„Mom, bitte.“ Ich stöhnte und ließ meinen Kopf in meine offene Handfläche sinken.
„Du kannst doch einmal mit uns zu Abend essen, oder? Wir haben dich ja in letzter Zeit nicht oft gesehen.“ Verdammt, war sie gut darin, diese mütterliche Schuld in ihre Stimme zu legen.
„Aber …“
„Es ist nur ein einziges Mal. Keiner von uns hat deine alten Klassenkameraden seit Jahren gesehen, und ich würde mich gerne mit ihren Eltern treffen, jetzt, wo wir wieder in der Stadt sind. Es wäre lustig –“
„Mom!“ Ich unterbrach sie. „Mom, bitte. Hör zu, okay?“ Ich atmete tief ein. Sie hatte mich mit dem „Vorschlag“ überrumpelt, sobald ich zur Tür hereinkam, mit ein paar anderen Eltern und ihren Kindern von meiner ehemaligen Highschool essen zu gehen. Damit war ein schöner und entspannter Tag mit Sam ruiniert.
„Was ist los?“
„Okay, also … Ich muss dir ein paar Dinge erzählen. Ich habe nichts gesagt, weil das Reden nichts geändert hätte, aber meine Jahre an der Highschool … Die waren nicht so lustig, um es vorsichtig auszudrücken. Diese Kinder haben mich alle ausgelacht, sich über mich lustig gemacht, und ich habe keine Lust, das noch einmal durchzumachen. Ich will sie nicht sehen.“
„Oh, Liebling …“ Sie seufzte. „Warum hast du nichts gesagt? Ich meine, ich weiß, dass du nicht versucht hast, dich anzupassen, aber –“
„Mom. Mom! Im Ernst.“ Ich rieb mir den Nasenrücken. Ich sprach nie darüber, weil es zu sehr wehtat. Aber es war weniger schmerzhaft, es zu sagen, als mit den anderen zum Essen zu gehen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. „Sie haben mich schikaniert. Sie haben mich beschimpft. Sie haben meine Hausaufgaben zerrissen und mich herumgeschubst, mir ein Bein gestellt, mich aufgehalten, damit ich zu spät zum Unterricht kam …“
„Das waren nur Jungs und ihre Späße. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Keiner von ihnen wird dir das jetzt noch antun.“ Sie lächelte mich immer noch an, wild entschlossen, mich zum Mitgehen zu bewegen.
Glaubte sie wirklich, dass sich keiner von ihnen mehr über mich lustig machen würde? Wenn ich in der Highschool schon feminin war, dann war das jetzt noch zehnmal ausgeprägter. Und auf keinen Fall würde ich ihretwegen irgendwas an mir verändern an. Nicht jetzt und nie wieder.
„Es liegt nicht in der Vergangenheit. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht. Jeden verdammten Tag. Ich war offensichtlich schwul, und ich hatte keine andere Wahl, als dazu zu stehen. Du weißt, wie schlimm meine Akne war, und du weißt, wie vernarbt ich jetzt deswegen bin. Ich war kleiner, schwächer, hatte kein Rückgrat.“ Ich schloss die Augen und schluckte schwer. Es tat immer noch weh. „Und sie haben all diese Dinge in einer Zeit getan, in der ich mich nicht wehren konnte.“
„Aber –“ Sie versuchte wieder, mich zu unterbrechen, aber ich hob die Hand.
„Lass mich ausreden, bitte.“ Ich räusperte mich. „Da wurde mir schließlich klar, dass ich nur eine Wahl hatte. Ich würde mich nie anpassen können. Ich konnte unglücklich sein und mich miserabel fühlen, oder ich konnte aufhören zu versuchen, etwas zu sein, was ich nicht war.“
Es war ein gutes Gefühl, diese Worte laut auszusprechen. Ich wollte sie schon seit Jahren sagen.
