Ich gehe hinaus in den Empfangsraum. Es ist so still, dass mein Atem ungewöhnlich laut klingt. Detective Thomas und Officer Doyle sind gegangen. Melissas Handtasche ist fort, ihr Computer ausgeschaltet. Der Fernseher läuft noch, und Laceys Gesicht geistert durch den Raum und erfüllt ihn mit ihrer Präsenz.
Ich habe Officer Doyle angelogen. Wir sind uns bereits begegnet – auf dem Cypress Cemetery, als er mir den Ohrring eines toten Mädchens aus der Hand nahm. Auch das mit dem vollen Terminkalender ist gelogen. Melissa hat alle Termine abgesagt – ich habe sie ausdrücklich darum gebeten. Jetzt ist es Viertel nach neun an einem Montagmorgen, und ich habe nichts anderes zu tun, als in einer leeren Praxis zu sitzen, wo meine finsteren Gedanken mich verschlingen und nur die Knochen wieder auswürgen werden.
Aber ich weiß, das darf ich nicht zulassen. Nicht noch einmal.
Ich halte mein Telefon in der Hand und überlege, mit wem ich sprechen, wen ich anrufen kann. Cooper kommt nicht infrage – er würde sich zu große Sorgen machen, mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten möchte, vorschnelle Schlüsse ziehen, was ich zu vermeiden versuche. Er würde mich besorgt ansehen, sein Blick würde kurz zu meinem Schreibtisch zucken, dann wieder zu mir, und insgeheim würde er sich fragen, welche Medikamente ich dort drin, im Dunkeln, verwahre. Welche Art von verdrehten Gedanken sie erzeugen und durch meinen Kopf wirbeln lassen. Nein, ich brauche Gelassenheit, Vernunft, Beruhigung. Mein nächster Gedanke gilt Daniel, aber der ist auf einer Konferenz. Ich darf ihn hiermit nicht belästigen. Es ist nicht etwa so, dass er sich nicht die Zeit nehmen würde, mir zuzuhören – das Gegenteil ist der Fall. Er würde alles stehen und liegen lassen und mir zu Hilfe eilen, und das darf ich nicht zulassen. Ich darf ihn da nicht hineinziehen. Außerdem, was ist dieses da eigentlich? Da kommen doch nur meine Erinnerungen, meine Dämonen an die Oberfläche. Es gibt nichts, was er tun könnte, um dieses Problem zu lösen, nichts, was er sagen könnte, das nicht bereits gesagt wurde. Das ist es nicht, was ich jetzt brauche. Ich brauche jemanden, der zuhört.
Dann reiße ich den Kopf hoch. Mit einem Mal weiß ich, wohin ich mich wenden muss.
Ich schnappe mir meine Handtasche und die Schlüssel, schließe meine Praxis ab, setze mich ins Auto und fahre nach Süden. Nach wenigen Minuten passiere ich ein Schild, auf dem Riverside Assisted Living steht, und erblicke kurz darauf in der Ferne auch schon das vertraute Ensemble pollengelber Gebäude. Ich habe immer gedacht, diese Farbe sollte Sonnenschein, Glück, Wohlbefinden und dergleichen vermitteln. Es gab eine Zeit, da glaubte ich das tatsächlich und redete mir ein, eine Farbe könne die Stimmung der Bewohner, die dort festsitzen, künstlich heben. Aber mittlerweile ist das einst leuchtende Gelb verblasst, die Verkleidung dank des unbarmherzigen Wirkens von Wetter und Zeit immer mehr ausgeblichen. An manchen Fenstern fehlen die Jalousien, was den Eindruck eines zahnlosen Grinsens erweckt, und in den Rissen auf den Gehwegen wächst Unkraut, als suchte es ebenfalls einen Weg hinaus. Wenn ich mich diesen Gebäuden heute nähere, sehe ich nicht Sonnengelb, die Farbe der Wärme, Energie und Fröhlichkeit, sondern Vernachlässigung, das Gelb fleckiger Bettlaken oder ungepflegter Zähne.
Ich weiß, was ich mir sagen würde, wenn ich eine Klientin von mir wäre..
Du projizierst, Chloe. Ist es möglich, dass du Vernachlässigung an diesen Gebäuden wahrnimmst, weil du das Gefühl hast, dass du jemanden da drin vernachlässigt hast?
Ja, ja. Ich weiß, die Antwort lautet Ja, aber das macht es nicht einfacher. Ich fahre in eine Parklücke in der Nähe des Eingangs, steige aus und schließe die Tür ein bisschen zu heftig, dann betrete ich durch die Automatiktür den Empfangsbereich.
