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KANE

Verwirrt beschrieb nicht einmal ansatzweise das, was ich empfand. Ich war völlig verloren.

Finn hatte sich einen Platz in meinen Gedanken erobert und wollte nicht mehr verschwinden. Was auch immer es mit ihm auf sich hatte, ich wurde die Bilder nicht los, die auftauchten, wenn ich an ihn dachte. Das Schlimmste daran war, dass ich ihn irgendwie wollte.

Also, ich wollte ihn küssen. Ich wollte ihn an mir spüren. Ich wollte ihm nahe sein. Es machte keinen Sinn. Ich hatte so etwas noch nie gefühlt, nie gewollt, und es mit einem Mann zu fühlen … Das machte es noch verwirrender.

Irgendwie war es eine Art Witz, dass ich mich zu demselben Mann hingezogen fühlte, den ich an jenem Abend in der Bar abgewiesen hatte.

Jetzt aber wollte ich ihn, nur wollte er nicht, oder zumindest störte ihn etwas. Ich wusste nicht, ob ich ihn gekränkt oder beleidigt hatte, und ich hatte keine Freunde, mit denen ich die Sache besprechen konnte, um irgendwie Licht ins Dunkel zu bekommen. Sam würde einen totalen Herzinfarkt bekommen, wenn ich auch nur erwähnte, dass ich Finn wollte, entweder weil er sich totlachte oder weil er sauer wäre. Und meinen Kollegen oder anderen Freunden würde ich sicher nicht auf die Nase binden, dass ich nur wenig Erfahrung hatte und zum ersten Mal wirklich jemanden wollte.

Ich würde als Lachnummer im Fitnessstudio enden. Nun, wahrscheinlich nicht, aber ich hatte mich in den letzten Jahren von allen Arten persönlicher Gespräche ferngehalten, und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um mich jemandem zu öffnen.

Also blieb mir genau … nichts.

Ich konnte aber immer noch das Internet fragen.

„Spottest du mich oder willst du warten, bis ich mich umbringe?“

Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Kunden Marc, der zum Glück nicht verärgert klang.

„Sorry, ich war total in Gedanken versunken. Wird nicht wieder vorkommen“, versprach ich.

Er grinste mich an. „Sag mir wenigstens, dass es ein guter Tagtraum war.“

Ich lachte. „Das willst du nicht wissen. Los, komm. Hoch mit den Gewichten.“ Wenigstens konnte er dabei nicht reden.

„Du bist grausam. Spottest du mich?“

„Na klar.“ Ich nahm meinen Platz hinter der Bank ein. „Schaffst du zehn?“

Marc nickte und konzentrierte sich nun voll und ganz auf sein Training. „Fertig?“

„Ja.“

Damit verdrängte ich jeden Gedanken an Finn aus meinem Kopf und sah stattdessen Marc beim Schwitzen und Stöhnen zu. Er war ein netter Kerl, der schon länger hier trainierte, als ich hier arbeitete.

Da ich ihn genau im Auge behalten musste, war es unmöglich, nicht zu bemerken, wie sich sein Körper bewegte und anspannte, wenn er das Gewicht hochstemmte. Das T-Shirt, das sich an seinen Körper schmiegte, überließ nichts der Vorstellungskraft, aber obwohl ich technisch gesehen wusste, dass er in gewisser Weise als attraktiv galt, fühlte ich nichts. Überhaupt nichts. Ich wollte ihn nicht umarmen, ihn küssen, ihn an mir spüren … geschweige denn Sex haben.

Da war überhaupt nichts.

Es war also nur Finn.

Ich ließ meinen Blick nicht zu sehr wandern, und obwohl meine Gedanken ein wenig abschweiften, achtete ich darauf, bei der Sache zu bleiben. Mir war nie wirklich aufgefallen, wie wenig ich mich zu jemandem hingezogen fühlte. Vermutlich konnte ich nichts vermissen, was ich nie gehabt hatte, aber jetzt war es verdammt auffällig.

