Ich erwartete dauernd, dass Finn absagen würde.
Ich wusste, dass es ziemlich früh für ihn war, und obwohl ich ihn damit aufgezogen hatte, ihn um fünf Uhr aus dem Haus zu zerren, hätte ich ihm das nicht wirklich angetan.
Wahrscheinlich.
Sam allerdings … Das war eine Idee, die ich im Hinterkopf behalten musste. Sam und ich verbrachten nicht viel Zeit miteinander, und seinen jammernden Arsch um fünf Uhr morgens auf eine Wanderung zu schleppen, würde sicher zu einer gewissen brüderlichen Bindung führen. Wenn man es als brüderliche Bindung bezeichnen konnte, dass ich ihn auslachte.
Ich fuhr mit dem Kleiderbündel zu Finns Haus und schrieb ihm eine Nachricht, dass ich da war, anstatt zu klopfen. Ich wusste nicht, ob seine Eltern um sieben Uhr morgens schon wach waren, und ich wollte sie nicht stören. Finn hatte nicht abgesagt, aber vielleicht hatte er verschlafen und es war noch niemand wach, der die Tür aufmachen konnte.
Er hatte es sehr klar gestellt, dass er nie so früh aufstand. Es musste schön sein, zu studieren und bis mittags zu schlafen und dann vielleicht zum College zu gehen – oder auch nicht, je nachdem, wie man sich fühlte. Ich konnte mir diese Freiheit gar nicht mehr vorstellen.
Ich verdrängte diesen Gedanken. Es gab keinen Grund, mich jetzt damit zu quälen, denn es war nichts zu ändern. Und Finn hatte bestimmt keine Schuld daran, dass ich das College hatte abbrechen müssen.
Finn öffnete die Tür, komplett geschminkt und bereit. Ich musste zugeben, dass ich ein wenig enttäuscht war. Ich hatte halb gehofft, ihn ungeschminkt zu sehen, vor allem, um ihm ein Kompliment machen zu können. Ich war mir so sicher, dass er ohne Make-up genauso toll aussehen würde wie mit.
Warum dachte ich darüber nach? Klar, er sah … gut aus. Er sah immer gut aus. Aber ich war neugierig, warum er das Bedürfnis hatte, sich hinter dem ganzen Make-up zu verstecken.
„Hey“, sagte ich leise und reichte ihm das ordentlich gefaltete Kleiderbündel. „Keine Sorge. Ich habe Sam gezwungen, sie zu waschen, bevor er sie mir gegeben hat.“
Finn lachte. „Danke. Gib mir eine Sekunde, um sie anzuziehen. Warte kurz.“
Eigentlich wollte ich nicht, dass er die Jeans auszog, die er trug, obwohl es mir nichts ausmachen würde, ihm dabei zuzusehen, wie er sie auszog. Sie war hauteng, wie immer, aber sie stand ihm gut. Ich stellte mir nur die Frage, wie zur Hölle er atmete, aber er schaffte das offensichtlich irgendwie. Die Outdoor-Kleidung war allerdings viel bequemer, es sei denn, er zog den Gürtel zu eng.
Die Tür öffnete sich wieder und er kam mit einem finsteren Gesicht heraus. „So gehe ich nicht nach draußen.“ Die Hose war natürlich viel weiter als seine Jeans, weil … verdammt, alles wäre weiter als diese Jeans. Das Gleiche galt für die anderen Sachen, obwohl sie nicht so locker saßen, wie ich befürchtet hatte.
„Du siehst toll aus und es ist perfekt zum Wandern. Mach dir keine Sorgen“, versuchte ich, ihn zu beruhigen.
Finn sah an sich herunter, offensichtlich nicht überzeugt.
„Du siehst wirklich gut aus, und wir gehen wandern. Sonst nichts. Wir werden auf meinem Motorrad unterwegs sein, bis wir dort ankommen, und dann wird dich niemand außer mir sehen. Ist das in Ordnung für dich?“
Finn zögerte einen Moment, dann nickte er. „Um ehrlich zu sein, fühle ich mich nicht gerade wie ich selbst. Da ist absolut kein Glitzern oder leuchtende Farben oder so. Die sehen aus wie … ich habe nicht einmal Worte dafür.“
„Sie sehen aus wie Outdoor-Kleidung“, sagte ich trocken. „Kleidung, die dafür gemacht ist, bequem zu sein, wenn man, du weißt schon, herumläuft. Wenn man wandert.“ Ich grinste ihn an, als sein Gesichtsausdruck eine niedliche Mischung aus Entsetzen über das Tragen dieser Kleidung und rationalem Verständnis für den Grund, warum er sie trug, wurde.
