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KANE

Das Handbuch war, wie zu erwarten, langweilig.

So langweilig, dass meine Gedanken immer wieder zu Finn zurückkehrten. Ich wusste nicht, warum ich ständig an ihn dachte, aber die letzte Nacht kam mir immer wieder in den Sinn. Ein Teil von mir war sich so verdammt bewusst gewesen, dass er nicht nur ein gut aussehender Mann war, sondern wunderschön.

Es war offensichtlich, dass er sich Zeit für sein Make-up nahm, und die Kleidung, die er trug, war eher geschlechtsneutral als alles andere. Wäre da nicht seine Stimme gewesen, hätte ich vielleicht gar nicht gemerkt, dass er ein Mann war.

Das hätte die Dinge … unangenehm gemacht, um es vorsichtig auszudrücken.

Ich hatte nicht gelogen, als ich gesagt hatte, ich sei nicht schwul, aber ich wollte auch nicht zugeben, dass meine Sexualität generell ein unangenehmes Thema war. Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich hetero war oder ob ich bi war, oder bi-neugierig, oder … es gab ungefähr ein Dutzend anderer Namen für das, was ich sein könnte. Ich wusste nur, dass ich mich zu genau zwei Menschen auf diese Weise hingezogen gefühlt hatte, und beide waren Frauen gewesen. Herauszufinden, wo ich auf dem LBGTQ-Spektrum einzuordnen war, war die Mühe der Recherche nicht wert. Nicht über meine Sexualität nachzudenken, siegte eindeutig.

Der Sex war auch nicht die Art von Explosion gewesen, die ich erwartet hatte. Ich war zwar gekommen, aber abgesehen von der körperlichen Befriedigung war es einfach nichts für mich. Das gleiche Ergebnis hatte ich, wenn ich mir einen runterholte, ohne den Stress einer Beziehung oder so was.

Ich brauchte es nicht, ich vermisste es nicht, und ich war ganz sicher nicht daran interessiert, eine Beziehung mit jemandem einzugehen. Das hatte ich hinter mir und ich brauchte keine Wiederholung, vielen Dank auch. Wir hatten es gerade mal zwei Wochen miteinander ausgehalten, in denen sie ständig ficken wollte und ich mir Ausreden einfallen ließ, um sie nicht zu ficken.

Das fand sie eher nicht so toll, und sie hatte mir ein paar nette Worte an den Kopf geworfen, die mich hätten verletzen sollen. Stattdessen war ich einfach nur erleichtert, dass sie mich sitzen ließ.

Aber eigentlich wollte ich gar nicht daran denken, denn das lag in der Vergangenheit.

Was Finn jedoch anging … Er war anders. Ich fand ihn interessant, und nach dem Frühstück an diesem Morgen hatte das noch etwas zugenommen. Nicht, dass das irgendwie von Bedeutung wäre. Dads Zustand vor Sam zu verheimlichen, während er zu Hause war, war schon schwer genug, dazu kam noch, dass ich mich um ihn kümmern musste, während ich versuchte, Mom daran zu erinnern, dass sie sich auch um sich selbst kümmern musste.

Das war schwer, so verdammt schwer, und zwischen meiner Familie und der Arbeit hatte ich keine Zeit, mir auch noch Gedanken über mein Privatleben zu machen.

Deshalb war es wahrscheinlich gut, dass es in einer Stadt wie dieser nicht viel zu tun gab. Das Lagerfeuer war normalerweise der Höhepunkt des Wochenendes, und ich hatte nicht vor, dorthin zu gehen. Normalerweise fühlte ich mich ein wenig zu alt dafür, aber diesmal würden die meisten der Studenten da sein, die die Semesterferien hier verbrachten, und ich würde mir nicht ganz so alt vorkommen, sollte ich mich doch entschließen, dorthin zu gehen.

Das brachte den üblichen Anflug von Neid mit sich. Sie konnten aufs College gehen und tun, was sie wollten, und wussten nicht einmal, wie viel Glück sie hatten, und ich war einfach nur der Schulabbrecher.

Aber ich hatte dem zugestimmt, und ich wollte meine Eltern nicht als Belastung sehen. Nach allem, was sie für Sam und mich getan hatten … Niemals. Sie hatten sich um uns gekümmert, als wir klein und hilflos waren, und jetzt kümmerte ich mich um sie.