Ihre Augen wurden groß. „War das der Grund, warum du –“
„Ja.“ Ich nickte. „Das war der Grund, warum ich anfing, das zu tragen, was ich wollte, warum ich anfing, mich zu schminken. Ich wusste, dass du und Dad denken würden, dass ich die Reaktionen und Hänseleien herausforderte, aber es war meine Art, mich zu wehren. Sie machten sich sowieso über mich lustig, warum sollte ich mich also nicht wenigstens wie ich selbst fühlen? Was hatte ich noch zu verlieren? Nichts. Dann sind wir weggezogen, also war es sowieso egal. Also nein, du wirst mich nicht dazu bringen, mit ihnen zu einem netten Essen zu gehen. Auf keinen Fall. Wenn du mit den Eltern etwas unternehmen willst, kannst du das gerne tun. Aber zwing mich nicht, ihnen gegenüberzutreten, denn das werde ich nicht tun.“ Ich sah sie an und ließ die Entschlossenheit, die ich spürte, in meinen Blick sinken.
Zumindest hoffte ich, dass sie das sah, denn innerlich war ich verletzt. Ich hatte es nie geschafft, die Angst loszulassen, die Befürchtung, das Opfer zu sein, egal, wie sehr ich es versuchte. Es war leichter geworden, als wir weggezogen waren und ich in eine aufgeschlossenere Umgebung kam, und es war sogar noch leichter geworden, mich selbst zu akzeptieren, als ich das College begonnen hatte.
Ich musste nicht mehr defensiv und ängstlich sein. Bis ich vor ein paar Tagen hierher kam, war ich das nicht. Überall sonst war ich sorglos, selbstbewusst, ein Typ, der von innen und außen strahlte. Wenn jemand ein Problem mit mir hatte, konnte er mich mal. Und wenn das nichts half, würde ich einfach etwas Glitter draufwerfen. Ich schnaubte lautlos. Irgendwann musste ich wirklich mal eine Glitterbombe auf jemanden werfen … Vielleicht sollte ich mir überlegen, ob ich nicht doch zu Abendessen mitgehen sollte – bewaffnet mit einer Tüte Glitter.
„Finn, ich hätte dir nie gesagt, dass du mit hingehen sollst, wenn ich das gewusst hätte“, sagte sie, und sie hatte die Dreistigkeit, verletzt zu klingen, als wäre sie diejenige gewesen, der Unrecht getan wurde.
Verdammt, genau das war der Grund, warum ich ihr nie von dem Mobbing erzählt hatte. Ich wusste, dass sie und Dad nur sagen würden, ich hätte es herausgefordert, oder mir sagen würden, ich solle damit klarkommen – was ich ja auch getan hatte, nur eben nach meinen Regeln. Wenn diese Arschlöcher mich wie Scheiße behandeln wollten, dann sollten sie sich darüber lustig machen, wer ich wirklich war, und nicht über das schwache Kind, als das sie mich sahen.
„Nun, gut, denn meine endgültige Antwort ist Nein.“
Sie wich zurück. „Es tut mir leid. Wir dachten nie, dass du –“
„Ich habe nie etwas gesagt, weil es nichts geändert hätte. Was hättet ihr denn getan? Du und Dad hättet mir immer noch das Gleiche gesagt, dass ich mich verstecken oder sie einfach ignorieren sollte. Ich habe versucht, sie zu ignorieren“, wiederholte ich in dem Versuch, sie zum Verstehen zu bringen. „Es hat nicht funktioniert. Und selbst wenn ihr es verstanden hättet … Was hättet ihr ändern können? Nichts. Ich habe getan, was ich tun musste, und am Ende … habe ich wohl gewonnen. Ich bezweifle, dass ein paar Jahre sie toleranter gemacht haben.“
„Ich …“ Sie brach ab, dann fing sie wieder an. „Es tut mir so leid, Finn. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.“
„Nichts. Wirklich, es gibt keinen Grund, irgendetwas zu sagen. Vor allem gibt es keinen Grund, es Dad zu erzählen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass seine Vorstellung davon, Mobbern zu trotzen, nicht darin besteht, Make-up und hautenge Jeans zu tragen.“
Daraufhin schnaubte sie tatsächlich.