Finns Unterlippe schob sich vor, aber nach einem Moment hielt er sich anscheinend selbst vom Schmollen ab. „Ich weiß immer noch nicht, warum ich überhaupt zugestimmt habe, aber da ich bereits dafür angezogen bin …“
Hätte ich nicht seinen Tonfall gehört, der alles andere als widerwillig war, hätte ich mir Sorgen gemacht, dass er seine Entscheidung bereute. Aber so schlang ich einfach einen Arm um seine Schultern und zog seinen kleineren Körper an meinen. „Zeig wenigstens ein bisschen Enthusiasmus. Immerhin habe ich dich ausschlafen lassen …“ Ich grinste angesichts seines Gesichtsausdruckes, „und ich werde dich nicht kilometerweit schleppen, bis du umfällst. Ich habe eine Strecke ausgesucht, die dir gefallen dürfte. Sie ist nicht zu steil, und es gibt echt atemberaubende Ausblicke.“
Ich zog ihn sanft mit zu meinem Motorrad und ignorierte dabei völlig die Tatsache, dass er sich nicht wie mein Bruder anfühlte, obwohl er wie er roch. Und fuck, wie er sich anfühlte … so ganz, ganz anders als bei meinem Bruder.
Ich schluckte, dann ließ ich Finn los, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, warum es so anders war.
„Ich habe Kaffee. Wenn du auf das Motorrad steigst, ohne dich zu sehr zu beschweren, bekommst du welchen, wenn wir da sind. Er ist sogar in Thermobechern, also ist er heiß.“ Ich wackelte mit den Augenbrauen.
„Das ist Erpressung!“ Finn starrte mich an, als hätte ich sein Make-up entführt und würde es als Geisel halten.
„Nein. Das ist genau genommen Bestechung“, korrigierte ich ihn und legte ihm eine Hand auf den Rücken, um ihn die letzten paar Schritte zum Motorrad zu begleiten.
„Bestechung wären Süßigkeiten und Kaffee. Mit dem Vorenthalten von Kaffee zu drohen, ist einfach Erpressung.“
„Und was ist, wenn ich sage, ich hätte beides? Kaffee und Essen?“
„Dann müsste ich dich vielleicht heiraten.“ Wir lachten beide, aber es war teilweise amüsiert, teilweise seltsam. „Okay, vergiss es. Tut mir leid. Dann steige ich eben auf das Motorrad, und ich beschwere mich auch nicht mehr, wenn du mich durch die Wildnis schleppst.“
„Gut. Siehst du, was passiert, wenn du mal das tust, was man dir sagt?“, stichelte ich.
„Nun ja, in diesem Fall schon, aber normalerweise ist es einfach nur langweilig. Ich bin nicht sehr gut darin, Anweisungen zu befolgen.“
„Das habe ich irgendwie schon herausgefunden.“ Finn wartete neben dem Motorrad, bis ich aufstieg. Ich reichte ihm den Rucksack und den zweiten Helm, dann schwang ich mein Bein über das Gestell, richtete das Motorrad auf und bedeutete Finn, auch aufzusteigen.
Er tat es, lehnte sich sofort dicht an mich und schlang seine Arme um meine Taille. Wie beim ersten Mal fühlte es sich seltsam an – aber seltsam auf eine gute Art. Ich mochte es, ihn so nahe zu haben. Ich mochte den Druck seiner Arme um mich, während der Motor unter mir aufheulte und mich seine Kraft spüren ließ. Mit Finn hinter mir schien das sogar noch intensiver zu sein.
Ich verdrängte die Gedanken aus meinem Kopf. Ich musste mich auf das Fahren konzentrieren, nicht auf meinen Beifahrer, der immer besser darin geworden war, jeder Bewegung meines Körpers zu folgen, während ich die Straße in die von mir ausgesuchte Gegend nahm. Die Straßen wurden immer schmaler, bis wir uns weit draußen auf dem Land befanden. Obwohl einige Städte in der Nähe waren, schien dieser Landstrich völlig menschenleer zu sein, was einer der Gründe war, warum ich gerne hierher kam, wenn ich etwas Zeit für mich brauchte.
