20

KANE

Sex war noch nie so gewesen.

Es musste daran liegen, dass ich mich total in Finn verliebt hatte, denn ich fühlte mich so … vollkommen. Perfekt. Als hätte mein Körper ein Maß an Zufriedenheit gefunden, das ich nie zuvor gespürt hatte. Selbstbefriedigung war auf jeden Fall nicht dasselbe. Sich einen runterzuholen war, als würde man einen Juckreiz kratzen. Und die Frauen, mit denen ich zusammen gewesen war … waren nichts im Vergleich zu Finn.

Finn schien zu dösen, völlig entspannt, was ich absolut nachvollziehen konnte. Ich zog die Decke über uns und schloss die Augen, während ich Finn an mich drückte.

Das Wissen, dass es nicht das letzte Mal sein würde, machte es noch besser, denn verdammt,  ich wollte mehr. So viel mehr. Alles, wenn ich könnte. Ich war vorher nie verliebt gewesen, aber ich wünschte mir so sehr, dass es erste und letzte Mal war, dass ich mich verliebte.

Ich schlief neben ihm ein, meine Arme um ihn gelegt.

***

Als ich das nächste Mal aufwachte, war das Bett kalt und ich hörte das Geräusch der laufenden Dusche. Ich döste noch ein wenig, und als das Wasser abgestellt wurde, drehte ich mich um und beobachtete die Badezimmertür. Ich hatte erwartet, dass er ziemlich schnell herauskommen würde, aber es dauerte sehr, sehr lange.

Ich wollte noch etwas Zeit mit ihm genießen, noch etwas kuscheln und ihm einfach nahe sein. Das würde nicht funktionieren, wenn er sich im Bad versteckte und sich … was auch immer er da drin machte. Warum dauerte das so lange?

Zu müde, um weiter zu warten, schloss ich die Augen und entspannte mich, als die Tür endlich aufging. Ich sah ihn an und lächelte, aber es gefror, als ich sah, dass Finn bereits geschminkt war.

„Morgen. Ich wollte dich nicht wecken. Tut mir leid.“ Er lächelte mich an und schien sich in seiner Nacktheit völlig wohlzufühlen.

Ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken zu sammeln. Als ich ihn gestern Abend gesehen hatte, hatte er noch Reste von Make-up im Gesicht gehabt, aber es war verschmiert und fleckig gewesen. Warum hatte er sich die Zeit genommen, es jetzt erneut aufzutragen?

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er, als ein Moment verging, ohne dass ich etwas sagte. Er sah jetzt ein wenig besorgt aus und stand unbeholfen vor dem Bett. „Reue? Zweifel?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nichts dergleichen. Kommst du wieder ins Bett?“

Finn nickte, schlüpfte unter die Decke und kuschelte sich wieder an mich. Er verhielt sich nicht so, als hätte sich irgendetwas verändert, aber ich hatte irgendwie nicht erwartet, dass er das Bedürfnis verspürte, sich gleich am Morgen so zurechtzumachen – vor allem, als mir klar wurde, dass es erst halb sechs war.

„Ich bedaure nichts oder so etwas. Ich habe nur über etwas nachgedacht“, versicherte ich ihm erneut, weil ich das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.

„Was war es dann?“ Finn hatte sein Gesicht fast an meiner Schulter versteckt und sein schlanker, warmer Körper war an meinen geschmiegt. Er schien es auch nicht zu bereuen.

„Darf ich dich etwas fragen? Es ist … ziemlich persönlich und geht mich wahrscheinlich auch nichts an.“ Ich sollte es sein lassen, aber es war so merkwürdig, dass ich es nicht konnte. Es würde mich nur in den Wahnsinn treiben.

Finn zögerte, dann nickte er. „Schieß los.“

„Das klingt vielleicht total komisch, aber … warum hast du dich schon geschminkt, obwohl du wusstest, dass ich dich wieder ins Bett locken könnte? Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht verärgert darüber oder so. Ich habe mich nur gewundert“, sagte ich so sanft wie möglich.

