Kapitel Acht

Lena Rhodes war das erste Mädchen. Das Original. Das Mädchen, mit dem alles begann.

Ich erinnere mich gut an Lena, und zwar nicht so, wie die meisten Menschen sich an tote Mädchen erinnern. Nicht wie Klassenkameraden, die sich Geschichten ausdenken, um sich wichtigzumachen, oder wie frühere Freundinnen, die auf Facebook alte Fotos posten, Insiderwitze und gemeinsame Erinnerungen aufwärmen, wobei sie unterschlagen, dass sie seit Jahren eigentlich nicht mehr miteinander gesprochen haben.

Breaux Bridge erinnert sich an Lena nur anhand des Fotos, das für das Vermisstenplakat ausgewählt wurde, als ob es in ihrem Leben nur diesen einen, in der Zeit eingefrorenen Augenblick gegeben hätte. Oder als zählte nur dieser eine Augenblick. Wie eine Familie ein einzelnes Foto auswählen kann, das für ein ganzes Leben, eine ganze Persönlichkeit stehen soll, werde ich niemals verstehen. Eine solche Aufgabe erscheint mir entmutigend, zu wichtig und zugleich unmöglich. Mit dieser Auswahl entscheidet man auch darüber, was von einem Menschen bleibt. Man wählt den einzelnen Augenblick aus, den alle Welt in Erinnerung behalten wird – diesen Augenblick, und sonst nichts.

Aber ich erinnere mich an Lena. Nicht oberflächlich – ich erinnere mich wirklich an sie. Ich erinnere mich an alle Augenblicke, die guten wie die schlechten. An ihre Intensität und ihre Fehler. Ich erinnere mich an sie, wie sie wirklich war.

Sie war laut, vulgär und fluchte auf eine Weise, die ich sonst nur einmal bei meinem Vater erlebt hatte, als er sich in seiner Werkstatt versehentlich mit dem Beil die Daumenspitze abhackte. Die Unflätigkeiten, die sich aus ihrem Mund ergossen, passten nicht zu ihrem Äußeren, was sie umso faszinierender machte. Lena war groß, schlank und hatte für ihre ansonsten jungenhafte Figur unverhältnismäßig große Brüste. Sie war kontaktfreudig, übersprudelnd, trug das sonnenblumengelbe Haar zu zwei französischen Zöpfen geflochten. Wenn sie vorüberging, sahen die Leute hin, und sie wusste es; Aufmerksamkeit ließ sie im selben Maß wachsen, wie sie mich schrumpfen ließ; die Blicke in ihre Richtung ließen sie erst recht strahlen, sich noch aufrechter halten.

Die Jungen mochten sie. Ich mochte sie. Eigentlich beneidete ich sie. Jedes Mädchen in Breaux Bridge beneidete sie, bis ihr Gesicht an jenem schlimmen Dienstagmorgen im Fernsehen zu sehen war.

Ein Augenblick ragt allerdings besonders heraus. Ein Augenblick mit Lena. Ein Augenblick, den ich niemals vergessen werde, und wenn ich es noch so sehr versuche.

Schließlich war es dieser Augenblick, der meinen Vater ins Gefängnis brachte.

Ich schalte den Fernseher aus und starre mein Spiegelbild auf dem dunklen Bildschirm an. Diese Pressekonferenzen sind alle gleich. Ich habe genug gesehen, um das zu wissen.

Stets übernimmt die Mutter die Kontrolle. Die Mutter hält ihre Gefühle immer im Zaum. Die Mutter spricht immer gleichmäßig, mit fester Stimme, während der Vater im Hintergrund winselt, unfähig, den Kopf so lange zu heben, dass der Mann, der seine Tochter entführt hat, ihm in die Augen sehen kann. Die Gesellschaft will uns glauben machen, es sei andersherum – der Mann in der Familie übernehme die Kontrolle, die Frau weine still vor sich hin –, aber das stimmt nicht. Und ich weiß auch, warum.

