„Komm schon, Dad. Ziehen wir dich wenigstens an“, sagte ich, während ich seine graue Haut und die trüben Augen betrachtete.
Er schüttelte den Kopf und krümmte sich. „Tut weh.“
„Ich weiß.“ Innerlich seufzte ich. Natürlich tat es weh. Es tat immer weh. Verdammt, es tat schon weh, wenn ich ihn nur ansah. Wenn wir nur wüssten, was er überhaupt hatte …
Aber das taten wir nicht, und er wollte nicht, dass Sam herausfand, dass er durch eine Krankheit oder ein Leiden, das kein Arzt diagnostizieren konnte, fast unfähig war, irgendwas zu tun, also musste er aufstehen. Er musste aufstehen, sich anziehen und so tun, als ginge es ihm gut, was immer anstrengend für ihn war … und für uns.
„Was tut heute weh?“, fragte ich und hoffte entgegen besseren Wissens, dadurch etwas herausfinden zu können.
„Gelenke. Knie, Hände, Füße. Verdammt, eigentlich alles.“ Er schloss die Augen und ein erschöpftes Seufzen kam über seine Lippen.
„Es tut mir leid, Dad. Ich wünschte, ich wüsste, was ich tun kann, aber …“ Ich verstummte. Es gab keinen Grund, wieder mal durchzugehen, was wir bereits wussten. Bis die Ärzte eine Erklärung für seine Symptome gefunden hatten, konnten wir nicht viel tun. Schmerzmittel halfen nur teilweise und er hasste es ohnehin, sie zu nehmen.
Ich schreckte auf, als er meine Hand ergriff.
„Kane“, flüsterte er. „Ich will nur, dass es aufhört.“
Ich erstarrte. „Dad, denk nicht einmal daran …“ Mein Herz hämmerte und dröhnte, während ein Rauschen in meinen Ohren begann.
„Nein, nicht so. Ich will nur, dass der Schmerz aufhört, für eine Weile. Es tut mir leid.“ Er lächelte schwach.
„Dann gibt es heute Medikamente“, sagte ich fest. Ich fuhr mit einer Hand über sein graues Haar. Er war so alt geworden, seit das alles angefangen hatte, kurz nachdem Sam aufs College gegangen war.
„Es tut mir leid, dass du damit zurechtkommen musst.“ Er bedeckte meine Hand mit seiner und drückte sie schwach.
„Du musst dich nicht bei mir bedanken.“ Ich versuchte immer noch, mein rasendes Herz zu beruhigen, aber ich konnte nicht zulassen, dass er versuchte, mir für etwas zu danken, das ich auf jeden Fall getan hätte. Er war mein Vater. Natürlich würde ich alles tun, was ich konnte, um ihm zu helfen.
„Ich weiß, dass du auch aufs College gehen wolltest, also doch, danke.“ Er dachte vermutlich genauso viel daran wie ich, seit Sam in den Ferien nach Hause gekommen war. „Du hast kein Leben, keine Zeit für dich selbst … Ich wollte mehr für dich als das.“ Er lächelte wieder schwach, dann schloss er einen Moment lang die Augen. „Schwindelig. Verdammt.“
„Oh, Dad.“ Ich drückte seine Hand. „Lass die Augen noch kurz zu. Das geht vorbei.“ Es ging ihm immer schlechter, das war nicht zu übersehen. Vielleicht war es an der Zeit, es Sam zu sagen, aber bis jetzt hatte sich Dad immer geweigert. Er wollte meinen jüngeren Bruder nicht mit der Nachricht belasten, weil er befürchtete, dass er es mir gleichtun und das College abbrechen würde, um sich um ihn zu kümmern. Offenbar war es schon schlimm genug, dass ich das getan hatte, obwohl er mich nie darum gebeten hatte. Wenn Sam auch hinschmiss, würde es ihm das Herz brechen.