Und trotz alledem besuchte Sam das College und machte sie stolz. Ich konnte es in ihren Augen sehen, wenn er nach Hause kam und seine Geschichten erzählte, wenn er mit seinem Notendurchschnitt prahlte und die Teile über die wilden Partys wegließ, von denen ich wusste, dass er sie in seiner Freizeit besuchte.

Normalerweise wäre es einfach gewesen, das Lagerfeuer sausen zu lassen. Aber dieses Mal … würden Sam und Finn auch dort sein. Es sollte keine Rolle spielen. Ich sollte nicht an Finn denken.

Schon wieder. Er war nur ein Typ, nichts weiter, und am Ende des Sommers würde er sowieso weg sein. Er war nichts, worüber ich mir Gedanken machen musste, nichts, was mich betraf.

Schließlich gab ich das Handbuch auf und warf es auf meinen Schreibtisch. Ich würde mich später mit dem Fitnessgerät vertraut machen müssen, wenn meine Gedanken nicht mehr abschweiften.

„Hey.“

Ich blickte auf und sah einen anderen Trainer an der Tür meines kleinen Büros stehen. „Hey, Pierce.“

„Ist heute nicht dein freier Tag?“, fragte er und lehnte sich gegen den Türrahmen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich musste mal ein bisschen aus dem Haus raus. Ich dachte, ich lese mich ein bisschen in das neue Gerät ein, das wir bekommen.“

„Du weißt schon, dass wir das alles hinbekommen werden, oder?“, fragte er.

„Vielleicht sogar, bevor Leute verletzt werden, die versuchen, es ohne Anleitung zu bedienen?“, warf ich ein. „Ich bin viel lieber auf der sicheren Seite und langweile mich, als dass ich dafür sorge, dass jemand zu Schaden kommt. Selbst wenn das bedeutet, dass ich diesen Mist lesen muss, bis mir die Augen bluten.“

„Nun, du kannst dem Rest von uns einen Crashkurs geben“, sagte Pierce und richtete sich auf. „Ich habe einen Kunden, aber wir sehen uns am Montag.“

Ich nickte. „Ich muss sowieso los.“

Er wandte sich zum Gehen, hielt dann inne und drehte sich wieder zu mir um. „Hey, gehst du heute Abend zum Lagerfeuer?“

„Warum, brauchst du einen Flügelmann für Mädchen, die zehn Jahre jünger sind als du?“, erwiderte ich und grinste ihn an.

Er verdrehte die Augen. „Ich kann mit den Besten mithalten, was das Flirten angeht, danke vielmals. Ich war nur neugierig. Du gehst nie zu solchen Veranstaltungen, aber es wäre schön, dich dort zu sehen.“

Er war zwei oder drei Klassen über mir gewesen, und hatte die Stadt verlassen, um zu studieren. Aus Gründen, die ich nicht einmal ansatzweise erahnen konnte, war er für diesen mittelmäßigen Job in dieses hoffnungslose Loch zurückgekommen.

„Ja, vielleicht.“ Ich seufzte. „Aber mein Bruder und sein Freund werden auch da sein.“

„Ignoriere sie einfach“, sagte Pierce mit einem weisen Nicken. „Wie auch immer, ich muss los. Sehen wir uns dort?“

„Vielleicht.“ Wenn meine Eltern mich nicht brauchten, wäre es vielleicht ganz nett, mal wieder aus dem Haus zu kommen und Leute zu treffen, die ich schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte.

* * *

Es war keine Überraschung, dass am Lagerfeuer viel los war. Es gab nicht allzu viel zu tun, und das Lagerfeuer war immer schon eines der Dinge gewesen, die man gemeinsam tun konnte, ohne ins Kino oder in das langsam sterbende Einkaufszentrum zu gehen. Früher war das ein Ort gewesen, an dem man stundenlang mit Freunden bummeln und einkaufen konnte, aber jetzt konnte ich nicht einmal mehr hineingehen, ohne das Gefühl zu haben, ein Grab zu entweihen. Die Geschäfte hatten zu schließen begonnen, und es gab mehr leere als volle Läden. Das war nicht gerade das, was einen Abend unterhaltsam machte, vor allem, wenn man sich daran erinnerte, wie toll das Einkaufszentrum einst gewesen war. Das ließ nur noch das Lagerfeuer, um die Abende zu verbringen.