Wie war es möglich, dass ich die ganze Zeit etwas so Grundlegendes nicht bemerkt hatte? War ich so blind oder so dumm oder was auch immer? Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas komplett Offensichtliches übersah, und anscheinend war ich wirklich so ignorant.

Jetzt musste ich die Arbeit überstehen und dann sehen, womit ich Dad helfen musste, wenn ich nach Hause kam, und danach ein paar Nachforschungen anstellen.

Marc hatte sein Set beendet und setzte sich auf. „Danke, dass du mich nicht hast sterben lassen.“

Ich lachte und verbeugte mich tief. „War mir ein Vergnügen, Sir.“

Marc stimmte in mein Lachen ein, schnappte sich sein Handtuch und wischte sich das Gesicht ab. Er begann, die Gewichte von der Stange zu nehmen, und wir arbeiteten schweigend, während ich versuchte, meine Gedanken nicht wieder abschweifen zu lassen. Ich war das jetzt so oft durchgegangen, dass ich nur mit einer Migräne enden würde, wenn ich weiter versuchte, zu einem Ergebnis zu kommen.

Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und hielt Ausschau nach einem anderen Kunden, der vielleicht Hilfe brauchte. Die meisten arbeiteten selbst an den Geräten, aber einige brauchten mich, um zu kontrollieren, ob sie sie richtig benutzten, und um sicherzustellen, dass sich niemand verletzte.

Der Rest des Tages verging langsam, viel zu langsam für meinen Geschmack. Nachdem ich festgestellt hatte, dass Finn tatsächlich der Einzige war, den ich attraktiv fand – dank einer eingehenden Betrachtung diverser Kunden, sowohl männlich als auch weiblich –, hatte ich beschlossen, dass ich ein paar Stunden brauchte, um herauszufinden, was das für mich bedeutete. Ich mochte keine Schubladen, aber in diesem Fall wollte ich einfach wissen, wo ich mich selbst einsortieren konnte.

Irgendwie hatte ich Angst, die einzige Person zu sein, die diese Erfahrung machte, und das war so … isolierend.

Wenn ich nicht der Einzige war, konnte ich mich wenigstens irgendwie … zuordnen? Mich nicht so allein fühlen? Mein Kopf fing an zu pochen. Ich musste aufhören, darüber nachzugrübeln, mich auf die Arbeit konzentrieren und es dann recherchieren. Und danach konnte ich mir überlegen, wie ich die Sache mit Finn angehen wollte. Wenn es eine Sache gab, an der es keinen Zweifel gab, dann war es, dass ich Finn mochte, aber er war eindeutig nicht glücklich gewesen, als wir uns verabschiedet hatten.

Aber das Wichtigere zuerst. Ich musste mich selbst verstehen.

Ich rieb mir die Stirn. Das war so kompliziert. Warum konnte ich nicht einfach normal sein?

Nun, das Leben funktionierte nicht so. Das hatte ich bereits gelernt.

Außerdem war normal sowieso langweilig. Oder?

 

***

 

Wie ich erwartet hatte, brauchte Dad Hilfe beim Ein- und Aussteigen aus der Dusche, obwohl der Duschhocker ihm dabei half, sich selbst zu waschen, sobald er drin war. Trotzdem dauerte es fast eine Stunde, bis er seinen Pyjama trug und bettfertig war.

Mich störte es nicht, ihm zu helfen, schon allein, weil es sonst niemanden gab, der es sonst tun konnte. Mom konnte ihn nicht heben, und Sam … Nun, Dad weigerte sich immer noch, es ihm zu sagen. Mir war es weiterhin ein Rätsel, warum mein kleiner Bruder nichts bemerkt hatte, aber selbst wenn, hatte er kein Wort gesagt.

In ein paar Tagen hatten wir einen weiteren Arzttermin, obwohl wir alle mehr oder weniger die Hoffnung verloren hatten, herauszufinden, was mit ihm los war.