«Na so was, hallo, Chloe!»
Ich drehe mich zum Empfangstresen um und lächle die Frau an, die mir von dort zuwinkt. Sie ist kräftig und vollbusig, trägt das Haar in einem straffen Knoten, und ihre gemusterte Arbeitskleidung ist ausgeblichen und weich. Ich winke zurück, dann gehe ich zu ihr und stütze mich auf den Tresen.
«Hey, Martha. Wie geht’s Ihnen heute?»
«Ach, nicht übel, nicht übel. Wollen Sie Ihre Frau Mama besuchen?»
«Ja, Ma’am.» Ich lächle.
«Es ist schon eine Weile her», sagt sie, holt das Gästebuch hervor und schiebt es mir zu. In ihrem Tonfall liegt Kritik, aber das versuche ich zu ignorieren und sehe ins Gästebuch. Martha hat eine frische Seite aufgeschlagen, und ich trage meinen Namen in die oberste Zeile ein. Dabei fällt mein Blick auf das Datum oben rechts: Montag, 3. Juni. Ich schlucke schwer und versuche, den Stich in meiner Brust zu ignorieren.
«Ich weiß», sage ich schließlich. «Ich hatte viel zu tun, aber das ist keine Entschuldigung. Ich hätte längst kommen müssen.»
«Die Hochzeit ist jetzt bald, oder?»
«Nächsten Monat. Ist das zu fassen?»
«Schön für Sie, Herzchen. Schön für Sie. Ihre Mutter freut sich für Sie, das weiß ich.»
Dankbar für diese Lüge, lächle ich sie an. Ich würde gern glauben, dass meine Mutter sich für mich freut, aber in Wahrheit kann man das nicht wissen.
«Nur zu», sagt Martha und nimmt das Gästebuch wieder an sich. «Sie kennen den Weg. Eine Pflegerin müsste gerade bei ihr sein.»
«Danke, Martha.»
Ich drehe mich um und betrachte den Empfangsbereich. Drei Gänge zweigen in unterschiedliche Richtungen davon ab. Der Gang zu meiner Linken führt zur Küche und zur Cafeteria, wo den Bewohnern jeden Tag zur selben Zeit aus gewaltigen Töpfen und Pfannen verschiedene in großen Mengen zubereitete Mahlzeiten serviert werden: wässriges Rührei, Spaghetti Bolognese, Mohn-Hühnchen-Auflauf mit welkem Salat, der in einem versalzenen Dressing ertrinkt. Der mittlere Gang führt zum Aufenthaltsraum, einem weitläufigen Bereich mit Fernsehern, Brettspielen und erstaunlich bequemen Sesseln, auf denen ich schon mehrmals eingeschlafen bin. Ich nehme den rechten Gang, an dem die Zimmer liegen, und gehe über den sich schier endlos erstreckenden marmorierten Linoleumboden zu Zimmer 424.
«Klopf, klopf», sage ich und klopfe zusätzlich an die Tür, die einen Spaltbreit offen steht. «Mom?»
«Immer hereinspaziert! Wir machen uns nur eben noch vorzeigbar.»
Ich strecke den Kopf durch den Türspalt und sehe meine Mutter zum ersten Mal seit einem Monat wieder. Wie immer sieht sie unverändert, aber anders aus. Unverändert so wie in den letzten zwanzig Jahren, aber anders, als mein Kopf sie in Erinnerung behalten will: jung, schön, voller Leben. In farbenfrohen Sommerkleidern, die ihre gebräunten Knie umspielten, das lange, gewellte Haar mit Spangen an den Seiten zurückgehalten, die Wangen von der sommerlichen Hitze gerötet. Jetzt lugen ihre bleichen, gebrechlichen Beine unter ihrem Bademantel hervor, während sie ausdruckslos in ihrem Rollstuhl sitzt und aus dem Fenster sieht, das auf den Parkplatz hinausgeht. Die Pflegerin bürstet ihr das Haar, das nur noch schulterlang ist.
«Hey, Mom», sage ich und trete näher. Ich setze mich aufs Bett und lächle. «Guten Morgen.»
«Guten Morgen, Herzchen», sagt die Pflegerin. Sie ist neu, ich kenne sie noch nicht. Sie scheint meine Gedanken zu lesen. «Ich heiße Sheryl. Ihre Frau Mama und ich, wir haben uns in den letzten Wochen gut zusammengerauft, nicht wahr, Mona?»
