Kapitel Neun

Mit einem Mal erscheint mir mein Haus sowohl zu groß als auch zu klein. Ich fühle mich beengt, eingeschlossen hier in diesen vier Wänden, in dieser klimatisierten, abgestandenen Luft. Zugleich ist es unfassbar einsam hier. Das Haus ist zu groß für die stillen Gedanken einer einzelnen Person. Unvermittelt überkommt mich der Drang rauszugehen.

Ich stehe auf und gehe ins Schlafzimmer, wo ich meinen weiten Morgenmantel gegen eine Jeans und ein graues T-Shirt eintausche, meine Haare zu einem Knoten hochstecke und beim Make-up auf alles verzichte, was mehr Aufwand bedeutet, als Lippenbalsam aufzutragen. Innerhalb von fünf Minuten bin ich durch die Tür, und sobald meine flachen Schuhe das Pflaster berühren, beruhigt sich mein wild hämmerndes Herz.

Ich setze mich ins Auto, lasse den Motor an, fahre mechanisch durch meine Siedlung und in die Stadt. Schon strecke ich die Hand nach dem Radio aus, doch dann halte ich inne und lege sie wieder aufs Lenkrad.

«Schon gut, Chloe», sage ich laut, und in meinem stillen Auto klingt meine Stimme unangenehm schrill. «Was macht dir zu schaffen? Verbalisiere es.»

Ich trommele mit den Fingern aufs Lenkrad, beschließe, links abzubiegen, und setze den Blinker. Ich rede so mit mir selbst wie sonst mit meinen Klienten.

«Ein Mädchen wird vermisst», sage ich. «Ein Mädchen hier aus der Stadt wird vermisst, und das erschüttert mich.»

Wäre dies eine Therapiesitzung, würde ich jetzt fragen: Warum? Warum erschüttert es Sie?

Die Gründe liegen auf der Hand, ich weiß. Ein junges Mädchen wird vermisst. Fünfzehn Jahre alt. Zuletzt gesehen in fußläufiger Entfernung zu meiner Praxis und meinem Leben.

«Du kennst sie nicht», sage ich laut. «Du kennst sie nicht, Chloe. Sie ist nicht Lena. Sie ist keines der Mädchen von damals. Das hat nichts mit dir zu tun.»

Ich atme aus, bremse ab, weil die Ampel gleich rot wird, und betrachte meine Umgebung. Eine Mutter führt ihre Tochter an der Hand über die Straße; ein paar Teenager fahren links von mir Rollschuh, geradeaus joggt ein Mann mit seinem Hund. Die Ampel wird grün.

«Das hat nichts mit dir zu tun», wiederhole ich, fahre auf die Kreuzung und biege rechts ab.

Bisher bin ich ziellos dahingefahren, aber jetzt bemerke ich, dass ich in der Nähe meiner Praxis bin, wenige Blocks entfernt vom sicheren Hafen meiner Schreibtischschublade mit den Tabletten. Nur eine Kapsel trennt mich von einem langsameren Herzschlag und einer regelmäßigen Atmung, auf einem großen Ledersessel hinter einer abgeschlossenen Tür und Verdunkelungsvorhängen.

Kopfschüttelnd verwerfe ich diesen Gedanken.

Ich habe kein Problem. Ich bin nicht abhängig oder so. Ich gehe nicht in Bars und trinke mich ins Koma, mir bricht nicht der kalte Schweiß aus, wenn ich mir das abendliche Glas Merlot versage. Ich könnte Tage, Wochen, Monate ohne eine Tablette, ein Glas Wein oder eine andere Substanz zur Betäubung der Angst auskommen, die unterschwellig immer präsent ist; es fühlt sich an, als hätte man eine Gitarrensaite angeschlagen, deren Vibrationen meine Knochen in Schwingung versetzen. Aber ich habe das im Griff. All meine Störungen, all diese großen Worte, die ich schon so lange bekämpfe – Schlafstörungen, Nyktophobie, Hypochondrie –, sie alle haben eines gemeinsam, eine wesentliche Eigenschaft, die sie alle verbindet, und das ist Kontrolle.

Situationen, die ich nicht unter Kontrolle habe, machen mir Angst. Ich stelle mir vor, was mir zustoßen kann, wenn ich schlafe und wehrlos bin. Ich stelle mir vor, dass sich jemand im Dunkeln ungesehen an mich heranpirscht. Ich stelle mir all die unsichtbaren Mörder vor, die meine Körperzellen vom lebensnotwendigen Sauerstoff abschneiden, ehe ich auch nur begreife, dass ich erwürgt werde. Ich stelle mir vor, zu überleben, was ich überlebt habe, zu durchleben, was ich durchlebt habe, und dann an einer Infektion, einem Juckreiz im Hals zu sterben, weil ich mir nicht die Hände gewaschen habe.

Ich stelle mir vor, was Lena empfunden haben muss, als sie nichts mehr unter Kontrolle hatte, während seine Hände sich um ihren Hals legten und zudrückten. Während ihre Luftröhre zusammengedrückt wurde, ihre Augen aus den Höhlen traten, ihr Sichtfeld zuerst hell und dann immer dunkler wurde, bis sie schließlich gar nichts mehr sah.