Im Moment war meines das einzige, das brach, aber ich tat mein Bestes, um zu lächeln und so zu tun, als sei ich fröhlich, obwohl ich mir jeden Tag Sorgen um ihn und meine Mutter machte, wenn ich sie zu Arztterminen und anderen Terminen brachte, bei denen Dad vielleicht aus dem Auto steigen musste. Er hatte einen Rollstuhl, aber er hasste es, ihn zu benutzen, fast so sehr wie er es hasste, mich um Hilfe zu bitten.
Es war nicht so, dass Mom stark genug wäre, um sich um ihn zu kümmern. Selbst wenn sie die körperliche Kraft gehabt hätte, ihm zu helfen, so wie ich es tat, hatte sie nicht die emotionale Stärke, das allein zu schaffen. Eine Pflegefachkraft wäre vielleicht eine Lösung, aber das wäre jemand Außenstehendes, und das wollte keiner von uns.
„Es tut mir trotzdem so leid.“ Seine Stimme war schwach, fast unhörbar, aber ich verstand sie.
„Du brauchst mir nicht zu danken. Außerdem wollte ich es.“ Ich konnte meine Eltern nicht einfach mit diesem Kampf allein lassen. Ich hatte immer gedacht, ich würde ein oder zwei Semester verpassen, bis es ihm wieder besser ging. Nicht … zwei Jahre. Aber ich hatte einen Job, ich hatte eine feste Routine, und im Moment hatte ich zu viele Verpflichtungen, um viel mehr zu tun, als ab und zu mal auszugehen und ein Bier zu trinken.
Dad ließ seine Augen geschlossen. Wahrscheinlich hatte er in der Nacht zuvor nicht viel Schlaf bekommen. Er war schon immer eine Nachteule gewesen, und jetzt war seine Schlaflosigkeit komplett außer Kontrolle. Sie hielt ihn die meiste Zeit der Nacht wach und dann döste er den ganzen Tag vor sich hin, ohne sich jemals völlig ausgeruht zu fühlen.
„Geht es dir besser, oder ist dir immer noch schwindlig?“, fragte ich vorsichtig.
„Besser“, murmelte er, aber er öffnete die Augen nicht.
„Dann stehen wir jetzt auf. Sam wird bald runterkommen und Fragen stellen, wenn du noch im Bett liegst. Wenn er wieder weg ist, kannst du weiterschlafen“, sagte ich zu ihm.
„Dein Bruder bekommt viel zu viel mit.“
Das entlockte mir fast ein sarkastisches Lachen. Wenn Sam zu viel mitbekommen würde, wäre ihm aufgefallen, wie verdammt krank unser Vater aussah, wie blass seine Haut war und wie er zitterte. Entweder war er verdammt blind oder er wollte einfach nicht mitbekommen, was los war. Das waren allerdings keine Gedanken, die ich aussprach.
„Ja, vielleicht“, antwortete ich vage. „Also, aufstehen ist angesagt. Na komm, ich hebe dich hoch.“ Ich bückte mich, um seine Beine zu fassen, und half ihm dann vorsichtig, sich aufzusetzen.
Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln – wahrscheinlich war ihm wieder schwindelig.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich, als er sich nicht mehr bewegte. Normalerweise konnte er, wenn er aufgestanden war, gehen und alleine ins Bad gehen, aber heute schien er nicht in der Lage zu sein, das zu erledigen. Es wurde definitiv immer schlimmer. Verdammt!
Ich schluckte schwer und kämpfte gegen die Tränen an. Es tat weh, ihn so zu sehen, seine Schmerzen, seine Kraftlosigkeit, seine Unfähigkeit, das zu tun, was er wollte. Er war zu jung, um so krank und hilflos zu sein.
„Ja. Es geht mir gut. Hilf mir beim Aufstehen. Ich schaffe das schon.“ Er klang überhaupt nicht überzeugend, aber ich wollte ihm so viel Selbstständigkeit wie möglich lassen.