Sie klopft meiner Mutter auf die Schulter und lächelt, streicht noch ein paar Mal mit der Bürste durch ihr Haar, legt diese auf den Nachttisch und dreht den Rollstuhl zu mir um. Selbst nach all den Jahren erschrecke ich beim Anblick ihres Gesichts. Sie ist nicht etwa entstellt oder so; nicht bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Aber sie ist anders. Die Kleinigkeiten, die sie ausgemacht haben, haben sich verändert. Ihre früher perfekt gezupften Augenbrauen wuchern, was ihrem Gesicht etwas Maskulines verleiht. Ihre Haut ist wächsern und bar jeden Make-ups, ihr Haar mit billigem Shampoo gewaschen, sodass die Spitzen spröde und ungepflegt aussehen.
Und ihr Hals. Diese lange, dicke Narbe quer über ihrem Hals.
«Ich lasse euch dann mal allein», sagt Sheryl und geht zur Tür. «Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach.»
«Danke.»
Jetzt bin ich mit meiner Mutter allein. Ihr Blick bohrt sich in meine Augen, und meine Schuldgefühle kommen wieder hoch. Mom kam nach ihrem Selbstmordversuch in ein Heim in Breaux Bridge. Wir waren mit zwölf und fünfzehn noch zu jung, um uns um sie zu kümmern – wir lebten bei einer Tante am Stadtrand –, aber der Plan war, sie wieder aus dem Heim zu holen, sobald wir das konnten. Uns um sie zu kümmern, sobald wir das konnten. Dann wurde Cooper achtzehn, und es war klar, dass sie nicht zu ihm konnte. Er war rastlos. Konnte nicht stillsitzen. Sie brauchte aber einen festen Tagesablauf. Einfache, klare Abläufe. Also beschlossen wir, sie nach Baton Rouge zu holen, als ich an die LSU kam, und ich wollte sie nach dem Studium zu mir nehmen … doch dann fielen uns neue Ausreden ein. Wie sollte ich meine Dissertation schreiben, wenn ich mich um eine pflegebedürftige, psychisch und körperlich schwer beeinträchtigte Mutter kümmern musste? Wie sollte ich jemals jemanden kennenlernen, eine Beziehung beginnen, heiraten – wobei ich meine Aussichten in diesem Punkt auch ohne ihr Zutun ziemlich wirksam sabotierte. Also ließen wir sie hier, in Riverside, und redeten uns immer noch ein, es sei nur vorübergehend. Nach dem Studienabschluss. Wenn wir genügend Ersparnisse hätten. Wenn ich erst meine eigene Praxis eröffnet hätte. Die Jahre vergingen, und wir beruhigten unser schlechtes Gewissen, indem wir sie jedes Wochenende besuchten. Dann besuchten wir sie abwechselnd, einmal Cooper, einmal ich, sodass wir nur jede zweite Woche zu ihr mussten. Aber wir waren immer in Eile, sahen ständig aufs Telefon, weil wir den Besuch bei ihr zwischen anderen Verpflichtungen einschoben. Heute kommen wir meistens erst dann, wenn die Pflegerinnen uns anrufen und dazu auffordern. Sie sind alle nett, aber ich bin sicher, dass sie hinter unserem Rücken über uns reden. Uns dafür verurteilen, dass wir unsere Mutter im Stich lassen, dass wir ihr Schicksal in die Hände fremder Menschen gelegt haben.
Aber was sie nicht verstehen, ist, dass sie uns ebenfalls im Stich gelassen hat.
«Tut mir leid, dass ich dich so lange nicht besucht habe», sage ich und suche in ihrem Gesicht nach irgendeiner Regung, irgendeinem Lebenszeichen. «Die Hochzeit ist im Juli, und bis dahin ist noch viel vorzubereiten.»
Das Schweigen zieht sich in die Länge, es schleppt sich dahin, aber mittlerweile bin ich daran gewöhnt, dass ich hier Selbstgespräche führe. Ich weiß, sie wird mir nicht antworten.
«Ich verspreche, ich bringe Daniel bald mal mit und stelle ihn dir vor», sage ich. «Du wirst ihn mögen. Er ist ein wirklich netter Mann.»
Sie blinzelt mehrmals und klopft mit den Fingern auf die Armlehne. Ich betrachte ihre Hand und frage sie: «Würdest du ihn gern kennenlernen?»
Wieder klopft sie sanft auf die Armlehne, und ich lächle sie an.