Meine kleine Apotheke ist meine Rettungsleine. Ich weiß, dass es falsch ist, unnötige Rezepte auszustellen – mehr als falsch, es ist illegal. Ich könnte meine Zulassung verlieren, vielleicht sogar ins Gefängnis kommen. Aber jeder braucht eine Rettungsleine, ein Floß in der Ferne, wenn man merkt, dass man untergeht. Wenn ich feststelle, dass ich die Kontrolle verliere, weiß ich, dass sie da sind, bereit, zu beheben, was in meinem Inneren behoben werden muss. Meistens beruhigt mich schon der Gedanke an diese Tabletten. Einmal habe ich einer Klientin, die unter Klaustrophobie litt, geraten, immer eine einzelne Xanax in der Tasche zu haben, wenn sie ein Flugzeug besteigt; allein das Wissen darum löst im Kopf und im Körper eine Reaktion aus. Ich sagte ihr voraus, dass sie sie wahrscheinlich gar nicht werde einnehmen müssen; zu wissen, dass ein Ausweg zur Hand war, würde bereits genügen, um ihr die Beklemmung zu nehmen.

Und so war es. Natürlich war es so. Ich wusste das aus Erfahrung.

Jetzt entdecke ich in der Ferne das Gebäude mit meiner Praxis; das alte Backsteingebäude ragt hinter moosbewachsenen Eichen auf. Der Friedhof liegt nur wenige Blocks weiter westlich; ich entscheide mich um und fahre dorthin. In der Nähe des schmiedeeisernen Tors, das mich wie ein klaffendes Maul einlädt, manövriere ich den Wagen in eine Parklücke an der Straße und schalte den Motor aus.

Der Cypress Cemetery. Der letzte Ort, an dem Aubrey Gravino lebend gesehen wurde. Ich höre Lärm und sehe aus dem Fenster. Die Mitglieder einer Suchmannschaft wimmeln über den Friedhof wie Ameisen, die über ein vergessenes Stück Fleisch herfallen. Sie stapfen durch die wuchernde Fingerhirse, weichen bröckelnden Grabsteinen aus, trampeln in ihren Sneakers über die unbefestigten Wege zwischen den Gräbern. Über acht Hektar ist dieser Friedhof groß. Die Aussichten, auf einem so weitläufigen Gelände zu finden, wonach sie suchen, erscheinen mir im besten Fall trübe.

Ich steige aus, gehe durchs Tor und nähere mich unauffällig dem Suchtrupp. Das Gelände ist mit Sumpfzypressen gesprenkelt, dem Staatsbaum von Louisiana und insofern Namensgeber des Friedhofs. Die Stämme sind dick und rötlich braun mit einer an Sehnen erinnernden Borkenstruktur, und an den Ästen wuchern Schleier aus Louisianamoos wie Spinnennetze in vergessenen Ecken. Ich ducke mich unter einem Absperrband der Polizei hindurch und bemühe mich, nicht aufzufallen, halte mich von den Polizisten wie auch den Journalisten mit ihren Kameras fern und schlendere aufs Geratewohl zwischen den Dutzenden von Freiwilligen umher, die Aubrey Gravino finden wollen.

Beziehungsweise nicht finden wollen. Denn das Letzte, was man bei einer solchen Suche finden will, ist eine Leiche oder, schlimmer noch, Teile davon.

Bei den Suchaktionen in Breaux Bridge wurden keine Leichen gefunden. Auch keine Leichenteile. Als ich die ganzen Leute sah, die sich in der Stadt trafen und Taschenlampen, Walkie-Talkies und Mineralwasser verteilten, Anweisungen brüllten und sich dann zerstreuten wie Mücken, wenn man mit einer zusammengerollten Zeitung nach ihnen schlägt, bettelte ich meine Mutter an, mich mitgehen zu lassen. Natürlich erlaubte sie es nicht. Ich musste zu Hause bleiben und aus der Ferne anhand der schwankenden Lichter beobachten, wie die Leute über die scheinbar unendliche Weite der Viehweiden mit ihrem hohen Gras streiften. Von einem Gefühl tiefer Hilflosigkeit erfüllt, musste ich zuschauen. Und warten. Ohne zu wissen, was sie finden würden. Als der Suchtrupp nach der Festnahme meines Vaters in unserem eigenen Garten war, war es sogar noch schlimmer. Ich klebte am Fenster, während die Polizei unsere vier Hektar Zentimeter für Zentimeter durchkämmte. Doch auch diese Suche ergab nichts.

