Kapitel Achtzehn

Als ich aufwache, regnet es noch immer. Es ist ein langsamer, träger Regen, der einen dazu verführt, wieder einzuschlafen. Ich liege im Dunkeln und spüre Daniels Wärme neben mir, seine nackte Haut an meiner. Er atmet langsam und regelmäßig. Ich lausche dem Nieseln draußen, dem leisen Donnergrollen. Nach einer Weile schließe ich die Augen und stelle mir Lacey vor, deren Leiche irgendwo halb vergraben liegt, während der Regen alle etwaigen Spuren fortspült.

Es ist Samstagmorgen. Eine Woche seit dem Fund von Aubreys Leiche. Fünf Tage seit der Nachricht von Laceys Verschwinden und meinem Treffen mit Aaron Jansen.

«Wie kommen Sie darauf, dass dies das Werk eines Nachahmungstäters ist?», fragte ich ihn, mit hochgezogenen Schultern über meinen kalten Kaffee gebeugt. «Bisher wissen wir kaum etwas über diese Fälle.»

«Der Ort, das Timing. Zwei fünfzehnjährige Mädchen, die das Profil der Opfer Ihres Vaters haben, werden nur Wochen vor dem zwanzigsten Jahrestag von Lena Rhodes’ Verschwinden vermisst beziehungsweise tot aufgefunden. Nicht nur das, sondern es geschieht in Baton Rouge – in der Stadt, in der Dick Davis’ Familie heute lebt.»

«Okay, aber da sind auch Unterschiede. Die Leichen der Opfer meines Vaters wurden nie gefunden.»

«Stimmt», sagte Aaron. «Aber ich glaube, dieser Nachahmungstäter will , dass die Leichen gefunden werden. Er will Anerkennung für sein Werk. Er hat Aubrey auf einem Friedhof abgelegt, an dem Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie findet.»

«Richtig, aber das meine ich ja. Das erweckt nicht den Eindruck, als würde er meinen Vater nachahmen. Eher erweckt es den Eindruck, als hätte er Aubrey aufs Geratewohl ausgesucht, sie an Ort und Stelle getötet und ihre Leiche überhastet liegen lassen. Das war kein geplantes Verbrechen.»

«Oder der Ort, an dem er sie abgelegt hat, ist wichtig. Er hat eine besondere Bedeutung. Vielleicht hat er an ihrer Leiche Spuren hinterlassen, die wir finden sollen.»

«Der Cypress Cemetery hat keine besondere Bedeutung für meinen Vater», entgegnete ich, allmählich ein bisschen aufgebracht. «Der Zeitpunkt des Mordes, das ist einfach ein Zufall –»

«Ach so, dann ist es also Zufall, dass Lacey als Nächste entführt wurde, nur Minuten nachdem sie aus Ihrer Praxis gekommen ist?»

Ich zögerte.

«Ich wäre nicht überrascht, wenn Sie diesen Kerl schon mal hier in der Gegend gesehen hätten, Chloe. Nachahmungstäter – sie tun das aus einem bestimmten Grund. Vielleicht verehrt er den Mann, dem er nachzueifern versucht, vielleicht will er ihn auch herabsetzen, aber so oder so, er ahmt seinen Stil nach. Sein Opfer. Er versucht, so zu werden wie der Killer, der vor ihm kam, ihn vielleicht sogar bei seinem eigenen Spiel zu schlagen.»

Ich hob die Augenbrauen und trank noch einen Schluck Kaffee.

«Nachahmungstäter morden, weil sie von einem anderen Mörder besessen sind», fuhr Aaron fort, legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. «Sie wissen alles über ihn – und das bedeutet, dieser Täter könnte Sie sehr wohl kennen. Er könnte Sie beobachten. Er könnte gesehen haben, wie Lacey aus Ihrer Praxis kam. Ich bitte Sie nur, hier Ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Achten Sie auf das, was vorgeht, und auf Ihren Instinkt.»

Mir fiel wieder ein, dass ich einen Blick im Rücken gespürt hatte, als ich vom Cypress Cemetery zurück zu meinem Wagen ging, um zur Praxis zu fahren. Ich setzte mich anders hin, von Minute zu Minute wurde mir mulmiger zumute. Über meinen Vater zu reden, weckte immer starke Schuldgefühle in mir, doch ich konnte nie sagen, was die Ursache war. Fühlte ich mich schuldig, weil ich ihn verraten hatte? Weil ich mit dem Finger auf ihn gezeigt und ihn dadurch für den Rest seiner Tage in einen Käfig gesperrt hatte? Oder fühlte ich mich schuldig, weil ich sein Blut, seine DNA , seinen Nachnamen teilte? So oft schon hatte ich den überwältigenden Drang verspürt, mich zu entschuldigen, wenn die Rede auf meinen Vater kam. Ich wollte mich bei Aaron entschuldigen, bei Lenas Eltern, bei ganz Breaux Bridge. Ich wollte mich überall für meine bloße Existenz entschuldigen. Es hätte so viel weniger Leid auf der Welt gegeben, wenn Richard Davis nie geboren worden wäre.

