Juni 2019

Kapitel Sechs

Ruckartig öffne ich die Augen. In meinem Kopf pocht es, ein rhythmisches Klopfen wie von einer Schamanentrommel, die das Zimmer vibrieren lässt. Ich drehe mich auf die Seite und sehe auf den Wecker. Viertel vor elf. Wie zum Teufel kann ich so lange geschlafen haben?

Ich setze mich auf, reibe mir die Schläfen und kneife die Augen zusammen, so hell ist es in unserem Schlafzimmer. Als ich hier einzog – damals, als es noch mein Schlafzimmer war, nicht unseres , ein Haus , kein Zuhause –, wollte ich alles weiß haben. Wände, Teppich, Bettzeug, Vorhänge. Weiß ist sauber, rein, sicher.

Doch im Moment ist weiß vor allem hell. Viel, viel zu hell. Die Leinenvorhänge an den deckenhohen Fenstern sind witzlos, merke ich, sie schirmen das blendend helle Sonnenlicht kaum ab. Ich stöhne.

«Daniel?», rufe ich und hole ein Fläschchen Ibuprofen aus meinem Nachttisch. Auf einem Marmoruntersetzer steht ein Glas Wasser. Es ist ganz frisch – das Eis ist noch nicht geschmolzen, die Würfel dümpeln an der Wasseroberfläche wie Bojen an einem windstillen Tag. Kondenswasser läuft am Glas hinab und sammelt sich auf dem Untersetzer. «Daniel, warum sterbe ich?»

Mein Verlobter, der gerade ins Schlafzimmer kommt, lacht leise. Er trägt ein Tablett mit Pfannkuchen und Puten-Bacon, und sofort frage ich mich, womit ich eigentlich jemanden verdient habe, der mir tatsächlich das Frühstück ans Bett bringt. Fehlt nur noch die selbst gepflückte Wildblume in einer kleinen Vase, dann könnte es eine Szene aus einem Kitschfilm sein – abgesehen von meinem mörderischen Kater.

Vielleicht ist das Karma , überlege ich. Ich habe eine beschissene Herkunftsfamilie erwischt, und zum Ausgleich bekomme ich jetzt einen perfekten Ehemann.

«Zwei Flaschen Wein schaffen das», antwortet er und küsst mich auf die Stirn. «Vor allem, wenn man nicht bei einer Weinsorte bleibt.»

«Die Leute haben mir nun mal ständig was in die Hand gedrückt.» Ich nehme mir ein Stück Bacon und beiße ab. «Ich weiß nicht mal, was ich da alles getrunken habe.»

Plötzlich fällt mir das Xanax ein, die kleine weiße Tablette, die ich eingeworfen hatte, kurz bevor mir das erste Glas in die Hand gedrückt wurde. Kein Wunder, dass ich mich so miserabel fühle; kein Wunder, dass die Erinnerungen an den vergangenen Abend so verschwommen sind, als betrachtete ich sie durch den Boden eines mattierten Glases. Ich werde rot, aber Daniel fällt es nicht auf. Er lacht und streicht mir durch das zerzauste Haar. Sein eigenes sitzt perfekt. Jetzt fällt mir auch auf, dass er geduscht hat, sein Gesicht sauber rasiert und sein strohblondes Haar gekämmt und mit Gel frisiert ist; der Scheitel ist wie mit der Rasierklinge gezogen. Er riecht nach Aftershave und seinem Herrenduft.

«Hast du was vor?»

«Ich fahre nach New Orleans.» Er runzelt die Stirn. «Weißt du nicht mehr? Habe ich dir letzte Woche gesagt. Die Tagung?»

«Ach, richtig», sage ich kopfschüttelnd, dabei erinnere mich gar nicht. «Tut mir leid, mein Hirn ist noch benebelt. Aber … heute ist Samstag. Findet sie übers Wochenende statt? Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen.»