„Also … Sag es ihm nicht. Ich möchte nicht darüber reden oder darüber nachdenken. Meine Klamotten, mein Make-up, meine Persönlichkeit – so bin ich eben. Das würde ich nicht ändern, und ich weiß, dass er versuchen würde, mich dazu zu überreden.“
„Das wird er nicht tun, Finn.“ Moms Stimme klang nicht überzeugend. Sie wusste genauso gut wie ich, dass er darauf beharrt hätte, es würde irgendwann helfen, mehr so zu sein wie alle anderen.
„Mom, können wir bitte aufhören, so zu tun, als würde er mich eines Tages einfach so akzeptieren, wie ich bin? Ich weiß, dass ihr mich liebt, das tue ich wirklich, aber das ist einfach etwas, worüber wir uns nie einig sein werden.“ Ich fuhr mir mit einer Hand durch die Haare, plötzlich erschöpft. Ich hasste es so sehr, dass sie mich nicht verstehen oder akzeptieren konnten. Ich wollte einfach nur ich sein. War das so schwer?
„Überlege es dir doch noch einmal, Finn. Es ist nur ein Abendessen, und die Eltern werden auch da sein. Niemand wird sich danebenbenehmen.“ Sie sah mich an, als hätte ich ihr nicht gerade eine Menge über meine Probleme während der Schulzeit hier erzählt. Verdammt noch mal.
Ich knirschte mit den Zähnen und zwang mich, ruhig zu bleiben.
„Hier ist eine kurze, direkte Antwort, Mom: auf keinen Fall. Nicht einmal, wenn du versuchst, mich schreiend und brüllend dahin zu zerren. Nicht, wenn du mich bedrohst, erpresst oder versuchst, mich zu bestechen. Du denkst vielleicht, dass es nicht so schlimm war, aber das war es. Es war schlimmer . Ich für meinen Teil habe keine Lust, einen dieser Idioten wiederzusehen. Also viel Spaß beim Essen, aber ohne mich.“ Mit diesen Worten schloss ich die Augen. Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie würde es nicht verstehen, egal wie sehr ich versuchte, ihr zu erklären, wie mich das Mobbing verletzt hatte.
Ich hatte damit klarkommen müssen, also würde ich auch jetzt entscheiden, mit wem ich meine Zeit verbrachte.
„Ich werde jetzt gehen. Wenn du beschließt, dass ihr euch mit Sam und seinen Eltern treffen wollt, bin ich gerne dabei, aber ich werde nicht zu diesem anderen Abendessen gehen. Wir sehen uns später, okay?“ Unhöflich? Wahrscheinlich. Aber es war mir mehr als egal.
Mom sah wieder verletzt aus, aber sie sagte nichts dazu. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass sie ihre Grenzen überschritten hatte. Wie auch immer, ich ging, bevor sie reagieren konnte, mit dem Vorsatz, den einzigen Ort aufzusuchen, an dem ich mich sicher fühlte: Sams Haus.
Es war seltsam, wie wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatten, und doch fühlte ich mich dort wohler als im Haus meiner Eltern. Wahrscheinlich lag es daran, dass er mich so leicht akzeptierte und seine Eltern nicht zweimal blinzelten, wenn sie mich ansahen.
Und dann war da natürlich noch Kane.
Erst als ich bei Sams Haus ankam, wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich hätte vorher anrufen sollen, vor allem, weil ich sein Auto nicht in der Einfahrt sah. Aber Kanes Motorrad stand da, und vielleicht konnte er mir sagen, wo ich Sam finden konnte. Oder ich könnte sein Motorrad noch ein bisschen mehr anstarren und ihn mir darauf vorstellen.
Einem Teil von mir gefiel es überhaupt nicht, dass er es fuhr, vor allem weil diese Dinger verdammt gefährlich sein konnten. Andererseits war es aber auch sexy. Männer auf Motorrädern hatten einfach etwas an sich, das ich nicht beschreiben konnte … Und bei Kane war es die Kombination. In den seltenen Momenten, in denen er mich das sehen ließ, wirkte er so verletzlich, und dann war er die Art von starkem, unabhängigem Mann, die ich mochte – vielleicht mehr, als ich sollte.