Kurz nach Dads Verurteilung fand ich meine Mutter auf dem Boden des Schlafzimmerschranks – genau des Schranks, in dem ich das ominöse Kästchen gefunden hatte. Die Schmuckschatulle, die Dads Schicksal besiegelte. Das Symbolhafte an dieser Handlung entging mir nicht, selbst mit zwölf Jahren nicht. Sie hatte versucht, sich mit einem seiner Ledergürtel zu erhängen, doch die Holzstange war durchgebrochen, und sie war zu Boden gestürzt. Als ich sie fand, war ihr Gesicht blau angelaufen, ihre Augen waren hervorgetreten, die Beine zuckten. Ich weiß noch, wie ich nach Cooper schrie, wie ich ihn anschrie, er sollte etwas sagen, etwas tun. Doch er stand bloß im Flur, wie betäubt, reglos. TU DOCH WAS ! , schrie ich noch einmal, und da blinzelte er, schüttelte den Kopf, rannte zum Schrank und machte eine Herz-Lungen-Wiederbelebung bei ihr. Irgendwann dämmerte mir, dass ich den Notruf wählen sollte, also tat ich das. Und so gelang es uns, einen Teil von ihr zu retten, nur eben nicht alles.
Sie lag einen Monat im Koma. Cooper und ich waren nicht alt genug, um Entscheidungen in medizinischen Fragen zu treffen, also musste unser Vater vom Gefängnis aus entscheiden. Er wollte den Stecker nicht ziehen. Er konnte sie nicht besuchen, aber man hatte ihm ihren Zustand genauestens geschildert: Sie würde nie mehr laufen, nie mehr sprechen, nie mehr irgendetwas allein tun können. Dennoch weigerte er sich, sie aufzugeben. Auch das Symbolhafte daran entging mir nicht – in Freiheit hatte er seine Tage damit zugebracht, Menschen das Leben zu nehmen, nun aber, wo er in Haft saß, war er anscheinend entschlossen, Leben zu retten. Wochenlang sahen wir unsere Mutter reglos in einem Krankenhausbett liegen, sahen, wie ihre Brust sich mithilfe der Apparate hob und senkte, bis sie eines Morgens aus eigener Kraft eine Bewegung machte – ihre Augen öffneten sich flatternd.
Sie hat ihr Gehvermögen nie mehr zurückerlangt. Sie hat ihr Sprechvermögen nicht mehr zurückerlangt. Infolge der Anoxie – eines schwerwiegenden Sauerstoffmangels im Gehirn – befindet sie sich in einem minimalen Bewusstseinszustand , wie die Ärzte es nennen. Sie verwendeten Wörter wie erheblich und irreversibel. Mom ist nicht ganz da, aber sie ist auch nicht fort. Wie viel sie wirklich versteht, ist unklar. Es gibt Tage, an denen ich mich unwillkürlich über mein oder Coopers Leben auslasse, über all das, was wir gesehen und getan haben in den Jahren, seit sie zu dem Schluss kam, dass wir nicht mehr wichtig genug waren, um unseretwegen am Leben zu bleiben, und irgendwann sehe ich etwas in ihren Augen aufflackern, woran ich erkenne, dass sie mich hört. Sie versteht, was ich sage. Es tut ihr leid.
Bei anderen Gelegenheiten sehe ich in ihren tintenschwarzen Pupillen nur mein eigenes Spiegelbild.
Heute ist ein guter Tag. Sie hört mich. Sie versteht. Sie kann nicht verbal kommunizieren, aber sie kann die Finger bewegen. Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass ein Klopfen etwas bedeutet – ihre Version eines Nickens, glaube ich, ein subtiler Hinweis darauf, dass sie meinen Erzählungen folgt.
Vielleicht ist das aber auch bloß Wunschdenken. Vielleicht hat es überhaupt nichts zu bedeuten.