Bevor ich Daniel kennenlernte, wusste ich nicht viel über Pharmavertrieb. Eigentlich war das Einzige, was ich darüber wusste, der Aspekt des Geldes nämlich, dass man in diesem Beruf ziemlich viel davon verdient. Oder jedenfalls verdienen kann, wenn man es gut macht. Aber jetzt weiß ich mehr darüber, zum Beispiel, dass man in diesem Job permanent auf Reisen ist. Daniels Gebiet erstreckt sich über halb Louisiana und bis nach Mississippi hinein, deshalb sitzt er an Wochentagen fast immer im Auto. Früh raus, spät nach Hause, stundenlange Autofahrten von einem Krankenhaus zum nächsten. Außerdem gibt es viele Tagungen: Vertriebstraining, berufliche Fortbildung, digitales Marketing für Medizinprodukte, Seminare zur Zukunft der Pharmabranche. Ich weiß, er vermisst mich, wenn er unterwegs ist, aber ich weiß auch, dass es ihm gefällt – die schicken Hotels, die Abendessen und der Small Talk mit den Ärzten. Und er ist gut darin.

«Heute Abend findet im Hotel ein Netzwerk-Event statt», sagt er bedächtig. «Und morgen ein Golfturnier. Die eigentliche Tagung beginnt am Montag. Erinnerst du dich gar nicht mehr daran?»

Mein Herz setzt kurz aus. Nein , denke ich. Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Aber ich lächle, schiebe das Frühstückstablett zur Seite und werfe ihm die Arme um den Hals.

«Tut mir leid. Doch, ich erinnere mich. Ich glaube, ich bin immer noch betrunken.»

Wie erwartet lacht Daniel und zerzaust mir das Haar, als wäre ich ein Knirps beim Kinderbaseball, der gleich am Schlag ist.

«Gestern Abend hat Spaß gemacht», sage ich, um das Thema zu wechseln. Ich lege Daniel den Kopf in den Schoß und schließe die Augen. «Danke.»

«Natürlich.» Jetzt malt er mit einem Finger Formen in mein Haar. Einen Kreis, ein Quadrat, ein Herz. Eine Weile schweigt er; ein Schweigen, das schwer in der Luft hängt. Schließlich sagt er: «Worum ging es in der Unterhaltung mit deinem Bruder? Draußen auf der Veranda?»

«Was meinst du?»

«Du weißt, was ich meine. Die Unterhaltung, bei der ich dazukam.»

«Ach, du weißt schon.» Meine Lider werden wieder schwer. «Bloß Cooper, wie er leibt und lebt. Kein Grund zur Sorge.»

«Worüber auch immer ihr zwei gesprochen habt … ihr habt schon ein bisschen angespannt gewirkt.»

«Er macht sich Sorgen, dass du mich nicht aus den richtigen Gründen heiratest», sage ich und male Anführungszeichen in die Luft. «Aber wie gesagt, so ist mein Bruder eben. Er ist überfürsorglich.»

«Das hat er gesagt?»

Daniel zieht die Hand aus meinem Haar, und ich spüre, wie er sich versteift. Ich wünschte, ich könnte meine Worte zurücknehmen – wieder ist es der Alkohol, den ich immer noch im Blut habe und der dafür sorgt, dass mein Kopf überläuft wie ein zu volles Glas, aus dem sich der Wein auf den Teppich ergießt.

«Vergiss es einfach.» Ich öffne die Augen und rechne damit, dass er mich ansieht, doch er starrt vor sich hin ins Leere. «Er wird noch lernen, dich so zu lieben wie ich, das weiß ich. Er gibt sich Mühe.»

«Hat er gesagt, warum er das denkt?»

«Daniel, im Ernst.» Ich setze mich auf. «Es lohnt nicht, darüber zu reden. Cooper will mich schützen. Das wollte er schon immer, schon als ich noch ein Kind war. Unsere Vergangenheit, du weißt. Er geht sozusagen bei allen Menschen erst mal vom Schlimmsten aus. Da sind wir uns ähnlich.»

