Kapitel Zwanzig

Als ich endlich an meinem Auto bin, das vor dem Leichenschauhaus steht, geht mein Atem stoßweise. Keuchend schnappe ich nach Luft und überlege, was meine Entdeckung gerade eben zu bedeuten hat.

Laceys Armband ist fort.

Es könnte heruntergefallen sein, versuche ich mir einzureden; ebenso wie Aubreys Ohrring, den wir auf dem Cypress Cemetery auf der Erde fanden, könnte auch Laceys Armband bei einem Kampf abgerissen worden oder am Müllcontainer hängen geblieben sein, als die Polizei ihre Leiche dahinter hervorzerrte. Es könnte irgendwo im Müll liegen, für immer verloren. Aber ich bin sicher, Aaron würde widersprechen.

Ich bitte Sie nur, hier Ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Achten Sie auf Ihren Instinkt.

Meine Hände zittern. Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen. Was sagt mir mein Instinkt?

Die Erklärung des Rechtsmediziners zu den Hämatomen an Laceys Hals und den Fesselspuren an ihren Armen macht es zu einer Tatsache: Ein und dieselbe Person ist sowohl für Aubrey Gravinos als auch für Lacey Decklers Tod verantwortlich. Die gleiche Tötungsart, die gleichen Fingerabdrücke am Hals. Sosehr ich bisher auch versucht habe, es zu leugnen und mir einzureden, Lacey könne davongelaufen sein, sich vielleicht das Leben genommen haben – schließlich hatte sie das bereits versucht –, hatte ich es irgendwie doch die ganze Zeit gewusst. Entführungen kommen vor. Besonders Entführungen von attraktiven jungen Mädchen. Aber zwei Entführungen in einer Woche? Im Umkreis von nicht einmal einer Meile?

Das war zu viel des Zufalls.

Dennoch: Wenn Aubrey und Lacey derselben Person zum Opfer gefallen sind, bedeutet das nicht unbedingt, dass dieser Mensch ein Nachahmungstäter ist. Es bedeutet nicht, dass diese Morde etwas mit meinem Vater, etwas mit mir zu tun haben.

Er hat Aubrey auf einem Friedhof abgelegt, an dem Ort, wo sie zuletzt gesehen wurde.

Ich denke an Lacey, die in der Gasse hinter meiner Praxis hinter einen Müllcontainer geklemmt war – an dem Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurde. Vor aller Augen, und doch verborgen. Und nicht nur das, sondern jetzt weiß ich auch, dass sie dorthin gebracht wurde. Sie wurde nicht zufällig entführt und gleich an Ort und Stelle getötet, wie ich es bei Aubrey annahm. Sie wurde vor meiner Praxis entführt, betäubt, an einem anderen Ort getötet und dann zurückgebracht.

Mein Herz setzt kurz aus, denn mir kommt ein Gedanke, der zu entsetzlich ist, um ihn in Erwägung zu ziehen. Ich versuche, ihn zu verdrängen, ihn als Paranoia, Déjà-vu oder reine Angst abzutun. Eine weitere irrationale Bewältigungsstrategie, mit der mein Verstand lediglich versucht, etwas derart Sinnlosem einen Sinn abzugewinnen.

Ich versuche es, aber es gelingt mir nicht.

Was wäre, wenn der Mörder wollte, dass die Leichen gefunden werden … nur nicht von der Polizei? Was, wenn er wollte, dass sie von mir gefunden werden?

Aubreys Leiche wurde, nur Minuten nachdem ich den Suchtrupp verlassen hatte, gefunden. Ich war dort. Hatte dieser Mensch das irgendwie gewusst?

Und noch beängstigender: War er ebenfalls dort?

Ich wende mich Lacey zu, ihrer Leiche, die gleich um die Ecke von meiner Praxis abgelegt wurde. Ich habe Detective Thomas die Wahrheit gesagt – ich gehe so gut wie nie in diese Gasse –, aber ich kann sie durch ein Fenster in meiner Praxis sehen, sehr gut sogar. Ich kann den Müllcontainer sehen, und es ist durchaus denkbar, dass ich von meinem Empfangsraum aus Lacey dahinter gesehen hätte, wenn ich diese Woche nicht so abgelenkt und benommen gewesen wäre.

Hat dieser Mensch auch das irgendwie gewusst?

Vielleicht hat er an ihrer Leiche Spuren hinterlassen, die wir finden sollen.

Meine Gedanken überschlagen sich, ich komme nicht mehr mit. Spuren an der Leiche, Spuren an der Leiche … Vielleicht ist das fehlende Armband die Spur, der Schlüssel. Vielleicht hat der Mörder es in einer bestimmten Absicht mitgenommen. Vielleicht wusste er, wenn ich die Leiche finde und mir auffällt, dass das Armband fehlt, dann zähle ich zwei und zwei zusammen. Dann begreife ich.