Ich sehe meine Mutter an, die lebendige Verkörperung des Leids, das mein Vater verursacht hat. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist das der wahre Grund, warum ich sie all die Jahre in diesem Heim gelassen habe. Ja, es ist eine große Verantwortung, sich um einen Menschen zu kümmern, der so schwer beeinträchtigt ist wie sie – aber ich könnte es, wenn ich wirklich wollte. Ich habe das Geld, um Hilfe zu bezahlen, könnte vielleicht sogar eine Pflegerin einstellen, die bei uns wohnt. Die Wahrheit ist, ich will es nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, ihr jeden Tag in die Augen zu sehen und gezwungen zu sein, den Moment, als wir sie fanden, immer wieder zu durchleben. Ich kann mir nicht vorstellen, zuzulassen, dass die Erinnerungen mein Haus fluten, den einen Ort, bei dem ich mir solche Mühe gegeben habe, einen Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Ich habe meine Mutter im Stich gelassen, weil es so leichter ist. Ebenso wie ich unser Elternhaus aufgegeben habe: Ich weigere mich, unsere Habseligkeiten durchzusehen und das Grauen, das sich dort ereignete, noch einmal zu durchleben. Stattdessen lasse ich es einfach da stehen und verfallen, als würde es weniger real, wenn ich es nicht zur Kenntnis nehme.
«Ich bringe ihn vor der Hochzeit einmal mit», sage ich, und diesmal meine ich es ernst. Ich möchte, dass Daniel meine Mutter kennenlernt, und ich möchte, dass meine Mutter ihn kennenlernt. Ich lege ihr die Hand aufs Bein; es ist so fragil, dass ich fast zurückzucke. Nach zwanzig Jahren ohne Bewegung haben die Muskeln sich zurückgebildet, jetzt ist sie nur noch Haut und Knochen. Aber ich zwinge mich, die Hand auf ihrem Bein liegen zu lassen, und drücke es sanft. «Aber eigentlich, Mom, ist das nicht das, worüber ich reden wollte. Ich bin nicht deswegen hier.»
Ich senke den Blick. Wenn ich es einmal ausgesprochen habe, kann ich es nicht mehr zurücknehmen, nicht mehr herunterschlucken, mache ich mir bewusst. Es wird im Kopf meiner Mutter gefangen sein – wie in einer Schatulle ohne Schlüssel. Und wenn es erst einmal da drin ist, wird sie es nicht wieder loswerden. Sie kann ja nicht darüber reden, kann es nicht verbalisieren, es sich von der Seele reden so wie ich – wie ich es gerade tue. Plötzlich kommt mir das unglaublich egoistisch vor. Aber ich kann nicht anders. Ich erzähle es ihr trotzdem.
«Es gibt wieder vermisste Mädchen. Tote Mädchen. Hier in Baton Rouge.»
Ich meine zu sehen, wie ihre Augen sich weiten, aber wie gesagt, vielleicht wünsche ich mir das auch nur.
«Am Samstag hat man auf dem Cypress Cemetery die Leiche einer Fünfzehnjährigen gefunden. Ich war dort, beim Suchtrupp. Sie haben ihren Ohrring gefunden. Und heute Morgen wurde wieder eine als vermisst gemeldet. Noch eine Fünfzehnjährige. Und diesmal kenne ich sie. Sie ist eine Klientin von mir.»
Schweigen senkt sich herab, und zum ersten Mal, seit ich zwölf war, sehne ich mich nach der Stimme meiner Mutter. Ich brauche verzweifelt ihre praktischen, aber schützenden Worte, die sich um meine Schultern legen wie eine Decke im Winter und mich behüten. Mich warm halten.
Das ist eine ernste Sache, Schatz, aber sei einfach vorsichtig. Sei wachsam.
«Es fühlt sich vertraut an», sage ich und sehe aus dem Fenster. «Irgendetwas daran fühlt sich einfach … ich weiß nicht … genauso an. Es ist wie ein Déjà-vu. Die Polizei war bei mir, um mit mir zu sprechen, in meiner Praxis, und das hat mich daran erinnert, wie ich …»
Ich breche ab, sehe meine Mutter an, frage mich, ob auch sie sich noch an unsere Unterhaltung in Sheriff Dooleys Büro erinnern kann. An die schwüle Luft, die Haftnotizen, die im Luftzug der Ventilatoren flatterten, das Holzkästchen auf meinem Schoß.
«Ganze Unterhaltungen kommen wieder hoch», fahre ich fort. «So, als würde ich dieselben Unterhaltungen immer wieder führen. Aber dann denke ich an das letzte Mal, dass ich diesen Eindruck hatte …»
Wieder breche ich ab, weil mir einfällt, dass dies eine Erinnerung ist, die meine Mutter nicht mit mir teilt. Sie weiß nichts vom letzten Mal, damals auf dem College, als die Erinnerungen wieder über mich hereinbrachen, so realistisch, dass ich die Vergangenheit nicht von der Gegenwart trennen konnte, das Damals nicht vom Jetzt. Das Reale nicht vom Eingebildeten.