Als ich auf den kleinen Wanderparkplatz fuhr, schaute ich mich um und stellte mit Genugtuung fest, dass niemand sonst hier war. Wir würden ganz allein sein, genau wie ich gehofft hatte. Ich hatte nichts dagegen, wenn hier noch jemand wanderte, aber sie störten irgendwie das Gefühl der Landschaft.
„Das ist wunderschön“, sagte Finn, die Stimme durch den Helm gedämpft. Er stieg vom Motorrad ab, und ich folgte ihm. Als ich mich umdrehte, nahm er bereits den Helm ab und versuchte, sein leicht zerzaustes Haar zu richten.
Ich verdrehte die Augen, streckte die Hand aus und brachte es komplett durcheinander.
„Hey!“ Finn sprang zurück.
Ich lachte. „Hör auf, dir so viele Gedanken zu machen. Es sieht gut aus.“
Finn schnaubte. „Als ob.“ Er arbeitete mit seinen Fingern daran, die Strähnen so hinzubekommen, wie sie liegen sollten, während ich den Rucksack öffnete, um den Kaffee rauszuholen.
Es war mir eigentlich egal, wie er seine Haare trug – sie sahen so oder so gut aus –, aber es machte mir viel zu viel Spaß, ihn ein bisschen zu ärgern, als dass ich mir die Gelegenheit entgehen lassen wollte. Außerdem war sein Haar irgendwie weich, und … Nein. Ich würde nicht über seine Haare fantasieren. Das wäre irgendwie seltsam.
Ich holte die Thermoskanne und die Becher heraus und reichte Finn Letztere. „Hier, nimm die. Ich schenke den Kaffee ein.“
Finn zögerte nicht, sondern gab seine Versuche auf, sein Haar zu richten. Heißer Dampf stieg aus der Kanne auf, und ich atmete tief ein. Es war der Duft des Himmels.
„Danke.“ Finn hielt mir die Tasse hin, als ich wieder aufstand, aber bevor ich sie nahm, holte ich die Tüte mit dem Gebäck heraus. Teurer als selbst gemachtes Essen, ja, aber ab und zu musste das sein.
„Jetzt kannst du dich bei mir bedanken.“ Ich hielt ihm die Tüte hin, aber er konnte sie nicht nehmen, weil er je eine Tasse Kaffee in der Hand hielt.
„Ja, halt sie mir hin und lass mich nicht davon essen. Das ist gemein.“ Seine Augen funkelten, als er mir die Tasse hinhielt, aber ich hob eine Augenbraue.
„Gemein? Ich werde dir zeigen, was gemein ist.“ Ich nahm eine der Zimtrollen und betrachtete sie. „Das ist gemein.“ Ich hob die Süßigkeit an meine Lippen, wechselte dann aber die Richtung und hielt sie ihm hin. Finns Augen wurden groß, aber dann erschien ein Grinsen, als er merkte, dass ich sie ihm geben wollte. Anstatt meine Tasse Kaffee gegen die Zimtrolle einzutauschen, beugte er sich vor und umschloss mit seinen vollen Lippen die süße Rolle.
Ich hatte noch nie jemanden auf diese Weise essen sehen. Normalerweise biss man doch mit den Zähnen ab, oder? Finn machte Liebe mit dem Gebäck, ernsthaft. Er biss ab, aber die Art und Weise, wie sich seine Lippen bewegten, sein Gesicht und sein Adamsapfel beim Schlucken wippten … das konnte niemals legal sein. Ganz im Ernst.
Dann leckte er sich über die Lippen, um verirrte Krümel zu erwischen.
Ich konnte nicht wegsehen, obwohl ich spürte, wie meine Wangen so rot wurden wie sein Lippenstift. Er sah mir in die Augen, mit einem kleinen Grinsen auf den Lippen, und reichte mir schließlich den Becher, den er für mich hielt. „Ich werde es mit dir teilen. Das kommt selten vor, aber wenn man bedenkt, dass du das Essen schon mitgebracht hast …“ Er machte eine Pause, und es wirkte so absichtlich, nicht, als wüsste er nicht, was er sonst sagen sollte.