Das zog immer eine Menge Leute an, vor allem solche, die auf der Suche nach … nun ja, etwas Spaß waren, und meistens auch nach einem schnellen Fick irgendwo im Wald. Ich hasste es, darüber zu stolpern, und so sehr ich die freie Natur auch liebte, konnte ich nie verstehen, warum man Blätter und Rinde an intimen Stellen riskierte.

Heute nahm ich den üblichen Weg, um zu vermeiden, dass ich jemanden beim Ficken oder Geficktwerden sah – oder beim Kotzen, was ebenfalls regelmäßig vorkam. Neun Uhr war ein bisschen früh am Abend, um sich zu übergeben, aber einige der College-Kids hatten mit dem Feiern angefangen, sobald die Sonne angefangen hatte, unterzugehen.

Pierce hatte ich noch nicht gesehen, was ein wenig enttäuschend war. Ich sah zwar Kerle in meinem Alter rumstehen, aber ein Haufen Mädchen mischte sich darunter, deutlich flirtend. Nein, das war nichts für mich, weder die noch nicht volljährigen Mädchen, noch die Tatsache, wie offen sie flirteten. Wenn es mir schon peinlich war, dass Finn mit mir geflirtet hatte, war das geradezu verstörend.

Ich wusste vielleicht nicht genau, wer ich war, oder ob ich mich überhaupt zu Frauen hingezogen fühlte, aber minderjährige Mädchen waren definitiv nicht mein Ding.

Ich entdeckte Sam und Finn, die rote Plastikbecher in den Händen hielten, während sie lachten und sich unterhielten. Ich hielt einen Moment lang inne und betrachtete Finn. Irgendetwas an ihm fand ich ein bisschen faszinierend – nur ein bisschen. Es war nicht so, dass ich von ihm besessen war oder so. Er sah einfach anders aus als alle, die ich kannte, und er war etwas Außergewöhnliches in einer Kleinstadt, in der sich sonst nichts veränderte.

Pierce und die anderen Jungs, die ich kannte, waren noch nicht da. Also ging ich auf meinen Bruder und seinen Freund zu. Das war besser, als allein herumzustehen – und außerdem waren sie in der Nähe des Fasses, und ich konnte ein bisschen Alkohol vertragen. Ich nahm mir einen Becher und füllte ihn, wobei ich die Nase rümpfte. Ich wusste, dass es nicht das beste Zeug war, aber es war besser als nichts, es sei denn, ich wollte in die Bar gehen.

Warum hatte ich das nicht getan? Warum war ich stattdessen hierher gekommen?

Sam sah mich zuerst und winkte mir zu. „Kane! Du bist hier!“

Ich winkte zurück und ging in ihre Richtung. Es war doch völlig normal, seinem Bruder Hallo zu sagen, oder? Vor allem, wenn er schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu Hause gewesen war?

Ich wollte mir nur nicht eingestehen, dass sein bester Freund den Großteil meiner Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Hi Kane! Hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst!“ Während Sams Begrüßung freundlich und einladend gewesen war, war Finns Begrüßung irgendwie zu überschwänglich – und vollkommend passend zu ihm.

„Ja, ich dachte mir, ich schaue mal, was hier so los ist. Es gibt ja sonst nicht viel zu tun in dieser Stadt.“ Ich erschauderte. Wie lahm.

Aber Finn lachte, ein volles, herzliches Lachen. „Das ist wohl wahr. Wenn meine Eltern nicht gewesen wären, hätte ich nie wieder einen Fuß hierher gesetzt, glaub mir. Auch wenn es echt toll ist, dich wiederzusehen“, sagte er zu Sam. Dann schaute er mich an, etwas langsamer. Seine Lippen bewegten sich erneut, verzogen sich zu einem Lächeln … einem neckenden Lächeln? Was sollte das bedeuten?

„Mir macht es hier nicht so viel aus.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich mag es, näher bei unseren Eltern zu sein.“ Was letztendlich eine verdammte Lüge war, aber ich wollte nicht, dass mein Bruder erfuhr, wie sehr es mich nervte, dank meines Verantwortungsgefühls in dieser Stadt gefangen zu sein.