Finn erstarrte in meinen Armen. Verdammt noch mal. Ich war zu weit gegangen, aber es nagte an mir. Verdammt, es machte mich geradezu verrückt, weil ich ihn ohne Make-up sehen wollte. Er hatte mich letzte Nacht gefickt, war der erste Mensch, in den ich mich verliebt hatte, und trotzdem hatte ich ihn nicht ein einziges Mal ohne Make-up gesehen – zumindest seit seiner Rückkehr in die Stadt, und die früheren Jahre zählten nicht.

Finn sprach immer noch nicht, also zog ich ihn enger an mich, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen.“

Immer noch keine Antwort.

Schließlich seufzte ich und ließ ihn los. „Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dich nicht verärgern. Ich mag dein Make-up wirklich. Es kam mir nur komisch vor, das ist alles.“ Ich hielt inne, um zu überlegen, was ich noch sagen oder tun sollte. „Was dagegen, wenn ich schnell duschen gehe? Ich bin etwas klebrig.“ Ich stieß ein unbeholfenes Lachen aus, aber Finn stimmte nicht ein. Er nickte nur und rutschte etwas weg, um mich aufstehen zu lassen.

Ich musste zugeben, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, als ich meine Übernachtungstasche nahm, in sein Badezimmer ging, ein frisches Handtuch fand und die Dusche einschaltete. Ich hätte meinen Mund halten sollen. Es ging mich nichts an, zumal ich keine Ahnung hatte, wie Finn diese Sache zwischen uns sah. Auch wenn ich glaubte, dass wir etwas Dauerhaftes, Ernsthaftes haben könnten, sah er das vielleicht nicht so, und … ich war mir nicht einmal mehr sicher, was ich denken sollte.

Ich hatte die schönste Nacht seit Langem – oder überhaupt – gehabt, aber vielleicht war es für ihn anders gewesen. Vielleicht wollte er, dass ich ging, oder er war enttäuscht, oder … Ich hielt mich davon ab, zu viel nachzudenken. Wenn ich mich in diesem düsteren Gedankengang verlor, würde ich nie wieder das Licht sehen.

Das Wasser wurde nicht kalt, obwohl ich lange darunter blieb, um all die Gefühle, die in meinem Kopf herumschwirrten, wegzuspülen. Nicht, dass es half, denn ich konnte sie nicht abstellen, vor allem, weil mein Hintern von der letzten Nacht noch etwas empfindlich war. Und schon gar nicht, als ich einen Knutschfleck auf meiner Schulter entdeckte – wie verdammt süß war das denn? – und wann immer ich die Augen schloss, sah ich ihn, sein Gesicht, als er so tief in mir war, dass ich das Gefühl hatte, er sei ein Teil von mir.

Nachdem ich mich schließlich gezwungen hatte, die Dusche zu verlassen, putzte ich mir die Zähne, zog meine Boxershorts an und ging zurück in sein Zimmer, bereit, mich allem zu stellen, was passieren könnte. Würde er mich rauswerfen? Sah er deshalb schon so aus, als wollte er das Haus verlassen? Wir hatten besprochen, dass ich das Wochenende hierbleiben würde, und ich hatte genug Klamotten dafür eingepackt, aber die Dinge konnten sich ja auch ändern, oder? Immerhin hatte er sich darüber aufgeregt, um sieben Uhr aufzustehen, und es war jetzt noch viel früher als damals …

Oder interpretierte ich da zu viel hinein? War Finn einfach so? Dann würde ich mich damit abfinden. Nicht jeder fühlte sich ohne Make-up wohl, und ich wusste, dass Finn seines immer trug. Vielleicht gehörte es zu seiner Persönlichkeit, zu dem, was er war. Das würde ich natürlich akzeptieren. Nur, weil ich ihn ungeschminkt sehen wollte, hieß das nicht, dass ich ihm absichtlich Unbehagen bereiten wollte.

Ich blickte auf und sah Finn auf dem Bett sitzen, das Lacken über den Schoß gezogen. Sein Gesichtsausdruck war ernst, die Augen vorsichtig, als er kurz zu mir hochblickte.