„Gut. Ich warte hier, während du auf die Toilette gehst, dann machen wir dich fertig.“
Er nickte und machte sich auf den Weg durch den Raum, wobei er unsicher auf den Beinen wirkte. Ich machte mich bereit, ihm zu Hilfe zu springen, aber er kam nur minimal ins Straucheln.
Ich rieb mir mit einer Hand über das Gesicht und starrte auf die geschlossene Badezimmertür, wobei ich meine eigene Erschöpfung bis in die Knochen spürte. Gott, wie lange sollten wir so weitermachen? Nicht nur das Vortäuschen, dass es ihm gut ging, solange Sam zu Hause war, sondern auch die allgemeine Pflege. Er brauchte immer mehr Hilfe, es ging ihm immer schlechter, und eines Tages würde ich einfach nicht mehr in der Lage sein, alles zu tun, was er brauchte.
Ohne eine Diagnose und irgendeine Idee, wie man das behandeln konnte, waren wir in dieser Sache gefangen und konnten nichts tun, außer zuzusehen, wie mein Vater in rasantem Tempo alterte.
Ich konnte nicht die ganze Zeit zu Hause bleiben, ich musste arbeiten. Seine Erwerbsunfähigkeitsrente war nicht besonders hoch, und die Rentenkasse meiner Mutter zahlte auch nicht viel. Aber meine Mutter konnte sich nicht um ihn kümmern, wenn ich nicht da war, und das machte es noch schwieriger, jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Was zum Teufel sollten wir tun? Ich wusste es nicht.
Als Dad aus dem Bad kam, schien er etwas sicherer auf den Beinen zu sein, aber ich konnte den Schmerz in seinem Gesicht sehen. Er hatte gute und schlechte Tage, und heute war definitiv ein schlechter Tag.
Vielleicht wäre es besser, wenn er behauptete, Kopfschmerzen zu haben und sich den Vormittag über hinlegte. Sam würde wahrscheinlich sowieso bald verschwinden, um irgendwas zu unternehmen, und es wäre besser für Dad, im Bett zu bleiben, bis seine Schmerzmittel wirkten.
Die Entscheidung war gefallen, und ich zeigte wieder auf das Bett. „Leg dich wieder hin. Ich werde Sam sagen, dass du zu lange wach warst und ausschläfst“, sagte ich zu ihm.
Er schaute zuerst erschrocken, dann runzelte er die Stirn. „Ich sehe ihn sowieso kaum“, sagte er. „Ich möchte aufstehen und ihn sehen.“
„Ich weiß, aber du kannst dich kaum bewegen“, erwiderte ich. „Was willst du sagen, warum du so erschöpft bist? Weil du gestern eine lange Wanderung gemacht hast?“
Er verzog das Gesicht und ich bedauerte meine Worte sofort. Es war lange her, dass wir zusammen etwas draußen unternommen hatten, dass wir zusammen gewandert waren, und er wusste das genauso gut wie ich.
„Es tut mir leid“, sagte ich schnell. „Das war nicht so gemeint. Ich wollte damit nur sagen, dass es schwer ist, es als etwas anderes zu erklären.“
„Du meinst, als etwas anderes als wir wissen es nicht “, sagte er, und zum ersten Mal seit Langem klang seine Stimme bitter. Das war nicht verwunderlich. Die ganze Zeit mit all diesen Symptomen, ohne dass eine Diagnose oder eine wirkliche Behandlung in Sicht war … Das musste ihn noch mehr zermürben als uns, und ich fühlte mich wieder schuldig.
„Sie werden etwas finden“, sagte ich, aber ich wünschte, ich könnte mehr Überzeugung in meine Stimme legen. „Dann komm mit. Wir holen dir deine Medikamente, ziehen dich an und essen im Wohnzimmer, damit du in deinem bequemen Sessel sitzen kannst.“
Dad nickte. Egal, wie schlimm die Schmerzen waren, alles, was er alleine machen konnte, machte er auch. Ich wusste, dass es ihm peinlich war und er sich schämte, wenn ich ihn so sah, aber selbst, wenn wir es uns leisten könnten, eine Krankenschwester anzustellen, wäre das noch schlimmer. Ich musste genügen.