In meinem Wagen herrschen erstickende dreißig Grad, trotzdem habe ich eine Gänsehaut. Ich schalte den Motor ein und lasse mir von der Klimaanlage Wind durchs Haar blasen. Dann sehe ich zum Handschuhfach, und mir fällt das Fläschchen Xanax wieder ein. Ich stelle mir vor, mir die Tablette auf die Zunge zu legen, diese Prise Bitterkeit zu schmecken, ehe sie sich auflöst, mir ins Blut dringt und meine Muskeln löst, meinen Verstand einlullt. Als ich das Handschuhfach öffne, rollt das Fläschchen nach vorn. Ich nehme es, drehe es. Öffne es und lasse eine Tablette in meine Hand fallen.

Da vibriert das Telefon neben mir, und ich werfe einen Blick auf das beleuchtete Display, wo Daniels Name und Foto erschienen sind. Noch einmal betrachte ich die Tablette in meiner Hand, dann wieder das Telefon, atme tief durch und nehme das Gespräch an.

«Hey.» Ich inspiziere die Xanax zwischen meinen Fingern.

«Hey», erwidert er zögerlich. «Also, bist du da fertig?»

«Ja.»

«Wie war’s?»

«Es war grässlich, Daniel. Sie sieht –»

Wieder habe ich Laceys Leiche auf dem Metalltisch vor Augen, ihre bläulich weiße Haut, die wächsernen Augen. Ich denke an die Narben überall auf ihrer Haut, so rot wie Kirsch-Tic-Tacs. An die große Narbe am Handgelenk.

«Sie sieht grässlich aus», beende ich meinen Satz. Ein passenderes Adjektiv fällt mir nicht ein.

«Tut mir leid, dass du das machen musstest», sagt Daniel.

«Ja, mir auch.»

«Konntest du der Polizei behilflich sein?»

Schon will ich Daniel von dem fehlenden Armband erzählen, da wird mir klar, dass diese Information ihm ohne Kontext nichts sagen würde. Um die Bedeutung des fehlenden Armbands zu erklären, müsste ich ihm erzählen, dass ich auf dem Cypress Cemetery war und Aubreys Ohrring gefunden habe, kurz bevor ihre Leiche entdeckt wurde. Ich müsste Daniel von meinem Treffen mit Aaron Jansen und dessen Theorie des Nachahmungstäters erzählen. Ich müsste mich all den finsteren Gedanken der vergangenen Woche noch einmal stellen, und ich müsste es vor Daniel tun. Mit Daniel.

Ich schließe die Augen und reibe mit den Fingern darüber, bis ich Sternchen sehe.

«Nein», antworte ich ihm dann. «Konnte ich nicht. Wie ich dem Detective gesagt hatte: Ich war nur eine Stunde mit ihr zusammen.»

Daniel atmet geräuschvoll aus. Ich stelle mir vor, wie er sich mit den Fingern durchs Haar fährt, sich im Bett aufsetzt und den nackten Oberkörper ans Kopfteil lehnt. Wie er das Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmt und sich ebenfalls die Augen reibt.

«Komm nach Hause», sagt er schließlich. «Komm nach Hause und zurück ins Bett. Lass uns heute faulenzen, okay?»

«Okay.» Ich nicke. «Okay, das klingt gut.»

Ich beuge mich vor, schiebe Tablette und Fläschchen zurück ins Handschuhfach und will schon losfahren, da habe ich Aarons Stimme wieder im Ohr. Ich halte inne und überlege, ob ich zurückgehen und Detective Thomas alles erzählen soll. Auch Aarons Theorie. Wenn ich das für mich behalte, wie viele Mädchen werden dann noch verschwinden?

Aber ich kann das nicht. Noch nicht. Ich bin nicht bereit, wieder im Zentrum von so etwas zu stehen. Um Aarons Theorie zu erläutern, müsste ich erklären, wer ich bin, wer meine Familie ist. Meine Vergangenheit. Ich will diese Tür nicht wieder öffnen, denn sobald ich das tue, kann ich sie nicht mehr schließen.

«Ich muss nur noch schnell was erledigen», sage ich stattdessen. «Dürfte nicht länger als eine Stunde dauern.»

«Chloe –»

«Mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut. Vor dem Mittagessen bin ich wieder zu Hause.»

Bevor Daniel mich umstimmen kann, lege ich auf, wähle eine andere Nummer und klopfe ungeduldig aufs Lenkrad, bis ich eine Stimme höre, die mir mittlerweile wohlvertraut ist.

«Hier ist Aaron.»

«Hi, Aaron. Hier ist Chloe.»

«Dr. Davis», sagt er erfreut. «Das ist eindeutig eine freundlichere Begrüßung als bei Ihrem letzten Anruf.»

Ich sehe aus dem Fenster und lächle zum ersten Mal, seit Detective Thomas’ Telefonnummer heute Morgen im Display meines Telefons erschien.

«Hören Sie, sind Sie noch in der Stadt? Ich möchte mit Ihnen reden.»