Robin McGill war das zweite Mädchen meines Vaters, die Fortsetzung. Sie war still, zurückhaltend, blass und spindeldürr, während ihr Haar die Farbe eines glutroten Sonnenuntergangs hatte – praktisch ein Streichholz auf zwei Beinen. Sie war in keinerlei Hinsicht wie Lena, aber das spielte keine Rolle. Es hat sie nicht gerettet. Denn drei Wochen nachdem Lena verschwunden war, war auch Robin fort.
Nach Robins Verschwinden herrschte in der Stadt doppelt so viel Angst wie nach Lenas Entführung. Wenn ein einzelnes Mädchen verschwindet, kann man alle möglichen Erklärungen dafür finden. Vielleicht hatte sie am Sumpf gespielt, war ins Wasser gefallen und von irgendeinem Tier, das dort gelauert hatte, hinabgezogen worden. Ein tragischer Unfall – aber kein Mord. Vielleicht war es ein Verbrechen aus Leidenschaft; vielleicht hatte sie einen Jungen zu sehr verärgert. Oder sie könnte schwanger geworden und weggelaufen sein, eine Theorie, die sich wie ein dichter, stinkender Sumpfnebel in der Stadt hielt, bis eines Tages Robins Gesicht im Fernsehen gezeigt wurde – und jeder wusste, dass Robin nicht schwanger geworden und weggelaufen war. Robin war klug; sie war ein Bücherwurm. Robin blieb für sich und trug nie ein Kleid, das kürzer als wadenlang war. Bis zu Robins Verschwinden hatte ich diese Theorien wirklich geglaubt. Besonders die Theorie der jugendlichen Ausreißerin schien mir in Lenas Fall gar nicht so weit hergeholt. Außerdem war das schon einmal passiert. Bei Tara. In einer Kleinstadt wie Breaux Bridge wirkte Mord weitaus abwegiger.
Doch wenn zwei Mädchen innerhalb eines Monats verschwinden, dann ist das kein Zufall. Es ist kein Unfall. Es ist keine Notlage. Das ist Berechnung plus Gerissenheit und weit beängstigender als alles, was wir je erlebt hatten. Oder was wir für möglich gehalten hatten.
Lacey Decklers Verschwinden ist kein Zufall. Das spüre ich. So wie ich es vor zwanzig Jahren gespürt habe, als ich Robins Gesicht in den Nachrichten sah. Ich stehe hier, in meiner Praxis, den Blick auf den Fernseher gerichtet, auf dem mich Laceys sommersprossiges Gesicht ansieht, und fühle mich wieder wie damals mit zwölf, als ich nach dem Sommertageslager kurz vor Anbruch der Abenddämmerung aus dem Schulbus stieg und die alte staubige Straße entlanglief. Ich sehe meinen Vater auf der Veranda hocken und auf mich warten; ich sehe mich auf ihn zurennen, obwohl ich hätte vor ihm davonlaufen müssen. Angst schnürt mir die Kehle zu wie eine Hand, die meinen Hals gepackt hält.
Jemand lauert da draußen. Erneut.
«Alles in Ordnung bei Ihnen ?» Melissas Stimme reißt mich aus meiner Betäubung. Sie mustert mich besorgt. «Sie sehen irgendwie blass aus.»
«Mir geht’s gut», sage ich und nicke. «Es ist nur … Erinnerungen, verstehen Sie?»
Sie nickt; sie weiß, dass sie nicht in mich dringen darf.
«Können Sie meine Termine für heute absagen? Danach können Sie nach Hause gehen. Ruhen Sie sich aus.»
Melissa nickt und wirkt erleichtert. Sie nimmt an ihrem Schreibtisch Platz und setzt das Headset auf. Ich wende mich wieder dem Fernseher zu, greife nach der Fernbedienung und schalte den Ton lauter. Die Stimme des Nachrichtensprechers schwillt immer weiter an, bis sie den Raum erfüllt.