Ich musste stark genug für uns beide sein.
Nachdem er angezogen war, machten wir uns auf den Weg nach unten. Mom hatte bereits ein Glas Wasser und seine Schmerztabletten parat, die er schnell herunterschluckte. Sie würden wenigstens die Steifheit in seinen Gelenken lindern, wenn schon nichts anderes, und hoffentlich würde er es dann schaffen, so zu wirken, als wäre er gesund.
Himmel, wie lange wollten wir noch so tun, als wäre alles in Ordnung? Wir durften Sam nicht erlauben, das College abzubrechen, selbst wenn er es wollte. Wir würden das schon hinkriegen, Mom und ich, und Sam könnte das Leben weiterleben, das er wollte. Es war nicht nötig, dass wir alle die ganze Zeit zu Hause saßen.
Aber trotzdem konnte ich nicht leugnen, dass es einen egoistischen Teil in mir gab, der sich wünschte, es würde ihm auffallen und er würde nach Hause kommen. Dann könnte ich versuchen, ein Leben abseits der Arbeit zu haben, abseits der ständigen Verantwortung für jemanden oder etwas. Es war egoistisch, so verdammt egoistisch, und es war meinen Eltern gegenüber nicht fair. Ich ließ den Kopf sinken und versuchte, meine Scham zu verbergen.
Mom und Dad hatten sich um mich gekümmert, als ich ein Baby gewesen war, als ich krank gewesen war, als ich völlig hilflos war. Es war ja nicht so, als hätte er sich die Krankheit ausgesucht. Es war eben jetzt meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern, Ende.
Als wir uns alle zum Frühstück hingesetzt hatten, ich am Küchentisch und meine Eltern im Wohnzimmer, kam Sam die Treppe heruntergesprungen.
„Morgen!“ Er lächelte breit, ohne zu wissen, welche Anstrengungen Dad bereits unternommen hatte, um Sams Welt intakt zu halten.
„Morgen“, erwiderte ich, obwohl meine Worte flach klangen. Ich war zu müde, um so zu tun, als hätte auch ich gute Laune.
Sam bemerkte es entweder nicht oder es war ihm egal. Er ging in die Küche, machte sich eine Tasse Kaffee und einen Bagel und setzte sich dann mir gegenüber. „Was ist los? Ihr seid alle so still.“ Doch bevor ich etwas erwidern konnte, stopfte er sich schon den Bagel in den Mund. „Was habt ihr heute vor?“, fragte er mit vollem Mund.
„Kannst du reden oder essen, anstatt beides gleichzeitig zu tun?“, fragte ich. Hatte er denn keinerlei Benehmen?
„Wow, empfindlich heute.“ Sam streckte mir die Zunge heraus, aß dann aber zum Glück schweigend weiter. Ich hatte heute nicht die Energie, mich mit einem nervigen Bruder rumzuschlagen. „Gehst du später zur Arbeit?“, fragte er, nachdem er den Bissen Bagel heruntergeschluckt hatte.
Ich nickte. „Ja, Nachmittagsschicht.“
„Cool. Willst du mit uns abhängen? Du hattest doch neulich Spaß mit Finn, oder?“
„Als ob du das bemerkt hättest“, erwiderte ich, leicht verärgert darüber, dass er mich mit Finn hatte sitzen lassen, obwohl das schon ein paar Tage her war. Ich war einfach gereizt, und zu sehen, wie sehr Dad litt und Sam es nicht mitbekam, weil er seine verdammten Augen nicht aufmachte, half nicht gerade.
Außerdem war es schön gewesen, mit Finn abzuhängen.