Nein, diese Mädchen liegen noch immer irgendwo da draußen, und die Erdschicht auf ihren Knochen wird von Jahr zu Jahr dicker. Mittlerweile ist nicht mehr damit zu rechnen, dass sie gefunden werden, das ist mir klar, und das macht mich völlig fertig. Nicht weil es ungerecht ist oder weil ihre Familien dadurch niemals damit abschließen können, auch nicht, weil diese Mädchen einfach irgendwo verrotten, nicht anders als die tote Ratte damals unter unserer hinteren Veranda, und sie zusammen mit ihrer Haut, ihrem Haar und ihrer zerschlissenen Kleidung auch ihre Menschlichkeit einbüßen. Ein ganzes Leben, von dem nicht mehr bleibt als ein Häuflein Gebeine, die sich nicht von Ihren Knochen oder meinen und eigentlich auch nicht von denen jener Ratte unterscheiden. Nein, das alles ist es nicht, was mich nachts wach hält und weshalb ich die Hoffnung nicht aufgebe, dass sie eines Tages doch noch gefunden werden.

Es ist die Erkenntnis, dass überall jederzeit Leichen unter meinen Füßen begraben liegen könnten, von denen die Welt draußen nichts ahnt.

Natürlich liegen hier tatsächlich Leichen unter meinen Füßen begraben. Jede Menge Leichen. Aber Friedhöfe sind etwas anderes. Diese Leichen wurden ordentlich bestattet, nicht einfach abgelegt. Sie liegen hier, damit man sich an sie erinnert, nicht damit man sie vergisst.

«Ich glaube, ich habe etwas gefunden!»

Der Ruf kommt von links, wo eine Frau mittleren Alters mit weißen Sneakers, khakifarbener Cargohose und einem zu großen Poloshirt – der inoffiziellen Uniform der besorgten Bürgerin und Suchaktionsteilnehmerin – auf der Erde kniet und mit zusammengekniffenen Augen etwas betrachtet. Mit dem linken Arm winkt sie den anderen Suchern wie wild zu, in der rechten Hand hält sie ein Walkie-Talkie, das wie ein Spielzeug von Walmart aussieht.

Ich sehe mich um – ich bin ihr am nächsten. Die anderen kommen jetzt auch angelaufen, aber ich bin schon da. Ich trete einen Schritt näher, und sie hebt den Kopf und sieht mich aufgeregt, aber auch flehentlich an, so, als wünschte sie sich einerseits, ihr Fund möge wichtig, möge irgendwie von Bedeutung sein, aber andererseits auch nicht. Ganz entschieden nicht.

«Sehen Sie», sagt sie und winkt mich zu sich. «Da.»

Ich trete noch näher heran, recke den Hals, und als ich sehe, was da im Schmutz liegt, durchfährt es mich wie ein elektrischer Schlag. Ohne nachzudenken, strecke ich die Hand danach aus – reflexartig, so als hätte mir jemand mit dem Hämmerchen aufs Knie geschlagen – und nehme es auf. Von hinten kommt keuchend ein Polizist angerannt.

«Was ist das?», fragt er und beugt sich über mich. Seine Stimme klingt so gepresst, als müsste sie sich zuerst durch ein Meer aus Schleim schieben. Ein Mundatmer. Als er sieht, was ich in der Hand halte, macht er große Augen. «Himmel, nicht anfassen!»

«Tut mir leid», murmle ich und reiche ihm unseren Fund. «Tut mir leid – ich … ich habe nicht nachgedacht. Es ist ein Ohrring.»

Die Frau sieht mich an, während der Polizist sich mit rasselnder Brust hinkniet und einen Arm zur Seite streckt, um die anderen zurückzuhalten. Mit seiner behandschuhten Hand nimmt er mir den Ohrring ab und untersucht ihn. Er ist klein und aus Silber; drei Diamanten bilden ein auf dem Kopf stehendes Dreieck, an dessen Spitze eine einzelne Perle hängt. Ein hübsches Schmuckstück, im Schaufenster eines Juweliers wäre es mir ins Auge gefallen. Zu hübsch für eine Fünfzehnjährige.

«Okay», sagt der Cop. Er streicht sich dünne Haarsträhnen aus der schweißfeuchten Stirn und sackt kaum merklich in sich zusammen. «Okay, das ist gut. Wir tüten ihn ein, aber denken Sie daran: Wir sind hier auf öffentlichem Gelände. Hier sind Tausende von Gräbern, das bedeutet Hunderte von Besuchern täglich. Dieser Ohrring könnte auch jemand anderem gehören.»

«Nein.» Die Frau schüttelt den Kopf. «Nein. Er gehört Aubrey.»

Sie zieht ein doppelt gefaltetes Blatt Papier aus der Hosentasche und faltet es auseinander: Aubreys Vermisstenplakat. Ich erkenne es aus dem Fernsehen wieder. Das eine Foto, das sie von nun an definieren wird. Sie lächelt strahlend, um die Augen den schwarzen Eyeliner, auf dem rosa Lipgloss spiegelt sich das Blitzlicht. Das Foto endet knapp oberhalb ihrer Brust, aber jetzt sehe ich, dass sie eine Halskette trägt, die mir bisher nicht aufgefallen war. Sie ruht zwischen ihren Schlüsselbeinen: eine einzelne Perle an drei kleinen Diamanten. Und da: Hinter ihrem dicken braunen Haar, das sie sich hinter die Ohren gestrichen hat, lugen zwei dazu passende Ohrringe hervor.