Ich schaute ihn an, dann auf das Gebäck. „Wie nett von dir, dass du das Essen teilst, das ich gekauft habe.“ Ich nahm einen Bissen von dem Gebäck und ignorierte, wie er mit den Augen rollte. Als ich mit dem Schlucken fertig war, reichte ich ihm die Zimtrolle zurück, und wir tauschten sie hin und her, bis alles weg war.
Ich leckte mir über die Lippen. „Ich habe noch eine Zweite. Willst du damit bis später warten?“
Finn nickte. „Ja. Nur der Kaffee reicht für den Moment.“ Wir tranken schweigend.
Er war noch heiß, also blies ich darauf, aber sobald ich kleine Schlucke nehmen konnte, tat ich es. Leben am Limit und so.
„Ich hoffe, der Kaffee ist in Ordnung“, sagte ich. „Ich habe etwas Milch und Zucker hineingetan, aber ich habe versucht, es nicht zu übertreiben. Ich hätte dich fragen sollen, wie du ihn am liebsten trinkst.“
„Es ist Kaffee, also grundsätzlich gut. Und damit das klar ist: Ich mag alles, was süß ist.“ Er grinste mich an. „Also ist er perfekt.“
Ich verdrehte wieder die Augen, aber innerlich lächelte ich. Er hatte das Flirten abgeschwächt, wie ich ihn gebeten hatte, aber trotzdem waren seine Bemerkungen immer wieder mal zweideutig. Es störte mich allerdings nicht mehr so sehr, denn es war typisch Finn . Ich bewunderte, wie leicht es ihm gelang, Schmeicheleien und Flirtversuche einzuschmuggeln. Manche Leute mussten sich anstrengen. Bei ihm wirkte es natürlich.
Als mir auffiel, dass ich seine Worte nicht kommentiert hatte, räusperte ich mich. „Lass uns aufbrechen. Wir können die Tassen mitnehmen und noch einen trinken, wenn wir Pause machen. Ich habe auch Wasser und ein paar andere Snacks dabei.“
Finn nickte. „Hört sich gut an.“ Er leerte seinen Becher, während ich meinen austrank, und packte dann beide zurück in den Rucksack. Ich stellte die Thermoskanne dazu, und er sagte: „Bereit.“
Ich steckte meine Schlüssel ein und griff dann nach dem Rucksack, der auf dem Boden lag. Finn griff auch danach, aber ich schob seine Hand weg. Auf keinen Fall würde ich ihn das Ding tragen lassen, zumal er kleiner und leichter gebaut war als ich. Ich zweifelte nicht daran, dass er ihn tragen könnte , aber es fühlte sich einfach … falsch an.
Okay, wenn ich darüber nachdachte, würde ich den Rucksack auch dann tragen, wenn Finn größer und stärker gewesen wäre als ich. Es hätte sich nicht richtig angefühlt, das nicht zu tun, so wenig Sinn es auch machte. Ich hatte ihn eingeladen, und ich wollte derjenige sein, der sich um alles kümmerte.
Der Weg war anfangs zu schmal, um nebeneinander gehen zu können, und Finn folgte mir, als ich losging. Als er sich verbreiterte, holte Finn auf und wir gingen schweigend weiter.
Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass Finn es schaffte, einfach zu laufen, ohne zu reden, aber wir gingen in geselligem Schweigen. Er blickte sich um und nahm die Landschaft in sich auf. Die Sonne war schon aufgegangen, aber es gab noch Nebel, der die Wiesen in ein schönes Licht hüllte.
Manchmal sprachen wir über die Landschaft, die Aussicht und den Zauber der Umgebung. Finn schien es ebenfalls zu genießen, und da ich eine Route gewählt hatte, die eher ein Spaziergang als eine Wanderung war, hatte er keine Schwierigkeiten, mit mir Schritt zu halten. Ich liebte unwegsames Gelände, aber ich wollte ihn nicht in Gefahr bringen, und sei es nur durch Überanstrengung.