«So kurz vor dem Jahrestag bin ich wahrscheinlich bloß paranoid, ich weiß», sage ich schließlich. «Du weißt schon, noch mehr als sonst, meine ich.»
Ich lache und schlage mir die Hand vor den Mund. Dabei streife ich meine Wange und spüre Nässe, eine Träne, die mir übers Gesicht läuft. Ich habe nicht gemerkt, dass ich weine.
«Wie auch immer, ich glaube, ich musste das einfach mal laut aussprechen, es jemandem erzählen, damit ich höre, wie albern das klingt.» Ich streife die Träne von meiner Wange und wische mir die Hand an der Hose ab. «O Gott, bin ich froh, dass ich zu dir gekommen bin, bevor ich es jemand anderem erzähle. Ich weiß nicht, warum ich mir solche Sorgen mache. Dad ist im Gefängnis. Er kann ja gar nichts damit zu tun haben.»
Meine Mutter starrt mich an, in ihren Augen stehen Fragen, die sie mir stellen möchte, das weiß ich. Ich sehe auf ihre Hand, ihre Finger zucken fast unmerklich.
«Ich bin wieder da!»
Ich fahre zusammen und drehe mich um. Sheryl steht an der Tür. Ich lege mir die Hand auf die Brust und atme aus.
«Wollte Sie nicht erschrecken, Schätzchen.» Sie lacht. «Habt ihr es gut zusammen?»
«Ja.» Ich nicke. Dann sehe ich wieder meine Mutter an. «Ja, es ist nett, sich mal wieder auf den neuesten Stand zu bringen.»
«Sie haben ja diese Woche allerhand Besuch, nicht wahr, Mona?»
Ich lächle, erleichtert, zu hören, dass Cooper sein Besuchsversprechen eingehalten hat.
«Wann hat mein Bruder vorbeigeschaut?»
«Nein, nicht Ihr Bruder», sagt Sheryl. Sie tritt hinter meine Mutter, legt die Hände auf den Rollstuhl und löst mit dem Fuß die Bremse. «Es war ein anderer Mann. Ein Freund der Familie, hat er gesagt.»
Ich runzle die Stirn.
«Was für ein anderer Mann?»
«Sah irgendwie hipp aus, nicht hier aus der Gegend. Er ist auf Besuch aus der Großstadt, hat er gesagt?»
«Braunes Haar?», frage ich. «Schildpattbrille?»
Sheryl schnippt mit zwei Fingern und deutet dann auf mich. «Genau der!»
Da stehe ich auf und nehme meine Handtasche vom Bett.
«Ich muss los», sage ich, gehe rasch zu meiner Mutter und lege ihr die Arme um den Hals. «Tut mir leid, Mom. Für … alles.»
Dann laufe ich hinaus und den Flur entlang, und meine Wut wächst mit jedem Schritt. Wie kann er es wagen? Wie kann er nur? Am Empfang lasse ich mich schwer atmend gegen den Tresen fallen. Ich habe so eine Ahnung, wer dieser geheimnisvolle Besucher gewesen sein könnte, aber ich muss mir Gewissheit verschaffen.
«Martha, ich muss das Gästebuch sehen.»
«Sie haben sich doch schon eingetragen, Herzchen. Wissen Sie noch, als Sie hereinkamen?»
«Nein, ich muss wissen, wer sie zuletzt besucht hat. Am Wochenende.»
«Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erlauben darf, Schätzchen –»
«Irgendjemand hier hat einen Mann zu meiner Mutter gelassen, der dazu nicht befugt ist. Er hat gesagt, er sei ein Freund der Familie, aber das ist er nicht. Er ist gefährlich, und ich muss wissen, ob er hier war.»
«Gefährlich? Schätzchen, wir lassen hier niemanden rein, der –»
«Bitte. Bitte lassen Sie mich nur eben nachsehen.»
Sie fixiert mich kurz, dann holt sie das Buch von ihrem Schreibtisch und reicht es mir. Ich flüstere ein Dankeschön, dann blättere ich durch Seiten voller alter Unterschriften. Endlich komme ich zum Abschnitt für gestern – den Tag, den ich auf meiner Wohnzimmercouch vergeudet habe –, überfliege die Namen, und dann bleibt mir das Herz stehen beim Anblick des einen Namens, von dem ich verzweifelt gehofft hatte, ihn nicht zu sehen.
Da habe ich, in einer schlampigen Schrift, den Beweis, den ich gesucht habe.
Aaron Jansen war hier.