Doch er wurde geboren – und deshalb auch ich.

Ich spüre eine Bewegung neben mir und sehe Daniel an. Er ist wach und sieht mich an. Daniel beobachtet mich, er muss meine Augenbewegungen gesehen haben, während ich die Unterhaltung mit Aaron noch einmal durchlebte.

«Guten Morgen.» Daniel seufzt, seine Stimme ist noch belegt vom Schlaf. Er zieht mich an sich. Seine Haut ist warm, vermittelt mir Sicherheit. «Woran denkst du?»

«An nichts.» Ich kuschele mich an ihn, streife seine Hüften und lächle, als ich an meinem Bein die Wölbung in seinen Boxershorts spüre. Daraufhin drehe ich mich zu ihm um, schlinge die Beine fest um seine Hüften, und gleich darauf lieben wir uns in einvernehmlichem, schlaftrunkenem Schweigen. Unsere Körper sind aneinandergepresst, ein wenig feucht vom Morgenschweiß, und er küsst mich hart, seine Zunge tief in meinem Mund, seine Zähne auf meiner Lippe. Seine Hände wandern über meinen Körper, meine Beine hinauf und über meinen Bauch, dann über meine Brust und weiter hinauf zu meiner Kehle.

Ich küsse ihn und versuche zu ignorieren, dass er mir die Hände um den Hals gelegt hat. Warte darauf, dass er sie woandershin wandern lässt, egal wohin. Aber das tut er nicht. Er macht weiter, seine Hände bleiben dort liegen, während er härter und härter in mich stößt, schneller und schneller. Plötzlich beginnt er zuzudrücken, und mir entfährt ein Schrei. Mit einem Ruck reiße ich mich los und rücke möglichst weit von ihm ab.

«Was ist denn?», fragt er verdutzt und setzt sich auf. «Habe ich dir wehgetan?»

«Nein.» Aber das Herz schlägt mir bis zum Hals. «Nein, hast du nicht. Es ist nur –»

Ich mustere ihn, sehe seinen verwirrten Blick. Die Sorge, mir wehgetan zu haben, die Verletzung bei der Vorstellung, dass ich körperlich vor seiner Berührung zurückgewichen bin, vor seinen Fingern, die wie Streichhölzer Brandnarben auf meiner Haut hinterließen. Doch dann denke ich daran, wie er mich gestern Abend in der Küche geküsst hat. Wie er mit den Fingern den Puls an meinem Hals gefühlt hat, wie er meinen Hals sanft, aber fest gepackt hielt.

Ich lehne den Kopf ans Kissen und seufze.

«Tut mir leid», sage ich und kneife die Augen zu. Ich muss mir das aus dem Kopf schlagen. «Ich bin im Moment einfach sehr angespannt. Aus irgendeinem Grund bin ich schreckhaft.»

«Schon gut.» Er schlingt mir die Arme um die Taille. Ich weiß, ich habe den Augenblick ruiniert – seine Erregung ist dahin, und meine ebenfalls –, aber er hält mich dennoch fest umarmt. «Es ist ja auch viel los im Moment.»

Ich weiß, er weiß, dass ich an Aubrey und Lacey denke, aber keiner von uns spricht es aus. Eine Weile liegen wir schweigend da und lauschen dem Regen. Als ich gerade den Eindruck habe, er sei wieder eingeschlafen, höre ich ihn flüstern.

«Chloe?»

«Hm?»

«Möchtest du mir vielleicht etwas sagen?»

Mein langes Schweigen sagt ihm alles, was er wissen muss.

«Du kannst mit mir reden», sagt er. «Über alles. Ich bin dein Verlobter. Dafür bin ich da.»

«Ich weiß.» Und ich glaube ihm. Schließlich habe ich Daniel alles über meinen Vater und meine Vergangenheit erzählt. Doch es ist eines, ihm distanziert meine Erinnerungen zu schildern, wie simple Fakten, wie etwas, das nun einmal passiert ist, und mehr nicht. Sie in seiner Gegenwart noch einmal zu durchleben, ist etwas völlig anderes. Das Gesicht meines Vaters in jeder dunklen Ecke zu sehen, die Worte meiner Mutter in den Stimmen anderer widerhallen zu hören. Und es ist sogar noch schlimmer, denn das ist schon einmal geschehen – dieses Gefühl von Déjà-vu hatte ich schon einmal. Nie werde ich Coopers Miene an jenem Tag vor Jahren vergessen, als ich versuchte, mich ihm zu erklären, ihm meinen Gedankengang zu erklären. Seinen Blick, in dem sich Sorge mit echter Angst paarte.