«Ja», sagt Daniel. Er starrt immer noch vor sich hin, sein Blick ist glasig. «Ja, vermutlich.»

«Ich weiß, dass du mich aus den richtigen Gründen heiratest.» Als ich ihm die Hand an die Wange lege, zuckt er zusammen, meine Berührung scheint ihn aus seiner Geistesabwesenheit zu reißen. «Du willst meinen knackigen Pilates-Arsch und meinen orgiastischen Coq au Vin.»

Jetzt sieht er mich an und muss unwillkürlich lächeln, schließlich sogar laut lachen. Er drückt meine Hand und steht auf.

«Arbeite nicht wieder das ganze Wochenende», sagt er und streicht seine frisch gebügelte Hose glatt. «Geh raus. Unternimm was Schönes.»

Ich verdrehe die Augen und nehme mir noch ein Stück Bacon, klappe es zusammen und stecke es mir in den Mund.

«Oder mach mit der Hochzeitsorga weiter», fährt er fort. «Der Countdown läuft.»

«Nächsten Monat», sage ich grinsend. Mir ist nicht entgangen, dass wir im Juli heiraten – auf den Monat genau zwanzig Jahre nachdem die ersten Mädchen verschwunden sind. Das wurde mir schon bei der Besichtigung der Cypress Stables klar, der ehemaligen Plantage, wo wir heiraten werden: Eichen, die sich über einen herrlichen kopfsteingepflasterten Gang wölben, weiß lackierte Stühle, die perfekt auf die vier massiven rustikalen Stützpfeiler ausgerichtet sind. Unberührtes Land, so weit das Auge reicht. Am Rand des Grundstücks eine restaurierte Scheune, die man für den Hochzeitsempfang nutzen kann, riesige Holzpfeiler, geschmückt mit Lichterketten, Grünzeug und milchweißen Magnolienblüten. Ein weißer Lattenzaun umgab die ausgedehnte Weide, auf der überall Pferde grasten; erst ganz in der Ferne begrenzte ein Bayou die grüne Fläche, eine dicke blaue Ader, die sich sanft am Horizont entlangschlängelte.

«Es ist perfekt», sagte Daniel und drückte meine Hand. «Chloe, ist es nicht perfekt?»

Ich nickte und lächelte. Es war perfekt, aber die Weitläufigkeit des Geländes erinnerte mich an zu Hause. An meinen Vater, als er schmutzverkrustet mit einer Schaufel über der Schulter zwischen den Bäumen hervortrat. An den Sumpf, der unser Land wie ein Festungsgraben umgab und die Leute fernhielt, uns aber auch einsperrte. Ich sah mich zum Plantagenhaus hin um und versuchte, mir vorzustellen, wie ich in meinem Hochzeitskleid über die gewaltige, ums Gebäude herum verlaufende Veranda schreite, ehe ich die Treppe hinab zu Daniel gehe. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung, und als ich richtig hinsah, entdeckte ich auf der Veranda ein junges Mädchen, das in einem Schaukelstuhl lümmelte und sich mit einem Bein immer wieder von einem der Verandapfeiler abstieß, sodass der Stuhl sich in einem trägen Rhythmus bewegte. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, wurde sie munter, zog ihr Kleid herab und schlug die Beine übereinander.

«Das ist meine Enkelin», sagte die Frau vor uns, und ich sah sie an. «Dieses Land ist seit Generationen im Besitz unserer Familie. Sie kommt manchmal nach der Schule her. Macht ihre Hausaufgaben auf der Veranda.»

«Da kann eine Bibliothek nicht mithalten», warf Daniel lächelnd ein. Er hob den Arm und winkte dem Mädchen zu. Zunächst senkte es verlegen den Kopf, winkte dann aber doch zurück. Daniel wandte sich wieder der Frau zu. «Wir nehmen es. Welche Termine können Sie uns anbieten?»