„Hey“, sagte Kane von der Haustür aus und winkte mir zu, bevor ich überhaupt die Gelegenheit hatte, anzuklopfen. „Sam ist nicht da, falls du ihn suchst. Er hat angeboten, für Mom ein paar Lebensmittel einzukaufen.“
Ich hob meine Hand zur Begrüßung und ein Lächeln erschien auf meinen Lippen. „Warum habe ich das Gefühl, dass er nur jede Menge Süßigkeiten kauft, um sie mit ins Wohnheim zu nehmen?“
Kanes Lächeln wurde für einen Moment angespannt, dann wurde es ein wenig echter, als er näher kam. „Ja, höchstwahrscheinlich. Aber wenigstens versucht er, etwas Sinnvolles zu tun.“
„Hey, ich bin mir sicher, er ist nicht so schlimm.“ Ich hatte das Gefühl, Sam verteidigen zu müssen, obwohl er nach allem, was ich gesehen hatte, wirklich faul war, wenn er zu Hause war.
„Nein, so schlimm ist er nicht. Er ist schlimmer. Typisch Student.“ Aber Kane lachte leise, was seinen Worten die Schärfe nahm.
„Keine Witze über Studenten. Du verletzt sonst meinen Stolz.“
„Deinen Stolz?“ Er lachte wieder. „So selbstbewusst, wie du bist, kann ich mir nicht vorstellen, dass man deinen Stolz verletzten kann.“ Wenn er nur wüsste. „Ich bin immer noch überrascht, dass du nicht die Regenbogenflagge schwenkst und mit Glitter um dich wirfst.“ Er stand jetzt neben mir und überragte mich.
Aber er war nahe. Viel zu nahe, als dass mir etwas Witziges hätte einfallen können, irgendetwas über Glitter oder darüber, dass man stolz darauf sein sollte, man selbst zu sein. Aber verdammt, ich konnte überhaupt nicht denken, wenn er mich so ansah.
„Keine Regenbogenflagge? Oder nur kein Glitter?“, stichelte Kane.
Ich räusperte mich und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. „Ich kann dich mit einer Glitterbombe bewerfen, nur zur Info. Aber es ist eine wahnsinnige Sauerei, das wieder wegzubekommen.“
„Wo wegzubekommen?“, fragte er.
„Eher, es wo rauszubekommen, und die Antwort ist von überall . Egal, was du tust, du wirst es überall finden.“
„Ich glaube, dann verzichte ich auf Glitter.“ Kanes kräftige Finger glitten gedankenverloren über die Ledersitze seines Motorrads.
„Mmhm. Ich glaube nicht, dass du darauf verzichten kannst. Wenn ich dich damit bewerfe, hast du keine Wahl.“
„Das würdest du nicht wagen.“
Ich grinste, wobei ich alle meine Zähne zeigte. „Darauf würde ich nicht wetten.“
„Kann ich dich irgendwie bestechen, damit du das nicht tust?“, fragte er, obwohl ich das Lächeln in seiner Stimme noch immer hören konnte. Er glaubte nicht, dass ich es wirklich tun würde.
Er würde es lernen. Oh, und wie er es lernen würde.
Ich trat einen Schritt näher an ihn und sein Motorrad heran. „Wie wärs mit einer Spritztour?“ Ich berührte den Sitz und fuhr mit den Fingern über das Leder, wie ich es mit dem Körper eines Liebhabers tun würde.
„Eine Spritztour?“, wiederholte er. Er schluckte und sah zu mir hinunter. Ich stand direkt vor ihm, so nah, dass wir uns fast berührten.
„Auf deinem Motorrad. Eine Fahrt, und ich überdenke die Glitterattacke vielleicht noch einmal.“
„Überdenken … Klingt, als hätte ich vielleicht eine Chance.“ Er wich nicht zurück, und einen Moment lang schien er über etwas nachzudenken. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Bist du dir sicher, dass du nicht auf Sam warten willst? Er sollte nicht mehr allzu lange brauchen.“
„Um mit mir eine Runde zu drehen? Nein, ich würde ihm ganz sicher nicht zutrauen, dass er uns nicht gegen einen Baum fährt.“
Kane schnaubte. „Ich würde ihn nicht mal in die Nähe meines Motorrads lassen, wenn es um das Ende der Welt ginge. Er darf mein Baby nicht mal anfassen.“
Glückliches Motorrad, so besitzergreifend wie er war.