Schließlich ließen wir uns im Schatten einiger Bäume nieder. „Ich glaube, ich brauche etwas Wasser und mehr Kaffee, ungefähr in dieser Reihenfolge.“ Finn war nicht aus der Puste, aber wir waren über eine Stunde gelaufen, also war es verständlich, dass er Wasser und mehr Koffein brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. „Und ich glaube, mir wurde noch eine Zimtrolle versprochen?“ Er griff nach dem Rucksack, den ich beiseitegestellt hatte, und holte die Bäckertüte heraus.
„Nicht so schnell, du“, tadelte ich ihn. „Erst was trinken.“ Ich reichte ihm die Wasserflasche, die ich für ihn mitgebracht hatte, und schenkte ihm dann eine Tasse Kaffee ein.
„Du bist wieder gemein, was?“ Er trank einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche.
„Gemein wäre es gewesen, dich essen zu lassen, ohne dich ans Trinken zu erinnern.“ Ich trank mein eigenes Wasser, dann nahm ich die Zimtrolle. Ich hielt sie ihm an die Lippen und sagte: „Bitte sehr, nur um dir zu zeigen, dass ich nicht versuche, gemein zu sein. Ich versuche, mich um dich zu kümmern.“
Finn erstarrte, aber dann war es, als würde er sich aus seinen Gedanken reißen und er beugte sich vor, um wieder dieses Abbeißen mit den Lippen zu machen. „Danke. Ich weiß es zu schätzen. Auch wenn ich immer noch denke, dass in dir ein Sadist steckt.“
Ich aß auch ein Stück, dann hielt ich sie ihm wieder hin. „Ich bin schon oft als Sadist bezeichnet worden“, sagte ich und grinste ein wenig. „Das kommt davon, wenn man Personal Trainer in einem Fitnessstudio ist. Vielleicht bin ich also ein kleines bisschen ein Sadist.“
„Ein kleines bisschen, am Arsch“, murmelte Finn um einen weiteren Bissen herum. „Ich bezweifle, dass irgendetwas an dir klein ist.“
Ich erstickte fast an meinem Bissen. Er klopfte mir auf den Rücken, und ich brauchte einen Moment, bis ich wieder atmen konnte. „Okay, ich bin also ein großer Sadist“, sagte ich, bevor ich einen Schluck Wasser nahm. „Und weil ich so gemein bin und es liebe, dich leiden zu lassen, werden wir noch ein bisschen wandern, damit ich noch mehr von diesen großen Muskeln aufbauen kann.“
„Das war nicht das, was ich meinte …“, murmelte er, aber wir packten zusammen und er folgte mir, als ich wieder zu laufen begann.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, deshalb hatte ich die Bemerkung, dass ich ein Sadist sei, übergangen – nicht das mit dem groß .
Er hatte das Flirten stark zurückgeschraubt, also vermutete ich, dass das, was ich jetzt sah, der echte Finn war, derjenige, der nicht irgendwas vortäuschte oder sich hinter einer Maske versteckte. Nun, nicht der echte, echte Finn, denn er hatte in meiner Gegenwart immer noch das Bedürfnis, sich hinter Make-up zu verstecken, aber zumindest wirkte er echt.
Und ich mochte ihn.
Ich mochte ihn viel mehr, als ich erwartet hatte, und das war der Grund, warum ich weiterhin Zeit mit ihm verbrachte. Oder mochte ich ihn, weil ich Zeit mit ihm verbrachte? Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzugrübeln. Herauszufinden, was zuerst gekommen war, würde mir nur Kopfschmerzen einbringen.
Aber ich schaffte es nicht, über etwas ganz anderes nachzudenken, nicht, wenn meine Gedanken um Finn kreisten. Er ging wieder neben mir her und atmete immer noch entspannt. Ich hatte nicht vor, ihn an seine Grenzen zu bringen, also war das gut. Er würde zwar trotzdem müde sein, aber nicht vollkommen kaputt.
Die Klamotten, die ich von Sam ausgeliehen hatte, standen ihm gut, genau wie die eng anliegenden, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Sie gaben ihm eine andere Ausstrahlung – nicht so sehr der gestylte, extravagante, extrovertierte Typ, der er in seinen regulären Klamotten zu sein schien, sondern wie ein bodenständiger Mann, mit dem ich an einem normalen Abend ein Bier trinken könnte. Irgendwie störte das Make-up den lässigen Look nicht einmal, sondern betonte ihn nur.