„Du hast mir gesagt, ich soll es versuchen mit …“ Er schluckte. „Dem Mädchen.“
Er wusste also nicht mal mehr ihren Namen. Typisch. Ich zuckte mit den Schultern. „Mit Finn kann man gut reden.“ So viel musste ich zugeben.
„Dann komm und häng ein bisschen mit uns ab.“ Sam kippte seinen Kaffee hinunter.
„Was habt ihr denn vor?“, fragte ich misstrauisch. Wenn er so scharf darauf war, mich zum Mitkommen zu bewegen, hatte er wahrscheinlich irgendeinen Plan – zum Beispiel mich als Ablenkung für Finn zu benutzen, während er versuchte, ein Mädchen abzuschleppen.
„Nicht viel. Wir hängen nur im Einkaufszentrum ab.“
„Das Mausoleum? Ich wusste gar nicht, dass da noch Leute hingehen“, sagte ich und verzog das Gesicht. „Danke, aber nein.“
„Da gibt es immer noch diesen Brezel-Laden, den du so magst“, versuchte er es.
„Ich passe.“ Nicht meine Art von Spaß.
„Tja, dein Pech.“ Sam aß seinen Bagel auf. „Ich muss jetzt schnell duschen. Wenn Finn auftaucht, unterhalte ihn. Ich brauche nur zwei Minuten.“
Lügner. Er brauchte nie weniger als zwanzig.
Damit sprang er die Treppe hinauf und ließ mich allein in der Küche zurück, wo ich mich fragte, was zum Teufel er vorhatte. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, bei Dad im Wohnzimmer vorbeizuschauen, um guten Morgen zu sagen, was mich wütend machte. Dad hatte so viel auf sich genommen, um aufzustehen, damit er vielleicht etwas Zeit mit ihm verbringen konnte, und Sam konnte nicht einmal Hallo sagen? Ich knirschte mit den Zähnen. Ich wünschte mir so sehr, ich könnte etwas sagen, und mein Schweigen machte mich wahnsinnig.
Ich musste ihn auf Kurs bringen, ihn dazu bringen, mehr mit Dad zu reden. Dad spielte für ihn den Starken, verdammt. Er könnte sich wenigstens bemühen und zumindest Interesse heucheln. Ich wusste, dass er unsere Eltern liebte, aber für ihn war alles nur Spaß und Spiel, während er den angenehmen Seiten des Lebens nachjagte.
Finn schien merkwürdigerweise ganz anders zu sein. Er war wunderschön, und so sehr, wie er auf sein Äußeres achtete, hätte man leicht denken können, er sei genauso oberflächlich wie mein Bruder. Aber trotz des Make-ups und der Kleidung schien er weitaus sensibler zu sein als Sam – auch wenn das nicht schwer war.
Ich hatte das Gefühl, dass er viel tiefgründiger war, als ich anfangs gedacht hatte, und noch seltsamer war, dass ich herausfinden wollte, was er alles verbarg.
Er faszinierte mich, und ich brachte ihn nicht aus dem Kopf.
Als hätten ihn meine Gedanken herbeigerufen, klingelte es an der Tür.
„Kannst du aufmachen?“, rief Sam von oben. Einen Moment später quietschten die Rohre, und das Wasser begann zu laufen. Na toll. Er war schon seit fünf Minuten da oben. Was zur Hölle hatte er gemacht?
Würde nicht Finn draußen stehen, wäre ich erneut sauer auf ihn.
„Ich mache auf“, rief ich, denn ich wollte nicht, dass Mom vom Sofa aufstand, um die Tür zu öffnen. Auf dem Weg zum Eingang kam ich durch das Wohnzimmer.
„Er kann hier frühstücken, wenn er möchte“, sagte Mom.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich werde fragen, aber wir haben nur Müsli und Haferflocken.“
„In Ordnung.“ Sie wandte sich an Dad, um ihn etwas zu fragen, und ich hielt einen Moment lang inne, um die beiden anzusehen. Dad sah gar nicht gut aus, sein Gesicht war blass und grau, aber er wollte ja unbedingt aufstehen. Ich musste mich daran erinnern, dass es seine Entscheidung gewesen war.