„Du bist empfindlich, was dein Motorrad angeht, was?“
„Ja, darauf kannst du wetten.“ Er legte eine Hand auf den Lenker und streichelte ihn. Das brachte mich auf Gedanken, an die ich nie hätte denken sollen, also verdrängte ich sie schnell.
„Warte … ich kann … ich kann dich mitnehmen.“
„Nur, wenn du Zeit hast“, sagte ich. Es war lustig, ihn dazu zu überreden, aber nur, wenn er wirklich Zeit hatte, und nicht, weil ich ihn unter Druck gesetzt hatte.
Kane zuckte mit den Schultern. „Ich muss erst in ein paar Stunden zur Arbeit. Ich wollte sowieso eine Runde drehen, um einen klaren Kopf zu bekommen.“ Er deutete auf seine Stiefel. „Du kannst genauso gut mitkommen, wenn du willst.“
„Ein Ritt mit einem heißen Kerl –“ Kane verschluckte sich fast, und ich klimperte mit den Wimpern und korrigierte: „Ich meine, auf einem heißen Motorrad? Betrachte mich als willig. Sogar, wenn ich darum betteln muss, genommen zu werden. Mitgenommen, meine ich.“ Ich lachte, als ich Kanes gequältes Gesicht sah.
Er schüttelte den Kopf. „Lass mich den Ersatzhelm holen. Er sollte dir passen.“
Ich war ein wenig enttäuscht, dass er den Köder nicht geschluckt hatte, aber trotzdem machte ich Fortschritte. Ich konnte nah bei ihm sitzen, ihn festhalten und ihn berühren. Definitiv ein Fortschritt.
Kane kam einen Moment später mit den Helmen in der Hand zurück. „Hier, bitte.“ Er reichte mir einen, schloss den Reißverschluss der Jacke, die er angezogen hatte, und setzte sich auf sein Motorrad, bevor ich es überhaupt schaffte, den Verschluss zu öffnen, um den Helm aufzusetzen. „Komm schon. Dafür, dass du so penetrant warst, trödelst du jetzt ganz schön rum. Hast du Angst?“ Ich konnte nicht sein ganzes Gesicht sehen, aber seine Stimme verriet seine Belustigung.
„Niemals.“ Ich setzte mir den Helm auf und wartete, bis er die Maschine anließ. Sie erwachte dröhnend zum Leben, ein tiefes und volles Geräusch.
„Steig auf!“, brüllte Kane über den Lärm hinweg.
Ich klammerte mich an das Motorrad und versuchte, mein Bein elegant über den Sitz zu heben, was mir wahrscheinlich nicht gelang. Aber dann setzte ich mich hinter ihn, schlang meine Arme um ihn, berührte das kühle Leder seiner Jacke – und atmete den Duft des Leders und seines Parfums ein.
„Bist du schon mal gefahren?“, fragte er über das Motorengeräusch hinweg.
„Zählen Karussells?“ Ich erwartete irgendwie, dass er vor Frustration den Kopf gegen den Lenker schlagen würde, aber das machte er nicht.
„Das heißt also Nein.“
Was müsste ich tun, um ihn tatsächlich zu verärgern?
„Okay, also.“ Er erklärte mir schnell die Grundlagen des Motorradfahrens, offensichtlich in der Erwartung, dass ich das schnell kapieren würde. „Hast du das verstanden?“
Ich nickte. „Ich denke schon.“ Ich schlang meine Arme um ihn.
„Okay, dann halt dich fest.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, fuhr er aus der Einfahrt auf die Straße, und ich klammerte mich fest, so gut es ging.
Zuerst fuhr er vorsichtig und gab mir Zeit, mich daran zu gewöhnen, mich so in die Kurven zu legen, wie er es tat. Wir fuhren nicht sehr schnell, aber die Häuser flogen vorbei.
Mein Kopf schwirrte, mein Herz pochte, und es fühlte sich irgendwie an wie Fliegen. Ich umklammerte immer noch seine Taille und hatte nicht vor, ihn so bald loszulassen. Selbst wenn er das Motorrad anhielt, würde ich meine Hände dort lassen, nur um ihn zu berühren.