«Mal sehen», sagte sie und sah auf das Tablet in ihren Händen. Sie drehte es mehrmals, bis die Bildschirmansicht im Hochformat war. «Wir sind dieses Jahr schon fast ausgebucht. Sie sind spät dran!»

«Wir haben uns gerade erst verlobt», sagte ich und drehte den Diamantring an meinem Finger, eine neue Angewohnheit. Der Ring, den Daniel mir geschenkt hatte, war ein Familienerbstück aus der Viktorianischen Zeit, von seiner Ururgroßmutter weitervererbt. Er war eine echte Antiquität, sichtlich getragen, alt auf eine Weise, die man nicht nachahmen konnte. Zahllose Familiengeschichten hatten sich niedergeschlagen in diesem Ring, dessen zentraler Stein ein Diamant mit Ovalschliff war, umgeben von einem Kranz aus Diamanten mit Rosenschliff. Der Ring selbst war aus buttergelbem, aber ein wenig matt gewordenem 14-Karat-Gelbgold. «Wir wollen nicht eines dieser Paare sein, die jahrelang warten und das Unausweichliche bloß hinauszögern.»

«Genau, wir sind alt», sagte Daniel. «Die Uhr tickt.»

Er tätschelte meinen Bauch, und die Frau grinste und wischte über das Tablet, als blätterte sie Seiten um. Ich bemühte mich, nicht zu erröten.

«Wie gesagt, für dieses Jahr sind alle Wochenenden ausgebucht. Wir könnten es 2020 machen, wenn Sie mögen.»

Daniel schüttelte den Kopf.

«Jedes einzelne Wochenende? Das kann ich nicht glauben. Was ist mit den Freitagen?»

«Auch die meisten Freitage sind bereits gebucht, für die Proben. Aber einer scheint noch frei zu sein. Der 26. Juli.»

Daniel sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.

«Denkst du, das kannst du dir vormerken?»

Es war ein Scherz, das war mir klar, aber bei dem Wort Juli bekam ich Herzflattern.

«Juli in Louisiana», sagte ich und verzog das Gesicht. «Glaubst du, die Gäste kommen mit der Hitze zurecht? Besonders draußen.»

«Da können wir etwas tun», sagte die Frau. «Wir können Zelte und Ventilatoren aufstellen. Was Sie wollen.»

«Ich weiß nicht», sagte ich. «Auch die Insekten können eine echte Plage sein.»

«Wir spritzen das Gelände jedes Jahr», sagte sie. «Ich kann Ihnen garantieren, dass die Insekten kein Problem darstellen. Wir haben ständig Sommerhochzeiten!»

Ich bemerkte, dass Daniel mich fragend von der Seite ansah, so eindringlich, als könnte er meine sich überschlagenden Gedanken entwirren, wenn er sich nur genug anstrengte. Aber ich weigerte mich, den Kopf zur Seite zu drehen und mich ihm zuzuwenden. Ich weigerte mich, ihm die gänzlich irrationale Angst einzugestehen, die meine Beklemmung bei der Aussicht auf den bevorstehenden Juli in etwas Lähmendes verwandelte, in eine Krankheit, die schlimmer wurde, je weiter der Sommer fortschritt. Weigerte mich, die Übelkeit zur Kenntnis zu nehmen, die in mir aufstieg, oder den säuerlichen Gestank des Stallmists in der Ferne, der sich in den Duft der Magnolien mischte, oder das mit einem Mal ohrenbetäubend laute Summen der Fliegen, die irgendwo um etwas Totes kreisten.

«Okay», sagte ich und nickte. Ich sah wieder zur Veranda, doch das Mädchen war fort; der verlassene Schaukelstuhl wiegte sich langsam im Wind. «Dann also im Juli.»