An manchen Tagen dachte ich, dass die angeblichen Bemühungen seiner Ärzte nur dazu dienten, uns unser Geld abzuknöpfen, aber ich stoppte diese Gedanken schnell wieder. Die Ärzte, bei denen wir gewesen waren, schienen sich wirklich Mühe zu geben, aber solange die Tests negativ ausfielen und die Symptome anhielten, konnten sie nicht viel tun, um ihm zu helfen.

Die Versicherung half, aber die Rechnungen waren trotzdem hoch. Ein Großteil meines Einkommens floss in den Haushalt, wodurch der Traum, wieder zu studieren, in noch weitere Ferne rückte. Sams Studiengebühren waren schon schwer genug zu bezahlen.

Wenn wir es ihm nur sagen könnten, könnte Sam einen Job suchen und aushelfen …

Aber zuerst musste Dad seinen verdammten Stolz überwinden, wonach es nicht aussah.

Mit einem Seufzer ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich war müde, verdammt müde. Aber Finn ging mir nicht aus dem Kopf, also wollte – musste – ich ein paar Nachforschungen über mich anstellen, um herauszufinden, was los war.

Vielleicht käme ich dann auch darauf, was zur Hölle mit Finn los war und was ich tun sollte oder konnte.

Verdammt, das alles war mehr als verwirrend. Das Leben war schon vorher nicht einfach gewesen, aber das mit Finn brachte noch ungefähr zehn Lagen mehr Chaos mit sich, zusätzlich zu dem, womit ich sonst schon immer zurechtkommen musste. Aber meine Gefühle, mein Wunsch, mit Finn zusammen zu sein, auf welche Weise auch immer, ließen nicht nach, also musste ich das tun.

Ich schnappte mir meinen Laptop vom Schreibtisch und rief die Google-Seite auf. Aber was dann? Was tippte ich ein?

Was bedeutet es, sich nur zu einer Person hingezogen zu fühlen ?

Das schien ein guter Anfang zu sein. Ich tippte die Frage ein, und sofort erschien ein Ergebnis.

Demisexuell.

Ich las die Definition mit Herzklopfen. Jemand, der sich nur zu jemandem hingezogen fühlt, mit dem er eine Beziehung eingeht.

Nun, das klang offensichtlich, oder? Aber es gab doch ständig Leute, die sich ohne irgendeine Art von Bindung miteinander einließen. Dann dachte ich zurück. Ich kannte Finn noch nicht lange, aber er hatte ziemlich schnell Eindruck hinterlassen.

Unglaublich. Ich war nicht allein.

Als ich jünger war, hatte ich mit nicht besonders vielen Leuten eine engere Bindung, obwohl es nie einen wirklichen Grund dafür gegeben hatte. Ich war einfach immer für mich geblieben und hatte mein eigenes Ding gemacht, und das hatte niemanden gestört. Vielleicht hätte ich mich zu jemandem hingezogen gefühlt, wenn ich mehr Zeit mit ihm oder ihr verbracht hätte. Aber dann kam Finn, und ich befand mich definitiv auf dem demisexuellen Spektrum.

Jetzt machte es zumindest Sinn, warum ich nicht wusste, ob ich hetero oder schwul oder gar bisexuell war. Ich war nichts von alledem. Ich war einfach … ich. Aber es gab ein Etikett, und es fühlte sich besser an, zu wissen, dass andere Menschen diese Erfahrung auch machten.

Ich wusste immer noch nicht, was ich mit meinem neu gewonnenen Wissen anfangen sollte, aber ich fühlte mich etwas leichter.

Die nächste und wichtigste Frage war nun, was ich mit Finn machen sollte, der Person, zu der ich mich offenbar sexuell hingezogen fühlte und die ich irgendwie verletzt hatte. Ich konnte schlecht Sam fragen, was ich falsch gemacht hatte, vorausgesetzt, Finn würde Sam überhaupt etwas davon erzählen.