Es liegt daran, dass die Väter in der Vergangenheit denken – Breaux Bridge hat mich das gelehrt. Die Väter der sechs vermissten Mädchen haben mich das gelehrt. Sie schämen sich; sie denken: Was, wenn? Sie sollten doch die Beschützer sein, die Männer. Sie sollten ihre Töchter doch behüten, aber sie haben versagt. Doch die Mütter denken in der Gegenwart; sie ersinnen einen Plan. Sie können es sich nicht leisten, in der Vergangenheit zu denken, denn die Vergangenheit ist nicht mehr wichtig – sie ist bloß eine Ablenkung. Zeitverschwendung. In der Zukunft zu denken, können sie sich ebenso wenig leisten, denn die Zukunft ist zu beängstigend, zu schmerzlich – wenn sie ihre Gedanken dorthin wandern lassen, kehren sie vielleicht nie mehr zurück. Sie könnten zusammenbrechen.

Deshalb denken sie lieber nur an heute. Und daran, was sie heute tun können, damit ihre Kleinen morgen wieder da sind.

Bert Rhodes war am Boden zerstört. Nie zuvor hatte ich einen Mann so sehr weinen sehen: Bei jedem gequälten Schluchzen zuckte sein ganzer Körper. Eigentlich war er ein relativ attraktiver Mann, dieser raue Arbeitertyp: muskulöse Arme, die die Nähte seiner Hemdärmel weiteten, sauber rasiertes Kinn, gebräunte Haut. Bei diesem ersten Fernsehinterview hätte ich ihn beinahe nicht wiedererkannt mit diesen tief eingesunkenen Augen und den dunklen Ringen darunter. So in sich zusammengesunken, als könnte er sein eigenes Gewicht nicht mehr tragen.

Mein Vater wurde Ende September festgenommen, beinahe drei Monate nach Beginn seiner Schreckensherrschaft. Und am Abend seiner Verhaftung dachte ich fast sofort an Bert Rhodes – noch bevor ich an Lena, Robin, Margaret, Carrie oder die anderen Mädchen dachte, die im Lauf des Sommers verschwunden waren. Ich erinnere mich daran, dass die Lichter der Streifenwagen unser Wohnzimmer in Rot und Blau tauchten und Cooper und ich zum Fenster rannten, um hinauszusehen, während die bewaffneten Männer schon durch die Haustür hereinstürmten und brüllten: Keine Bewegung! Mein Vater auf seinem Fernsehsessel, einem alten, ledernen La-Z-Boy, dessen Sitzfläche in der Mitte ganz weich gescheuert war, hob nicht einmal den Kopf. Auch meine Mutter, die in einer Ecke unkontrolliert schluchzte, beachtete er gar nicht. Ich sehe vor mir, wie die Schalen der Sonnenblumenkerne, die er am liebsten knabberte, an seinen Zähnen, seiner Unterlippe, seinen Fingernägeln hafteten und ihm, als sie ihn aus dem Sessel rissen, die Pfeife aus Walnussholz aus dem Mund fiel und sich die Asche über den Boden verstreute, während die Sonnenblumenkerne aus dem Tütchen auf den Teppich regneten.

Ich erinnere mich daran, wie er mir eindringlich in die Augen sah, ohne zu zwinkern und sehr konzentriert. Zuerst mir, dann auch Cooper.

«Seid brav», sagte er.

Dann zerrten sie ihn hinaus in den schwülen Abend und schlugen seinen Kopf gegen den Streifenwagen, sodass seine dicke Brille zerbrach. Die Lichter der Streifenwagen tauchten seine Haut in ein scheußliches Violett. Sie schoben ihn auf den Rücksitz und schlossen die Tür.