Für diejenigen unter Ihnen, die sich gerade erst zuschalten: Wir haben erfahren, dass in der Gegend von Baton Rouge, Louisiana, ein weiteres Mädchen vermisst wird – das zweite innerhalb von nur einer Woche. Noch einmal: Man hat uns bestätigt, dass, zwei Tage nachdem am Samstag die Leiche der fünfzehnjährigen Aubrey Gravino auf dem Cypress Cemetery gefunden wurde, ein weiteres Mädchen als vermisst gemeldet worden ist. Es handelt sich um die fünfzehnjährige Lacey Deckler, ebenfalls aus Baton Rouge. Unsere Reporterin Angela Baker berichtet jetzt live aus der Baton Rouge Magnet High School. Angela?
Das Moderatorenpult des Nachrichtensprechers und Laceys Foto verschwinden. Jetzt sehe ich eine Highschool, die nur wenige Blocks von meiner Praxis entfernt liegt. Die Reporterin vor Ort nickt und drückt sich einen Finger aufs Ohr, bevor sie beginnt.
Danke, Dean. Ich bin hier in der Baton Rouge Magnet High School, wo Lacey Deckler gerade die neunte Klasse absolviert. Laceys Mutter Jeanine Deckler hat den Behörden gesagt, dass sie ihre Tochter am Freitagnachmittag nach dem Lauftraining hier von der Schule abgeholt und zu einem Termin nur wenige Blocks entfernt gefahren hat.
Mir stockt der Atem; ich sehe zu Melissa, weil ich wissen will, ob sie das gehört hat, aber sie telefoniert und tippt gleichzeitig auf ihrem Laptop, verschiebt die heutigen Termine. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr zumute, einen ganzen Tag einfach so abzusagen, aber ich kann mir nicht vorstellen, meine Klienten jetzt zu empfangen. Es wäre nicht fair, ihnen meine Zeit zu berechnen, wenn ich sie ihnen gar nicht widme. Nicht wirklich jedenfalls. Denn in Gedanken wäre ich woanders. Ich wäre bei Aubrey und Lacey und Lena.
Ich blicke wieder zum Fernseher.
Nach diesem Termin wollte Lacey zu Fuß zu einer Freundin gehen, wo sie das Wochenende verbringen wollte – doch dort ist sie nie angekommen.
Die Kamera schwenkt zu einer Frau, die als Laceys Mutter ausgewiesen wird und weinend erklärt, dass sie zunächst geglaubt habe, Lacey habe einfach ihr Telefon ausgeschaltet, wie sie es manchmal tue: «Sie ist nicht wie die anderen Jugendlichen, die ständig auf Instagram sind. Lacey muss manchmal abschalten. Sie ist sehr sensibel.» Dann erzählt sie, dass der Fund von Aubreys Leiche der Katalysator gewesen sei, den sie brauchte, um ihre Tochter offiziell als vermisst zu melden. Auf eine typisch weibliche Art hat sie das Bedürfnis, der Welt zu beweisen, dass sie eine gute, eine aufmerksame Mutter ist. Dass es nicht ihre Schuld ist. Ich lausche ihrem Schluchzen und ihren Worten – «In meinen schlimmsten Albträumen hätte ich nicht gedacht, dass ihr etwas passiert ist, sonst hätte ich sie natürlich früher als vermisst gemeldet …» –, und dann begreife ich: Lacey hat am Freitag den Ort, an dem sie ihren Termin gehabt hatte, ihren Termin bei mir, verlassen und ist niemals an ihrem nächsten Ziel angekommen. Sie ist bei mir aus der Tür getreten und verschwunden, was bedeutet, dass diese Praxis, meine Praxis, der letzte Ort ist, an dem sie lebend gesehen wurde – und ich bin die Letzte, die sie gesehen hat.
«Dr. Davis?»
Diese Stimme gehört nicht Melissa. Ich drehe mich um. Melissa steht mit ihrem Headset hinter dem Schreibtisch und blickt mich an. Die Stimme eben war tiefer, eine Männerstimme. Mein Blick zuckt zur Tür: Zwei Polizisten stehen davor. Ich schlucke.
«Ja?»
Sie treten gemeinsam ein, und der linke, der kleinere der beiden, hebt den Arm und zeigt mir seine Dienstmarke.
«Ich bin Detective Michael Thomas, und dies ist mein Kollege, Officer Colin Doyle», sagt er und deutet mit dem Kopf auf den Mann neben sich. «Wir würden gern mit Ihnen über das Verschwinden von Lacey Deckler sprechen.»