Ich lächelte ihn an und versuchte, selbstbewusster zu wirken, als ich mich fühlte. „Ich wollte mich noch einmal entschuldigen. Das war nicht böse gemeint.“

Finn antwortete nicht, also griff ich nach meiner Reisetasche und holte ein T-Shirt und eine Jeans heraus. „Was machst du da?“, unterbrach mich Finn, als ich gerade meine Jeans hochzog.

„Äh … mich anziehen?“

„Nein, ich meine … Warum? Willst du frühstücken? Dafür ist es noch zu früh, oder? Oder bist du so ein Frühaufsteher, dass du nicht mehr zurück ins Bett willst? Willst du eine Tasse Kaffee?“

Ich sah ihn verwirrt an. Seine Stimme war ruhig, aber etwas verwirrt, wenn ich richtig lag … aber er war doch derjenige, der zuerst kalt und distanziert geworden war. Jetzt war ich noch ratloser.

„Ich wollte eigentlich gehen. Ich meine, es ist irgendwie peinlich. Ich habe es offensichtlich geschafft, dich zu verärgern, also dachte ich, du …“

„Was? Nein! Ich wollte nicht, dass du gehen willst. Um Himmels willen, nein.“ Finn sprang förmlich auf und entblößte seinen heißen, immer noch nackten Körper. In seiner Eile, zu mir zu kommen, fiel er fast vom Bett, aber dann stand er einfach da und sah zu mir auf. „Ich will nicht, dass du gehst. Das war … überhaupt nicht so gemeint.“ Er atmete tief ein. „Ich habe seit Jahren niemandem mehr mein ungeschminktes Gesicht gezeigt.“ Er verstummte und wandte seinen Blick ab.

Ich legte eine Hand an seine Wange und drehte seinen Kopf, bis er mich wieder ansah. „Es ist okay. Trag es, wenn du möchtest. Das ist für mich kein Problem oder so.“ Ich küsste ihn sanft. „Es ist mir egal. Es ist mir wirklich egal. Ich möchte dich nur besser kennenlernen, das ist alles.“ Ich küsste ihn erneut, aber dieses Mal verweilte ich auf seinen weichen, einladenden Lippen. „Es ist mir wirklich egal. Ich liebe es, dich anzusehen, Finn. Ich liebe deinen Körper, deine Persönlichkeit. Dich , genauso wie du bist. Und wenn du nicht willst, dass jemand dein Gesicht sieht, werde ich dich trotzdem lieben.“ Ich erstarrte.

Shit.

Das war so nicht geplant gewesen …

Finn schlang seine Arme um mich. „Ich auch“, murmelte er, so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. „Ich liebe dich, meine ich.“

Mein Herz raste. „Ich … Fuck, ich hatte solche Angst, dass es nur mir so geht.“

Finn lachte leise gegen meine Haut. „Denkst du wirklich, ich wäre so offen, wenn ich mich nicht in dich verliebt hätte?“

„Äh, ich kenne nur diese Seite von dir, also habe ich keine Ahnung, wie du sonst bist.“

Finn lachte wieder. „Verdammt, du hast recht.“ Er atmete tief durch. „Nein, so kuschelig und sanft und was auch immer bin ich normalerweise nicht. Und … Gott, ist das schwer.“ Er verbarg sein Gesicht wieder. „Ich hatte nie vor, mich in dich zu verlieben. Zumindest habe ich nicht erwartet, dass du dasselbe fühlst, also hat mich deine Frage völlig aus der Bahn geworfen. Ich hatte Angst … und habe sie immer noch … dass du dich davon abgestoßen fühlst.“

Ich hob die Augenbrauen. „Könntest du das näher ausführen? Ich kann dir nicht folgen.“

„Ich habe Narben. Aknenarben. Ganz, ganz schlimme. Sie … Ich hasse es, mich ohne Make-up zu sehen.“