Dann erreichten wir eine größere Straße, und er erhöhte das Tempo.
Oh. Mein. Gott.
Warum hatte ich das noch nie ausprobiert? Ich umklammerte ihn noch fester, den Geruch von Leder in der Nase und sah die Landschaft an mir vorbeifliegen.
Das war unglaublich. Atemberaubend. Unfassbar.
Ich schloss die Augen, lehnte meinen Kopf an Kanes Rücken und hielt mich einfach fest. Ich hatte mich noch nie so frei, so schwerelos, so unbeschwert gefühlt.
***
Kane fuhr gefühlt stundenlang. An manchen Stellen wurde er langsamer, an anderen wiederum kam er mir fast zu schnell vor. Ich hielt mich fest, denn ich wusste, dass ich sicher war, solange ich mich an ihn klammerte. Das traf mich irgendwann, als wir über einen der ziemlich leeren Highways sausten: Mit ihm fühlte ich mich beschützt.
Aber irgendwann kam er leider zum Stehen. Ich öffnete meine Augen und sah seine Einfahrt. Wegen mir hätten wir noch ewig weiterfahren können, aber er hatte gesagt, er müsse arbeiten.
Er stellte den Motor ab und wir saßen einen Moment lang schweigend da, was nach dem Dröhnen des Motorrads zuvor fast ohrenbetäubend war. Mir wurde klar, dass ich absteigen musste, und so schwang ich mein Bein über die Rückseite des Motorrads. Als ich harten Beton unter meinen Füßen spürte, stolperte ich. Wow, meine Beine waren wie Wackelpudding.
Kanes Hand schoss hervor und fing mich auf. „Langsam.“ Er kletterte vom Motorrad, ohne mich loszulassen. „Bist du okay?“
Ich nickte, leicht verlegen. „Ja, hat nur eine Minute gedauert, bis ich mein Gleichgewicht gefunden habe.“
„Das kommt vor, ja.“ Er ließ meinen Arm immer noch nicht los. „Es ist die Mischung aus Adrenalin und Geschwindigkeit.“
„So was dachte ich mir schon.“ Ich wich nicht zurück, obwohl wir viel zu nahe beieinanderstanden.
Schweigen legte sich wieder über uns und ich sah zu ihm auf. Ich konnte nicht einmal atmen, so viel Spannung lag in der Luft. Aber er bewegte sich nicht, genauso wenig wie ich. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ er mich los.
Ich ließ meinen Arm sinken und trat zurück. „Danke, dass du mich auf die Fahrt mitgenommen hast. Es war unbeschreiblich.“
„Gern geschehen. Du hattest ziemlich gute Argumente. Ich brauche keine Glitterattacke“, sagte er, nahm den Helm ab und grinste mich an.
Ich nahm meinen Eigenen ab und erwiderte das Grinsen. „Ich sagte, ich würde es mir überlegen … nicht, dass es nicht passieren würde.“
„Oh, komm schon, wirklich? Ich habe dich auf eine so lange Fahrt mitgenommen und du bist trotzdem so gemein?“ Er musterte mich. „Das klingt ein bisschen unfair. Ich will keine Glitterbombe abbekommen. Weißt du, was ich mit dir machen würde, wenn du diese Schönheit hier mit Glitzer überziehst?“, fragte er und tätschelte den Lenker.
Nein, aber ich würde es verdammt gerne herausfinden, wenn es bedeutete, dass er schmutzige Dinge mit mir anstellen würde.
Ich klimperte mit den Wimpern. „Mich übers Knie legen?“
Kane wurde so rot, dass ich mir nicht helfen konnte. Ich fing an zu lachen. „Das würde dir wahrscheinlich zu sehr gefallen“, murmelte er so leise, dass ich nicht einmal sicher sein konnte, ob er die Worte wirklich gesagt hatte.
Vielleicht hatte er ja recht. Ich stand nicht so sehr auf Spanking als Bestrafung, aber zum Vergnügen? Das war eine andere Geschichte. „Willst du es herausfinden? Ich glaube, ich habe etwas Glitter in meiner Tasche.“ Ich tat so, als würde ich sie durchwühlen.