Finn trat näher und legte seinen Kopf zurück, um zu mir aufzuschauen. Nicht zu nah, aber definitiv nahe . Er trug so etwas wie eine Jeans, aber ich hatte nicht gewusst, dass es möglich war, so viele Strasssteine darauf unterzubringen. Sie musste eine Tonne wiegen. Das weite T-Shirt verdeckte einen Teil seines Körpers, obwohl der Wind genug wehte, dass es seinen schlanken Oberkörper hervorhob. Er trug sein übliches Make-up, aber es sah so natürlich an ihm aus. Nicht wie bei einigen der jüngeren Mädchen, die viel zu viel auftrugen. Finn schien das richtige Maß zu kennen, um sich attraktiv zu machen, ohne zu übertreiben.

„Also …“ Finns Stimme senkte sich ein wenig. „Erzähl mir ein bisschen mehr von dir. Sam ist ein bisschen voreingenommen, und jüngere Brüder sind generell Arschlöcher.“ Er lachte und warf einen Blick zu Sam. Mein Bruder machte einem Mädchen neben uns schöne Augen, das offenbar sein Interesse erwiderte.

Ich rollte mit den Augen und sah dann wieder zu Finn. Er war nicht wirklich klein, aber ich überragte ihn trotzdem. „Ja? Und was für Dinge hat er gesagt?“ Ich war mehr neugierig als alles andere. Schließlich liebte ich meinen Bruder, und ich wusste, dass er mich auch liebte. Aber was erzählte mein jüngerer Bruder den Leuten über mich?

Finn legte den Kopf schief und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Eine Hand ruhte auf seiner Hüfte, während die andere den Plastikbecher hielt. „Das möchtest du wohl gerne wissen? Hmm. Was bekomme ich dafür, dass ich dir diese Art von Informationen gebe?“ Er leckte sich über die Lippen, eine langsame, bedächtige Geste. War das normal für ihn?

Ich starrte ihn an, ein wenig beschämt und sehr fasziniert, während ich eine Antwort suchte. „Ähm … das Vergnügen meiner Gesellschaft?“, versuchte ich. Nein. Das klang, als würde ich flirten. Flirtete ich? Sicher nicht. „Ich meine, äh … Was möchtest du? Also …“ Das war auch nicht der richtige Anfang. „Ich weiß es nicht.“

Ich wollte, dass sich ein Loch auftat und mich verschluckte.

Konnte ich noch unbeholfener sein?

Finn trat einen weiteren Schritt näher heran. Was zum Teufel hatte er vor? „Deine Gesellschaft … Das ist etwas, was ich nicht ablehnen kann.“

„Ich … was ?“ Ich starrte ihn an, sah sein freches Grinsen und versuchte, seinen Worten eine andere Bedeutung zu geben, als die, die ich gerade verstanden hatte. Er neigte den Kopf und sah mich von unten durch seine Wimpern hindurch an. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so zurückhaltend und doch sexy aussah, ohne dabei lächerlich zu wirken. Er flirtete auf jeden Fall. Vermutete ich.

„Lass uns noch ein Bier holen und ein bisschen herumlaufen.“ Finn nickte in Richtung des Fasses.

Ein bisschen herumlaufen war vielleicht keine schlechte Idee, vor allem, da Sam beschäftigt war. Finn konnte mit mir flirten, wenn er wollte, aber es war nicht so, als wäre ich interessiert, also brauchte ich mir keine Gedanken über eine Erwiderung zu machen und ich hätte jemanden zum Reden, bis Pierce oder jemand anderes, den ich kannte, auftauchte.

„Klar“, sagte ich und nickte. Ich berührte den Arm meines Bruders. Der zuckte zusammen und sah mich schuldbewusst an. Ich verdrehte erneut die Augen. „Geh weiter mit ihr reden, Dumpfbacke. Wir machen einen Spaziergang.“

Er blinzelte, offensichtlich verwirrt. „Du und Finn? Spazieren gehen?“

Ich grinste. „Er wird mir all die netten Dinge erzählen, die du über mich sagst, wenn ich nicht da bin.“

Sam lachte. „Ich sperre also meine Schlafzimmertür ab.“

Ich lachte auch, dann folgte ich Finn, der bereits neue Biere für uns besorgt hatte. Irgendwie war ich wirklich neugierig darauf, ob die beiden über mich gesprochen hatten – und ob Finn mir sagen würde, was geredet wurde.