«Mir geht’s gut», sage ich. «Wirklich. Es ist bloß alles ein bisschen viel auf einmal. Diese verschwundenen Mädchen, der bevorstehende Jahrestag –»

Unvermittelt vibriert mein Telefon auf dem Nachttisch, und das Display leuchtet hell in unserem noch dunklen Schlafzimmer. Ich stütze mich auf einen Ellbogen und betrachte mit zusammengekniffenen Augen die mir unbekannte Telefonnummer im Display.

«Wer ist das?»

«Ich weiß nicht. Mit der Arbeit dürfte es nichts zu tun haben, so früh am Samstagmorgen.»

«Na los, geh ran», sagt Daniel und dreht sich um. «Man weiß nie.»

Ich nehme das Telefon und lasse es noch kurz in der Hand vibrieren, dann wische ich übers Display und halte mir das Gerät ans Ohr. Bevor ich mich melde, räuspere ich mich.

«Dr. Davis am Apparat.»

«Hi, Dr. Davis, hier spricht Detective Michael Thomas. Wir waren neulich wegen des Verschwindens von Lacey Deckler bei Ihnen in der Praxis.»

«Ja.» Ich sehe zu Daniel hinüber, der jetzt selbst sein Telefon in der Hand hält und E-Mails sichtet. «Ich erinnere mich. Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Heute früh wurde Laceys Leiche in der Gasse hinter Ihrer Praxis gefunden. Tut mir leid, dass Sie das am Telefon erfahren müssen.»

Ich schnappe nach Luft und schlage mir instinktiv die Hand auf den Mund. Daniel sieht mich an und lässt das Telefon sinken. Ich schüttle wortlos den Kopf, während mir bereits die Tränen in die Augen treten.

«Sie müssten bitte heute Morgen ins Leichenschauhaus kommen und sich die Leiche ansehen.»

«Ich, ähm …» Ich zögere, frage mich, ob ich mich verhört habe. «Tut mir leid, Detective, ich bin Lacey nur einmal begegnet. Bestimmt sollte besser ihre Mutter sie identifizieren, oder? Ich kannte sie ja kaum –»

«Sie wurde bereits identifiziert», sagt er. «Aber sie wurde gleich außerhalb Ihrer Praxis gefunden, das ist der letzte Ort, an dem ihre Mutter sie gesehen hat, als sie sie dort absetzte. Deshalb kann man wohl davon ausgehen, dass Sie die Letzte sind, die Lacey gesehen hat. Wir möchten, dass Sie sich die Leiche anschauen und uns sagen, ob etwas anders wirkt als während Ihrer Sitzung. Ob irgendetwas fehl am Platze wirkt.»

Ich atme aus und lege mir die Hand auf die Stirn. Es kommt mir vor, als würde es wärmer im Schlafzimmer und der Regen draußen lauter.

«Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen groß helfen kann. Wir haben eine Stunde miteinander verbracht. Ich weiß ja kaum noch, was sie anhatte.»

«Alles könnte uns nutzen», sagt er. «Vielleicht hilft ihr Anblick Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge. Je eher Sie hier sein können, desto besser.»

Ich nicke, stimme zu, lege auf und lasse mich zurück aufs Kissen sinken.

«Lacey ist tot», sage ich, weniger zu Daniel als vielmehr, um es mir selbst einzugestehen. «Man hat ihre Leiche in der Nähe meiner Praxis gefunden. Sie wurde gleich außerhalb meiner Praxis getötet. Ich war wahrscheinlich noch da.»

«Ich weiß, worauf du hinauswillst», sagt Daniel und lehnt sich ans Kopfteil. Er tastet nach meiner Hand, und unsere Finger verschränken sich. «Du hättest nichts tun können, Chloe. Nichts. Du konntest das nicht wissen.»

Ich denke an meinen Vater mit der Schaufel über der Schulter. Ein schwarzer Umriss, der langsam durch unseren Garten ging. Als hätte er alle Zeit der Welt. Während ich oben mit meiner kleinen Leselampe auf meiner Bank hockte und aus dem Fenster sah. Die ganze Zeit dabei, ohne auch nur zu ahnen, was ich da mit ansah.

Tut mir leid, dass ich nicht früher was gesagt habe. Ich … ich wusste nicht …

Hat Lacey mir etwas gesagt, das ihr das Leben hätte retten können? Habe ich an jenem Tag jemand Verdächtigen gesehen, der in der Nähe der Praxis herumlungerte, ohne dass es mir aufgefallen wäre? Wie schon einmal?

Aarons Worte hallen durch meinen Kopf.

Dieser Täter könnte Sie sehr wohl kennen. Er könnte Sie beobachten.

«Ich muss los.» Ich entziehe Daniel meine Hand und schwinge die Beine aus dem Bett. Als ich die Decke abstreife, fühle ich mich verwundbar; meine Nacktheit ist nichts Machtvolles, Intimes mehr wie noch vor wenigen Minuten. Jetzt riecht sie nach Verwundbarkeit, nach Scham. Zügig gehe ich durchs dunkle Schlafzimmer und spüre, dass Daniels Blick mir folgt, bis ich ins Bad gehe und die Tür hinter mir schließe.