Ich brauchte also nur einen Grund, um Finn zu kontaktieren, dann konnte ich einen Weg finden, ihn dazu zu bringen, mit mir zu reden.

Einen großen Teller Essen und eine heiße Dusche später hatte ich immer noch nicht herausgefunden, wie ich Finn dazu bringen konnte, mir zu verraten, was genau passiert war. Allerdings hatte ich wenigstens einen guten Grund, mit ihm zu reden: Er hatte immer noch die Kleidung meines Bruders. Sam würde es wahrscheinlich weder bemerken noch sich darum kümmern, dass Finn sie noch hatte, aber es war meine Art, wieder mit ihm zu sprechen. Ich wusste nicht, wie ich es sonst machen sollte, also war es die beste Option, die ich hatte.

Ich wusste nur nicht, wie ich das Gespräch beginnen sollte, ohne wie ein Arschloch zu klingen, dem es nur um die Klamotten ging.

 

 

***

 

Als zwei Tage vergangen waren, hatte ich etwa zwanzig Nachrichten geschrieben, immer noch auf der Suche nach der besten Art, Finn anzusprechen. Keine Nachricht passte wirklich. Alles, womit ich anfing, war so fade. Wir hatten uns so gut verstanden, schienen sogar eine Art Freundschaft zu haben, die so verdammt schnell gewachsen war, aber all das war zusammen mit dem Kuss verschwunden.

Verdammt noch mal. Die Leute sagten, dass Sex die Dinge verkomplizierte, aber ich war noch nicht einmal so weit gekommen, und es machte mich schon verrückt. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn wir tatsächlich miteinander geschlafen hätten.

Ich schnaubte in mein leeres Schlafzimmer. Es gab so viele andere Szenarien, die wahrscheinlicher waren, als dass wir miteinander schliefen, das war sicher.

Ich starrte auf mein Handy und versuchte erneut, eine Nachricht nett zu formulieren, ohne zu klingen, als würde ich klammern, und ohne, als wollte ich ihn wiedersehen, aber auch nicht so, als wollte ich ihn nicht wiedersehen … dass ich einfach nur die Klamotten meines Bruders zurückhaben wollte, aber ich wollte nicht, dass er sie einfach mitbrachte, wenn er Sam das nächste Mal abholte.

Nachdem ich eine weitere Nachricht gelöscht hatte, starrte ich auf meine Wand und versuchte, auf etwas anderes zu kommen, aber nichts klang richtig. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, konnte nicht aufhören, über Finn nachzudenken.

Wenigstens war der Tag heute mit Dad einfach gewesen, denn er hatte sich ziemlich gut gefühlt. Er hatte sich sogar ein wenig nach draußen gesetzt, um die Sonne zu genießen und meiner Mutter im Garten zuzusehen. Vielleicht würde es ihm ja doch wieder besser gehen. Dann könnte ich wieder aufs College gehen … vielleicht sogar auf das, auf das Finn ging. Natürlich nicht, weil Finn dorthin ging, sondern weil es das nächstgelegene war, wo ich bereits studiert hatte.

Das hatte nichts mit Finn zu tun.

Fuck.

Das war alles so beschissen, so völlig verrückt. Ich drehte wirklich durch, denn ich stellte mir eine Zukunft mit einem Mann vor, den ich nur einmal geküsst hatte und der dann praktisch vor mir weggelaufen war.

Frustriert über mich selbst, schlug ich auf mein Kissen, um meine Emotionen loszuwerden, aber es half nicht im Geringsten. Ich fühlte mich noch schlechter, wenn überhaupt – als hätte ich mich überhaupt nicht unter Kontrolle.

Mit einem letzten tiefen Seufzer legte ich mich wieder hin und zog die Decke über mich. Es war an der Zeit, etwas zu schlafen und eine Weile nicht mehr zu denken. Ich hatte morgen Frühschicht, und Dad würde mich brauchen, um sich fertig zu machen, bevor ich zur Arbeit ging.