ist. Ich will, dass du begreifst, dass nicht nur der Bau an sich gefährdet ist, sondern der Traum eines jeden Menschen.»

Annett seufzte. Sie fühlte sich unwohl dabei, all die Schmähungen zu lesen, andererseits sah sie ein, dass sie auf diese Art am schnellsten und eindringlichsten erfuhr, welchen Stellenwert die Brücke für die New Yorker hatte.

«Was nun? Eine Brücke ohne Erbauer?», war der nächste Artikel überschrieben, und er war wieder von Arthur Munroe.

Nachdem der geniale Brückenbauer gestorben ist, ohne seine Genialität unter Beweis stellen zu müssen, lautet nun die Frage, die sich ganz New York stellt: Ist es richtig, die oberste Leitung der größten Baustelle der Welt einem gerade mal 32-jährigen Mann zu übertragen, der in seinem ganzen kurzen Leben noch nicht eine einzige, winzige Baustelle geleitet hat? Wir New Yorker fordern die Brückengesellschaft auf, genau zu prüfen, wer der zukünftige Herrscher über die mehr als 5 Millionen $ sein soll, die das Bauwerk bis jetzt gekostet hat.

Annett sah Emily an. «Lies weiter, es kommt noch schlimmer!» Emily tippte mit dem Zeigefinger auf weitere Artikel, aber Annett hatte den Eindruck, nicht einen einzigen mehr verkraften zu können. «Kannst du mir nicht erzählen, was weiter passiert ist?»

«Na ja, die technischen Details standen sowieso nicht in der New York Times. Wahrscheinlich, weil Arthur Munroe nicht in der Lage ist, sie zu verstehen. Also. Das Schwierigste ist die Caissongründung. Die Messung auf der Brooklyner Seite hat einen tragfähigen Baugrund in 14 Metern Tiefe ergeben, auf der Manhattaner Seite sogar 25 Meter. Um dort das Fundament der Brückenpfeiler unter Wasser bauen zu können, braucht man Caissons. Du weißt schon, diese riesigen, unten offenen Kästen, die auf den Grund herabgesenkt werden. Sobald der Kasten die Flusssohle erreicht hat, wird der Kasten mittels Druckluft wasserfrei gemacht, sodass die Arbeiter, die durch eine Luftschleuse in das Innere des Caissons gelassen werden, gut den Schutt wegräumen können. Auf der Decke des Kastens wird das Mauerwerk für den Pfeiler aufgebaut, sodass der Caisson immer weiter einsinkt, bis er auf tragfähigen Untergrund stößt.»

Emily griff nach dem Wasserglas, das vor ihr stand, und trank alles in einem Zug aus. «Entschuldige», sagte sie. «Ich dachte nicht, dass mich die Berichte noch immer so aufregen, aber ich habe wirklich eine verdammt harte Zeit hinter mir. Vielleicht liest du die Artikel doch selbst. Und wenn du damit fertig bist, werde ich dir sagen, was heute Nachmittag deine Aufgabe sein wird.»

«Stapellauf für den Brooklyn Caisson», war der nächste Artikel von Munroe überschrieben, und er beschrieb darin das Ereignis, das für die meisten New Yorker den eigentlichen Baubeginn darstellte. Es war der 19. März 1870, das Wetter war einigermaßen freundlich, doch das Wasser des East Rivers noch so kalt, dass die Arbeiter, die manchmal bis zur Hüfte im Wasser stehen mussten, graubleiche Gesichter und blaue Lippen bekamen und sich schon nach wenigen Minuten kaum noch bewegen konnten. Und die New York Times fragte am nächsten Tag: «Wie viele Menschenleben wird diese Brücke kosten?» Der nächste Artikel war mit «Szenen aus Dantes Hölle» überschrieben. Washington hatte Arthur Munroe gestattet, eine Exkursion nach unten in den Caisson zu machen. Und was Arthur Munroe darüber zu berichten hatte, ließ den Lesern eiskalte Schauer über die Rücken rinnen und malte das Bild der Baustelle in düsteren Farben, sodass sich immer mehr Menschen fragten, ob der Bau dieser Brücke tatsächlich ein so großer Fortschritt für die Menschheit wäre. In dem Caisson war es dunkel und enorm stickig. Außerdem musste man viele Meter unter der Wasseroberfläche arbeiten, wusste nur, dass oben auf dem Caisson meterdicke Fundamente waren, während man selbst in diesem Holzsarg am Grunde des Flusses dümpelte. Das Licht wurde von Kerzen gespendet, sodass es niemals richtig hell in den Caissons war, obgleich man die Wände mit weißer Farbe angemalt hatte. Der Lärm war unbeschreiblich, und so mancher Arbeiter hatte selbst in der Nacht noch den infernalischen Krach im Ohr, und es hieß, dass jeder vierte Caissonarbeiter zumindest zeitweise taub war. Und dann geschah das, was Arthur Munroe schon lange befürchtet hatte, wie er hernach in der New York Times schrieb: «Das Fegefeuer in Roeblings Hölle», überschrieb er seinen Artikel, in dem er vom Brand im Caisson, der sich im Dezember ereignete, berichtete. Washington wurde geholt, und er ließ sich auf der Stelle hinab in den brennenden Caisson. Die Holzzwischenräume, die mit teergetränktem Werg abgedichtet waren, hatten sich entzündet. Nun galt es nicht nur, die Männer aus dem Kasten zu retten, sondern obendrein den Brand zu löschen. Viel zu lange war Washington Roebling in der Druckluftkammer gewesen, viel zu schnell war er aufgetaucht und an der Tagesoberfläche auf der Stelle bewusstlos geworden. Und er war nicht der Einzige, der unter der Caissonkrankheit litt. Doch er war jung, er war stark, und so erholte er sich rasch wieder und arbeitete so hart wie zuvor.