„Was? Nein!“ Diesmal klang er mehr panisch als belustigt.
Okay, sein Motorrad war also wirklich tabu. Auch wenn es mir Spaß machte, ihn zu ärgern, wollte ich ihn nicht wirklich sauer machen. „Ich werde den Glitter von deinem Motorrad fernhalten, aber was ist mit dir? Oder deinem –“
Ich konnte nicht so schnell reagieren, wie er auf mir war, seine Finger in meine Rippen grub, und mich kitzelte. Ich wand mich und versuchte, seinen flinken Fingern auszuweichen, aber er war so verdammt viel stärker als ich. Er hielt mich mühelos fest, während ich nach Luft schnappte, ohne mich überhaupt wehren zu können. Kane ließ nicht locker, ließ mir keine Sekunde Zeit, mich unter Kontrolle zu bringen, sondern zwang mich zu lachen und um Gnade zu betteln.
Schließlich hielt er mich einfach fest, nicht einmal außer Atem – ganz im Gegensatz zu mir, denn ich stand mit den Händen auf den Oberschenkeln da und wischte mir die Lachtränen aus den Augen.
„Willst du die Glitterattacke überdenken? Es gibt noch mehr davon, nur für den Fall, dass du immer noch nicht überzeugt bist.“ Belustigung lag in seiner Stimme.
Ich konnte nicht einmal antworten, aber ich schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall. Mit einem Spanking konnte ich umgehen, selbst wenn es eine Bestrafung durch einen heißen Kerl war. Aber gekitzelt zu werden war nicht mein Ding.
Als ich mich endlich wieder unter Kontrolle hatte, versuchte ich, ihn böse anzustarren. „Ich denke, ich werde Sam als mein Opfer auswählen. Du bist zu fies. Es ist nicht nett, derart schmutzig zu kämpfen.“
Kane hob eine Augenbraue. „Wer sagt, dass ich nett bin?“
„Hmm, das stimmt. Nein, warte. Du hast mich auf dem Motorrad mitgenommen, du hast mich davor bewahrt, allein am Lagerfeuer zu sein, als Sam das Mädchen abgeschleppt hat, und du hast mich mit deiner Familie frühstücken lassen. Also bist du doch nett.“
Zu meiner Überraschung wurde er wieder rot. „Das war nicht nett. Das war nur …“ Er verstummte.
„Nett. Anders kann man es nicht sagen. Also akzeptiere es einfach. Solange du mich nicht kitzelst, bist du nett.“
Kane brummte etwas, das ich nicht verstand, aber ich fragte auch nicht nach. Dann platzte er plötzlich heraus: „Willst du was trinken gehen?“
„Bei dir?“
„Ähm, ich meinte, ob wir woanders etwas trinken gehen. Eine Cola, ein Bier – nein, warte, ich muss später arbeiten, aber vielleicht ein Eis oder so?“
Moment, was? Was trinken gehen? „Jetzt?“
„Wenn du noch Zeit hast, sicher. Wenn nicht, kein Problem, dann eben ein anderes Mal.“ Jetzt klang er plötzlich nervös.
„Ich … Jetzt. Jetzt ist okay. Ich habe …“ Ich schaute auf mein Handy. „Ich habe Zeit.“
„Aber Sam sollte bald zurück sein …“
„Mit dem kann ich mich später noch treffen.“ Ich warf ihm ein Lächeln zu, diesmal aber nicht so selbstsicher wie sonst. Irgendwie hatte er mich durcheinandergebracht.
Er legte seinen Helm auf das Motorrad, nahm meinen, dann nickte er. „Lass uns zu Fuß gehen. Ich kenne ein Lokal, das nur ein paar Minuten entfernt ist.“
Was genau wollten wir eigentlich machen? Hatten wir das schon entschieden?
Er ging los. „Ich weiß nicht, ob du schon mal im Diner warst. Es hat erst vor einem Jahr oder so eröffnet. Da gibts Eis und Getränke und so.“
Ich nickte, bevor ich neben ihm herging.