„Geht es dir hier gut, Dad? Sonst kann ich dir auf dein Zimmer helfen –“
„Geh und sag Finn Hallo. Ich komme schon klar.“ Er warf mir einen strengen Blick zu, wahrscheinlich um mir zu sagen, dass ich aufhören sollte, ihn wie ein Kind zu behandeln. Aber wenn er wie eines war, genau so hilflos, wie konnte ich dann nicht fragen, ob es ihm gut ging?
„In Ordnung, ich gehe ja schon. Ruf mich, wenn du etwas brauchst.“
„Ja, ja“, sagte er und warf mir einen dieser allzu geduldigen Blicke zu. Wahrscheinlich hatte er genug von meiner Überfürsorglichkeit, aber ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber anders verhalten sollte. Er brauchte die Hilfe, ob er es nun zugeben wollte oder nicht.
Ich hatte Finn lange genug draußen warten lassen, also ging ich zur Tür und öffnete sie. Ich schenkte ihm ein angestrengtes Lächeln und trat zur Seite. „Komm rein. Sam ist spät dran, er duscht gerade noch. Willst du Frühstück oder so?“
„Äh, hi.“ Finn starrte mich an, als wüsste er genau, wie unecht mein Lächeln war. „Ich habe schon gegessen, aber zu einem Kaffee sage ich nicht Nein.“
„Klar. Komm rein.“ Ich öffnete die Tür weiter.
„Guten Morgen!“, rief Mom aus dem Wohnzimmer. Dad versuchte offensichtlich zu lächeln, aber es war eher eine Grimasse, und ich versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen.
„Hey, Mr und Mrs Stiles!“ Er blickte zu mir zurück und runzelte die Stirn. „Warte mal. Eigentlich brauche ich gar keinen Kaffee mehr. Frühstückst du gerade?“
„Äh, nein. Ich bin fertig.“ So, wie er klang, hatte ich das Gefühl, dass er mich etwas fragen wollte. „Warum?“
„Kommst du einen Moment mit mir nach draußen?“ Finn schaute mich mit seinen wunderschön geschminkten Augen an. Seine Lippen waren voll und auch farbig, so weich und doch so unbestreitbar zu einem Mann gehörend. Er stand dicht vor mir, fast zu dicht.
Ich schluckte schwer. Was war es, das mich so zu ihm hinzog?
„Klar. Was ist los?“ Ich trat hinaus und schloss die Tür hinter mir, als meine Füße die Fußmatte berührten.
„Ich wollte dich etwas fragen … aber ich weiß nicht genau, wie ich es formulieren soll.“
Das klang nicht gut. Aber ich hasste es, wenn Leute um den heißen Brei herumredeten. „Sprich es einfach aus.“
„Ich … Es geht um deinen Dad. Ist er … okay?“
Ich erstarrte. Sam hatte sich nie nach Dads Gesundheit erkundigt. Er schien die Probleme seines eigenen Vaters nicht einmal zu bemerken. Wie kam es, dass Finn das nach nur einem gemeinsamen Frühstück wusste?
Weil er Augen hat, sagte mir ein zynischer Teil meines Gehirns.
„Es geht ihm gut“, log ich achselzuckend. In den letzten Jahren war es so viel einfacher geworden zu lügen.
„Bist du sicher? Ich habe Sam gefragt, aber er hat nur mit den Schultern gezuckt. Ich will ja nicht neugierig sein, aber …“
„Nichts aber. Es geht ihm gut. Wirklich.“ Ich schloss beschämt die Augen und öffnete sie wieder, schaffte es aber nicht, Finns Blick zu treffen. Ich wollte ihn nicht anlügen. Ich wollte niemanden anlügen. Ich wollte einfach die Wahrheit sagen, aber Dad wollte absolut nicht, dass niemand etwas erfuhr.