Am 8. Mai 1871 fand der Stapellauf des New Yorker Caissons statt, dieses Mal allerdings ohne alle Feierlichkeiten. Die Tiefe des New Yorker Caissons übertraf alles, was es je zuvor gegeben hatte. Washington hatte sich selbst übertroffen, hatte Dinge gewagt und getan, die niemand vor ihm gewagt und getan hatte. Aber der Fortschritt hatte seinen Preis, und das fand auch Arthur Munroe schnell heraus: Unter dem Titel «Der unheimliche Caissontod» schrieb er in seiner wöchentlichen Kolumne über die Krankheit, an der schon über 110 Arbeiter litten. Die Krankheit befiel ausschließlich die Männer, die im Caisson gearbeitet hatten, aber niemand konnte erklären, wie die Krankheit entstand oder wie sie gar verhindert werden konnte. Man hatte beobachtet, dass die Männer nach einer gewissen Zeit in dem Holzkasten bewusstlos wurden. Außerdem klagten sie über Ohrgeräusche, Schwindel und Sehstörungen. Washington Roebling zog einen Arzt hinzu, der nichts anderes tat, als sich um die Caissongeschädigten zu kümmern. Schon bald hatte der Arzt herausgefunden, dass ein zu langer Aufenthalt dort unten Probleme bereitet, und so erteilte er Anweisungen, die Dauer dort unten zu begrenzen. Und richtig: Die Anzahl der Erkrankten ging weit zurück. Nur einer hielt sich nicht daran: Washington Roebling selbst. Im Frühsommer blieb er wieder einmal so lange in dem Caisson, dass er bewusstlos nach oben gebracht werden musste. Er erholte sich noch einmal, doch beim nächsten Mal blieb er gelähmt. Sein Sprachzentrum war schwer beschädigt, er litt unter Lähmungen, fürchterlichen Gliederschmerzen und war nicht mehr in der Lage, einem Gespräch zu folgen. Er saß im Rollstuhl, und jeder wusste, dass er niemals wieder auf die Baustelle zurückkehren würde.

Annett ließ den letzten Zeitungsartikel sinken. Sie war blass, ihr Herz schlug so schnell, dass sie ein wenig außer Atem war, obgleich sie nicht gerannt war. Sie hatte nicht gedacht, dass dieser Bau ein so gewaltiges Werk sein würde. Ein Werk, das Menschenleben fraß wie Brot. Sie hatte sich im Übrigen sowieso nichts Genaues unter der Brooklyn Bridge vorstellen können. Sie hatte keinen Vergleich. Aber dass das Bauwerk so gewaltig war, überraschte sie jetzt doch. Und sie begriff, dass die Brücke nicht nur der Lebenstraum von John und Washington Roebling war, sondern auch derjenige eines guten Teils der unzähligen Arbeiter, Ingenieure, Stahlkocher, Schmiede, Zimmermänner, Seiler und was es sonst noch so an Gewerken an dem Bau gab. Diese Brücke – sie war der Fortschritt. Nirgends wurde so deutlich, was Amerika ausmachte. Das begriff Annett auf der Stelle, obwohl sie sonst noch nichts von Amerika gesehen hatte. Und sie wusste auch, dass der Bau um jeden Preis weitergeführt werden musste. Wenn nicht, wäre John umsonst gestorben, säße Washington vergebens im Rollstuhl.