„Oh mein … Finn, ich weiß.“ Ich hielt inne. „Ich habe dich mit deiner Akne gesehen … und ganz offen gesagt, so etwas kommt leider vor. Ich … ich habe mich nicht wegen deines Make-ups in dich verliebt, oder wegen der Unterwäsche, oder der Art, wie du aussiehst. Ich habe mich in dich verliebt, weil du so bist, wie du bist. Wer  du bist. Wenn du Narben hast, wen kümmertʼs? Mich jedenfalls nicht.“ Ich musterte ihn, um zu sehen, ob ich zu ihm durchdrang, aber ich konnte sein Gesicht nicht lesen, denn meine Schulter schien sich als Versteck anzubieten. „Ich bin demisexuell, Finn. Ich muss eine Verbindung zu jemandem haben, um ihn sexuell attraktiv zu finden, verdammt noch mal! Glaubst du wirklich, dass mich ein paar Narben dazu bringen werden, wegzulaufen?“

Das  brachte mir eine Reaktion ein, und als Finn endlich zu mir aufsah, konnte ich die Tränen in seinen Augen glitzern sehen. Sie klebten an seinen langen, dunklen Wimpern, und ich wischte sie mit meinen Daumen weg. „Ich liebe dich, schon seit einer Weile. Seit … Ich bin mir nicht einmal sicher. Aber egal was passiert, das wird sich nicht ändern, vor allem nicht wegen etwas, das du nicht kontrollieren kannst. Aber nur damit das klar ist …“ Ich küsste ihn erneut. „Ich werde dich nie bitten, es nicht zu tragen, okay? Wenn du dich ohne es wohlfühlst, lass es weg. Wenn nicht, lass es drauf. Es ist beides vollkommen in Ordnung für mich.“

„Warum … Ich verstehe es einfach nicht. Wirklich nicht.“ Finn biss sich auf die Lippe und sah immer noch so unsicher aus, dass es mir wehtat. „Ich meine, wie kannst du nur so …“

„Weil ich dich liebe. Make-up, Dessous, Glitzer und alles andere.“

„Tut mir leid, das ist nur … Ich muss mich kurz setzen.“ Finn ließ mich los und ging zurück zum Bett, wo er sich fallen ließ. „Kommst du zu mir?“, fragte er und tätschelte den Platz neben sich.

Ich legte meinen Arm um ihn, sobald ich saß, und hielt ihn fest.

„Es ist nicht nur so, dass ich mich für die Narben zutiefst schäme. Ich wurde so lange wegen meiner Akne gemobbt. Ich … brauche einfach etwas Zeit, um das zu verarbeiten. Ich hätte nie erwartet, jemanden zu finden, der damit so locker umgeht, das ist alles.“

„Du hast auch nicht damit gerechnet, dich in den Bruder deines besten Freundes zu verlieben, das kommt noch dazu“, ergänzte ich – nicht gerade hilfreich, aber ich hatte das Bedürfnis, die Stimmung aufzulockern.

Finn gluckste, also hatte ich wenigstens ein bisschen Erfolg. „Da gebe ich dir recht.“ Er hielt inne. „Okay, wow. Das war heftig. Viel mehr, als ich erwartet hatte. Ich werde ein paar Tage brauchen, um es zu verarbeiten, okay? Das ist nichts Persönliches, nur … Nun. Wie auch immer. Kaffee, dann wieder ins Bett? Es ist echt noch nicht meine Zeit.“ Er gähnte, als wollte er seinen Standpunkt untermauern.

„Ich brauche noch keinen Kaffee, wenn ich gleich mit dir ins Bett gehen kann.“

Finns Augen leuchteten auf. „Ich stehe da komplett hinter dir.“

„Ich könnte so einen schlechten Scherz machen, aber … Kann ich dich erst mal nur halten? Dann werden wir sehen, wer hinter wem ist.“

„Arsch.“ Er lachte, dann sagte er ernster: „Na ja, einer könnte vielleicht sogar involviert sein.“

Ich stöhnte auf. „Das war ja noch schlimmer als bei mir.“

„Dann genug davon und du ziehst dich wieder aus. Es gibt eine Regel: Keine Jeans in meinem Bett. Dann können wir noch ein bisschen schlafen, oder was uns sonst noch so einfällt.“

„Ich hätte da vielleicht ein paar Ideen …“, murmelte ich, während ich meine Jeans auszog. Dann zog ich ihn mit mir unter die Bettdecke.