Ich sah ihn still da sitzen und auf das Trenngitter vor sich starren, völlig reglos. Das Einzige an ihm, was sich erkennbar bewegte, war das Blut, das ihm über die Wange lief, ohne dass er sich die Mühe gemacht hätte, es abzuwischen. Ich beobachtete ihn und dachte an Bert Rhodes. Ich fragte mich, ob es ihm besser oder schlechter ging jetzt, da er die Identität des Mannes kannte, der ihm seine Tochter genommen hatte. War es jetzt leichter oder schwerer für ihn? Wenn er wählen müsste, wäre es ihm dann lieber, seine Tochter würde von einem Wildfremden – einem Eindringling in seiner Stadt, in seinem Leben – ermordet oder von einem Mann mit einem vertrauten Gesicht, von einem, den er bei sich zu Hause willkommen geheißen hatte? Von seinem Nachbarn, seinem Freund? Eine unmögliche Entscheidung, ich weiß.

In den folgenden Monaten sah ich meinen Vater nur im Fernsehen; die Brille nunmehr zerbrochen, den Blick immer neben sich auf den Boden gerichtet, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen, die eingeklemmte Haut an seinen Handgelenken gerötet. Ich drückte mir die Nase am Bildschirm platt und verfolgte, wie die Menschen, die die Straße zum Gericht säumten, ihm etwas zuzischten, wenn er vorüberkam. Sie trugen selbst gebastelte Schilder, auf denen grässliche, gemeine Wörter standen.

Mörder. Perverser.

Ungeheuer.

Auf einigen der Schilder waren die Gesichter der Mädchen abgebildet – der Mädchen, die im Lauf des Sommers in einem traurigen, steten Strom durch die Nachrichten gezogen waren. Mädchen, die kaum älter als ich waren. Ich erkannte sie alle, denn ich hatte mir ihre Züge eingeprägt. Ich hatte sie lächeln sehen, hatte ihnen in die einst verheißungsvollen, lebendigen Augen geblickt.

Lena, Robin, Margaret, Carrie, Susan, Jill.

Dieser Gesichter wegen hatte ich abends Ausgangssperre gehabt. Sie waren der Grund, warum ich im Dunkeln nie allein hatte unterwegs sein dürfen. Mein Vater selbst hatte diese Regel aufgestellt, und er hatte mich windelweich geprügelt, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gestolpert war oder vergessen hatte, abends mein Fenster zu schließen. Er hatte mir reine Angst ins Herz gepflanzt – ein lähmendes Grauen vor dem Unbekannten, der diese Mädchen hatte verschwinden lassen. Vor dem Menschen, der schuld daran war, dass diese Mädchen nur noch Schwarz-Weiß-Fotos auf alter Pappe waren. Der wusste, wo sie waren, als sie ihren letzten Atemzug taten; wie ihre Augen aussahen, als schließlich der Tod kam.

Als er verhaftet wurde, wusste ich es natürlich. Ich wusste es in dem Augenblick, als die Polizei bei uns hereinstürmte, in dem Augenblick, als mein Vater uns in die Augen sah und flüsterte: Seid brav. Eigentlich hatte ich es auch vorher schon gewusst, als ich mir schließlich gestattet hatte, zwei und zwei zusammenzuzählen. Als ich mich gezwungen hatte, mich umzudrehen und mich der Gestalt zu stellen, die ich hinter mir lauern spürte. Aber erst in diesem Augenblick, allein im Wohnzimmer, die Nase an den Fernsehschirm gedrückt, während meine Mutter im Schlafzimmer langsam zusammenbrach und Cooper draußen hinter dem Haus zu nichts zusammenschrumpfte – erst da , während ich die Ketten an den Knöcheln meines Vaters rasseln hörte und sein ausdrucksloses Gesicht beobachtete, als er vom Streifenwagen ins Gefängnis, von dort in den Gerichtssaal und dann wieder zurückverlegt wurde –, brach die Erkenntnis mit voller Wucht über mich herein und begrub mich lebendig unter den Trümmern.

Die Erkenntnis, dass er dieser Mann war.