Das ergab keinen Sinn. Aber auch das war nur ein Teil des Rätsels, das Finn immer noch war.
Finn unterbrach meine Grübeleien. „Danke, dass du mich heute zum Wandern überredet hast.“
Ich sah ihn an und bemerkte, dass er entspannter schien als sonst.
„Gern geschehen“, sagte ich, ohne anzumerken, dass ich ihn nicht besonders überreden musste. Ich wollte nicht, dass es komisch zwischen uns wurde. „Ich bin froh, dass du mitgekommen bist.“ Ich lächelte ihn an.
Er erwiderte es. „Ich auch.“
Wir liefen weiter und erreichten die nächste Lichtung. Die Aussicht von hier war einfach atemberaubend, etwas, das ich liebte und der Hauptgrund dafür war, warum ich diese Wege ging. Die Sonne war inzwischen schon ziemlich hochgestiegen, aber es war noch nicht so heiß. Es war eine tolle Atmosphäre.
„Das ist der Wahnsinn“, sagte Finn und hielt inne, um die Landschaft zu betrachten. „Ich hätte nie erwartet, dass so etwas so nahe an der Stadt zu finden ist.“
Ich nickte und trat ein wenig näher an ihn heran. „Ja, es gibt hier viele versteckte Kostbarkeiten, wenn man weiß, wo man sie finden kann.“ Mein Blick fiel auf sein Gesicht. Er schien einen Moment lang von der Aussicht gefangen zu sein, dann sah er mich wieder an.
„Ja, das kann man wohl sagen.“ Er blickte wieder geradeaus, den Kopf leicht nach links geneigt.
Ich betrachtete seine langen, dunklen Wimpern, die sorgfältig betonten Wangenknochen und die vollen, üppigen Lippen, die in einem dunklen Rotton geschminkt waren. Wie konnte ein Mann nur so schön sein? Ich meine, ich wusste natürlich, dass er es war, aber trotzdem raubte es mir irgendwie den Atem, egal wie oft ich ihn ansah. Und war das nicht das Seltsamste überhaupt?
Was wäre, wenn … Ich stoppte meine Gedanken genau dort. Es war falsch. So verdammt falsch. Ich hatte ihm doch gesagt, er sollte aufhören, mit mir zu flirten. Und doch wollte ich ihn küssen, wie ich noch nie jemanden hatte küssen wollen. Ich wollte seine Lippen schmecken. Seinen Mund. Ich wusste nicht einmal, was das bedeutete, denn ich war nicht schwul. Ich stand nicht auf Männer. Aber Finn war anders.
Ich drehte mich zu ihm um, bevor ich es mir ausreden konnte, aber dann erstarrte ich wieder und sah ihn einfach nur an.
Während ich wieder seine langen, langen Wimpern bewunderte, bemerkte er offenbar, dass ich ihn anstarrte, denn er drehte den Kopf und sah mir in die Augen. „Alles in Ordnung?“
Ich nickte. „Ja. Ich … weiß nur nicht, wie ich es sagen soll.“ Ich suchte nach Worten, fand aber keine.
Er drehte sich ganz zu mir um und hob das Gesicht, um mir in die Augen zu sehen, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Ich werde nicht urteilen, Kane. Was auch immer es ist, spuck es aus.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich –“
Anstatt zu sprechen, benutzte ich meine Lippen anders. Ich beugte mich vor und küsste ihn. Nun, ich presste meine Lippen gegen seine, in einem sanften, keuschen Kuss. Und doch war es das Erotischste, was ich je getan hatte, denn schon bei der kleinsten Berührung sprühten kleine Funken in meinem Körper.
Finn seufzte leise und lehnte sich in den Kuss hinein, öffnete sich ein kleines bisschen, ließ mich ihn schmecken. Es war nicht mal ein Zungenkuss, aber … das kleine bisschen, nach dem ich mich gesehnt hatte. Irgendwann hatte ich die Augen geschlossen, und ich reagierte instinktiv, schlang meine Arme um Finn, atmete ihn ein, spürte seinen kleineren Körper in meiner Umarmung, und es war so … so richtig. So perfekt.
Die Berührung dauerte an, Finn vertiefte langsam, ganz langsam den Kuss, während ich seine Lippen mit meiner Zunge berührte, tief einatmete und ihn näher zu mir zog.