Annett ließ den Blick über den Zeichentisch schweifen, der über und über mit Millimeterpapier bedeckt war. Auf anderen Blättern standen endlose Zahlenkolonnen oder komplizierte Berechnungen, technische Zeichnungen der einzelnen Pfeiler lagen neben den komplizierten Darstellungen der Drahtbespannung. Und es gab sogar eine Zeichnung, welche die elektrische Beleuchtung der Brücke – etwas nie Dagewesenes – zur Schau stellte. Scharfgespitzte Bleistifte und Radiergummis lagen ordentlich nebeneinander. Eine Bleistiftspitzmaschine mit einer Kurbel war an der Tischkante befestigt. Tintenfässer standen ordentlich verschlossen in Reih und Glied, und frischgespitzte Gänsefedern dutzendweise in Gläsern herum. Lineale von ungeheuren Ausmaßen lagen neben Winkelmessern, Fadenzähler neben Lupen, hölzerne Dreiecke neben Zirkeln. Von draußen hörte Annett ein paar Geräusche. Sie hatte Washington bisher noch nicht gesehen, doch sie ahnte, dass er nur ein Zimmer entfernt von ihr war. Durch die Wand vernahm sie Gemurmel, leises Gelächter, dann klapperte Geschirr. Eine Tür klappte, dann hörte Annett Schritte auf dem Gang, hernach ein wenig weiter entfernt Emilys Stimme, die jemandem freundlich, aber bestimmt Anweisungen erteilte.

Annett wollte Emily unbedingt sagen, wie sehr sie sie bewunderte, aber ihr fehlten die Worte, würden ihr erst recht fehlen, wenn sie Emily gegenüberstand. Die Leistung dieser jungen Frau schien ihr so übermenschlich wie die gesamte Brücke ungeheuerlich. Beinahe bekam sie Angst, dass sie jetzt dabei war, dass auch sie eine winzige Aufgabe an diesem monumentalen Bau übernehmen sollte, doch dann überwog die Freude. Ich werde lernen, so viel ich kann, nahm sich Annett vor. Abends werde ich alle Bücher über Ingenieurskunst, Brückenbau und Mathematik lesen, die ich bekommen kann. Ich muss mich noch heute in einer Bücherei einschreiben, ach ja, und mein Englisch muss auch noch viel besser werden.

Sie stand auf und wollte Emily sagen, wie großartig sie die Brücke und alles darum herum fand, aber dann stellte sie fest, dass es noch ein paar Zeitungsartikel gab, die sie bisher übersehen hatte. Sie setzte sich wieder und las, was Arthur Munroe in der New York Times den Lesern mitgeteilt hatte. «Roebling vor dem Aus?», titelte er, dann ging es weiter:

Wie nun bekannt wurde, leidet unser großer Brückenbaumeister unter schrecklichen Depressionen. Nun, jeder kann dies wohl nachfühlen, denn es ist eine Tatsache, dass Washington Roebling durch die Taucherkrankheit weitgehend daran gehindert wird, sein Lebenswerk weiterzuführen. Doch niemand sollte seine Frau, Emily Warren Roebling, unterschätzen. Sie ist nicht nur sein treues Eheweib, sondern auch seine einzige und beste Vertraute, seine Assistentin, seine ausführende Hand, der Mund, mit dem er spricht. Ohne sie, das weiß Washington sehr gut, gäbe es ihn und sein Werk nicht mehr. Man kann über eine Frau als Ingenieurin denken, was man mag, aber eines steht so fest wie die beiden Säulen der Brücke: Emily Warren Roebling ist eine Frau von ungeheurem Mut.

«Das klang ja fast schon freundlich», murmelte Annett und nahm sich das Baustellentagebuch erneut vor. Dort las sie, dass Washingtons Zustand sich einfach nicht bessern wollte und er, nachdem er im Winter 1873/74 mit Emilys Hilfe unzählige Zeichnungen angefertigt hatte, zu einer Kur nach Deutschland aufgebrochen war.

Im Oktober 1874 war er wieder zurück in New York und um die Erkenntnis reicher, dass er den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt bleiben würde. Emily wurde endgültig zur wichtigsten Person der Jahrhundertbaustelle. Sie eilte zwischen der Baustelle und der Wohnung in Brooklyn hin und her, überbrachte die Anweisungen ihres Mannes an die Ingenieure und nahm deren Fragen und Berichte entgegen. Damit Emily aber auch alles verstand, was vor sich ging, brachte ihr Washington Abend für Abend die Grundlagen der Bautechnik, Vermessung, Statik, Werkstoffkunde und sogar der höheren Mathematik bei.

Als Annett das las, stieg ihre Bewunderung ins Unermessliche. Aber nicht nur ihre Bewunderung, sondern zugleich der feste Wille, ebenso fleißig und unermüdlich zu lernen, wie Emily es getan hatte und tat.