Er hatte Angst, Sam würde das College abbrechen, so wie ich es getan hatte, aber er hatte auch Angst davor, wie sich die Nachbarn verhalten würden, was die anderen Leute von ihm denken könnten … Ich musste seine Wünsche respektieren, auch wenn es wohl langsam immer offensichtlicher wurde, dass es ihm nicht so gut ging, wie wir alle vorgaben.
„Okay.“ Er hielt inne. „Ich bin jedenfalls hier, wenn du reden willst oder mir irgendetwas erzählen willst.“
Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er bekam viel mit, was seine Mitmenschen und seine Umgebung anging und ich konnte nicht riskieren, dass er meine Fassade noch mehr durchschaute. „Danke. Ich weiß es zu schätzen, aber es gibt wirklich nichts zu besprechen.“
„Ist gut, Kane. Wirklich.“
Er legte seine Hand auf meine. Kleiner, aber nicht viel, was mich irgendwie überraschte. Seine Haut war allerdings viel gepflegter, weich, wo meine schwielig und rau war. Funkelnder, glitzernder Nagellack zierte seine Nägel, und ich war mir seiner Präsenz und Nähe so verdammt bewusst. Seine Hand blieb auf meiner, bedeckte sie, berührte mich – gab mir Halt, obwohl ich ihn gerade angelogen hatte und wir beide es wussten.
„Danke.“ Ich schlucke erneut schwer. Das Pflaster unter meinen Füßen schien in diesem Moment viel zu interessant zu sein. Ich wollte mehr sagen, aber meine Kehle war irgendwie zugeschnürt.
„Schhh. Es gibt keinen Grund zu reden.“ Finn berührte mich leicht, sodass ich meine Hand zurückziehen konnte, wenn ich wollte … aber ich tat es nicht. Das war der verwirrende Teil. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich zurückziehen wollte oder nicht, ob ich reden wollte oder nicht. Das warf mich völlig aus der Bahn. Wenn die Leute meinten, ich müsse über irgendwas reden, bedrängten sie mich normalerweise mehr, nicht weniger, bis ich regelrecht dichtmachte. Finn war anders, und es brachte mich komplett durcheinander.
Einen Moment lang stand ich schweigend neben ihm, völlig unsicher, was ich jetzt tun sollte.
Bevor ich es herausfinden konnte, öffnete sich die Tür hinter mir, und Sam stand da. „Hey, was macht ihr zwei denn da draußen? Gibt es ein geheimes Treffen, bei dem ich nicht dabei sein darf?“ Sam machte sich nicht einmal die Mühe, Finn zu begrüßen, sondern sprang einfach direkt in unseren Moment. Finn ließ mich los, und ich nahm es meinem Bruder ein wenig übel, dass er mir seine Berührung gestohlen hatte.
„Ja, eine geheime Besprechung darüber, wie wir dich in den See werfen könnten, weil du es anscheinend nicht schaffst, rechtzeitig unter die Dusche zu kommen.“
Sam schnaubte. „Als ob ihr das tun würdet. Außerdem liebt Mom Finn. Sie hätte ihn auch unterhalten.“
„Das ist trotzdem unhöflich, Sam, aber daran bin ich gewöhnt“, sagte Finn mit einem lang gezogenen Seufzer. „Aber Kanes Vorschlag klingt gut.“ Er lachte, um seinen Worten den Biss zu nehmen, während seine Hand zurück an seine Seite sank.
Sam schien nichts bemerkt zu haben – manchmal war es gut, wie viel er übersah – und drehte sich um, um die Veranda zu verlassen. „Versuch doch, mich jetzt in den See zu werfen, Bruder!“ Damit rannte er zu seinem Auto und rief: „Komm schon, Finn!“
Finn hob eine Augenbraue, drehte sich aber um, um Sam zu folgen. „Wir sehen uns bald.“ Damit ging er los und folgte meinem Bruder in einem viel langsameren Tempo.
War das ein Versprechen? Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich hoffte es.