„Fuck!“ Finn sprang zurück.
Ich öffnete die Augen und sah ihn völlig verwirrt an. War etwas passiert? Hatte ich etwas falsch gemacht? „Alles okay?“, fragte ich und überlegte, was passiert sein könnte. Hatte ihn eine Wespe gestochen? Oder …
„Scheiße, Kane. Wir … Ich … Das wird nicht funktionieren.“ Er wandte sich ab und blickte wieder auf die Landschaft vor uns. „Tut mir leid.“
Was zum Teufel war hier los?
„Finn, rede mit mir. Du machst mir Angst.“ Ich war völlig verwirrt, um ehrlich zu sein. „Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein. Es ist … Das ist nicht …“ Finn hielt inne. „Wir sollten das nicht tun. Können wir zurückgehen?“ Er hielt wieder inne. „Tut mir leid. Das war unhöflich. Ich bin … Ich …“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, völlig verwirrt. „Ich muss … Verdammt, ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.“ Er sah mich wieder an, eine ungewohnte Unsicherheit in seinen Augen. Das hatte ich noch nie gesehen.
Ich spürte, wie ich mich innerlich zurückzog, da er mich so abwies. Ich hatte ihn so verdammt falsch eingeschätzt, es war unglaublich. Sein ganzes Geflirte bedeutete nichts . Er wollte flirten, aber ich sollte nicht darauf eingehen. Wenn das nicht heuchlerisch war, was dann? Aber ich schluckte hinunter, was ich sagen wollte. Stattdessen schaffte ich es, rational zu klingen. „Okay. Ja. Es ist okay. Ich denke, es ist wirklich an der Zeit, wieder umzukehren. Wir sind fast am Ende des Weges.“
„Ich … Ja, du hast recht.“ Finn trat einen Schritt zurück. Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht lesen konnte, dann drehte er sich um und hob den Rucksack auf, den ich vorhin abgestellt hatte.
Ich nahm ihn ihm aus den Händen. Das war immer noch mein Job, auch wenn ich wusste, dass ich alles ruiniert hatte.
Ich hätte wissen müssen, dass er mich nicht so haben wollte. Oder … verdammt, ich wusste nicht einmal mehr, was ich denken sollte. Er hatte mit mir geflirtet, aber ich hatte ihm immer wieder gesagt, dass ich nicht auf Männer stand, also hatte er vielleicht deshalb geflirtet … weil er wusste, dass ich nichts versuchen würde? Verdammt, das machte keinen Sinn, aber ich war durcheinander. Egal, wie ich es betrachtete, es war einfach verwirrend, ich war verletzt, und es machte überhaupt keinen Sinn.
Der Rückweg verlief schweigend, aber nicht in der freundschaftlichen Stille des Hinwegs. Die gute Laune war weg. Ich hätte nehmen sollen, was ich hatte, und seine Freundschaft behalten. Das wäre besser gewesen als das Gefühl, ihn zu verlieren, wie ich es jetzt hatte.
Er ging diesmal vor mir, obwohl der Weg breit genug war, dass wir nebeneinander gehen konnten.
Ich sagte nichts, als ich ihm folgte, aber ich machte mir den ganzen Rückweg Vorwürfe. Ich war so dumm gewesen zu glauben, dass er mich mochte, und ich war so dumm gewesen zu denken, dass ich ihn vielleicht auch mögen könnte.
Nun, ich mochte ihn ja auch. Es sollte eigentlich nicht so kompliziert sein – abgesehen von dem Teil, dass ich nicht schwul war, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich auch nicht bisexuell war – aber ich wollte ihn irgendwie. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wenn man bedachte, wie mein Gehirn und mein Körper auf ihn reagiert hatten, war ich wahrscheinlich gar nicht so heterosexuell, wie ich es von mir selbst angenommen hatte.
Obwohl ich immer noch keinen Drang verspürte, zu ficken, nicht mit Finn, mit niemandem sonst, aber ich wollte ihn trotzdem küssen. Das machte mich … Was machte es aus mir? Finn-sexuell?
Möglicherweise.
Aber das war sowieso egal. Der Zug war abgefahren, und jetzt war er auf dem Weg ins Nirgendwo.
Ich musste das einfach akzeptieren. Egal, wie beschissen ich mich fühlte.