Kapitel Dreiundzwanzig

Sobald Daniels Wagen die Einfahrt verlässt, renne ich zurück zu meinem Computer, schnappe mir mein Telefon und schreibe Aaron eine Nachricht.

Bert Rhodes lebt hier. In Baton Rouge.

Ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Es ist eine Spur, eindeutig. Das kann nicht nur Zufall sein. Dennoch ist es nicht genug, um damit zur Polizei zu gehen. Soweit ich weiß, haben sie den fehlenden Schmuck noch in keinen Zusammenhang gebracht, und ich will noch immer nicht diejenige sein, die das anspricht. Sekunden später vibriert mein Telefon. Aaron hat geantwortet.

Ich sehe es mir an. Geben Sie mir zehn Minuten.

Ich lege das Telefon zur Seite und wende mich wieder dem Laptop zu, auf dem noch immer Berts Gesicht zu sehen ist, lebender Beweis für das Trauma, das er erlitten hat. Wenn Menschen körperlich verletzt werden, sieht man das an den blauen Flecken und den Narben, aber wenn sie emotional, psychisch verletzt werden, geht das tiefer. Jede schlaflose Nacht spiegelt sich in ihren Augen, jede Träne schlägt sich im Teint der Wangen nieder, jeder Wutanfall gräbt sich in Form von Falten auf der Stirn ein. Der Durst nach Blut macht die Lippen rissig. Noch einmal mustere ich das Gesicht dieses gebrochenen Mannes. Allmählich empfinde ich Mitgefühl, und zugleich frage ich mich: Wie kann ein Mann, der seine Tochter auf so tragische Weise verloren hat, den Spieß umdrehen und auf genau die gleiche Art selbst jemandem das Leben nehmen? Wie kann er einer anderen unschuldigen Familie das gleiche Leid zufügen? Doch dann denke ich an meine Klientinnen, die anderen gequälten Seelen, die ich tagein, tagaus sehe. Ich denke an mich selbst. Ich denke an eine Statistik, auf die ich auf dem College gestoßen bin und die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: Vierzig Prozent der Menschen, die als Kinder misshandelt wurden, werden später selbst zu Tätern. Das passiert nicht bei jedem, aber es passiert. Es ist ein Teufelskreis. Es geht um Macht, um Kontrolle – oder vielmehr um Kontrollverlust. Es geht darum, sich die Kontrolle zurückzuholen und diese für sich selbst zu beanspruchen.

Gerade ich müsste das doch verstehen.

Mein Telefon vibriert, und im Display leuchtet Aarons Name auf. Ich nehme nach dem ersten Läuten ab.

«Was haben Sie gefunden?», frage ich, den Blick wieder auf den Laptopmonitor gerichtet.

«Tätlicher Angriff mit Verletzungsfolge, Trunkenheit in der Öffentlichkeit, Trunkenheit am Steuer», erwidert Aaron. «Er war in den vergangenen fünfzehn Jahren mehrfach im Gefängnis, und anscheinend hat seine Frau schon vor einer Weile nach einer gewalttätigen häuslichen Auseinandersetzung die Scheidung eingereicht. Es erging ein Kontaktverbot.»

«Was hat er getan?»

Aaron schweigt, und mir ist nicht klar, ob er in seine Aufzeichnungen sieht oder bloß die Frage nicht beantworten will.

«Aaron?»

«Er hat sie gewürgt.»

Ich lasse das sacken, und sofort kommt der Raum mir um zehn Grad kälter vor.

Er hat sie gewürgt.

«Das könnte Zufall sein», sagt Aaron.

«Oder auch nicht.»

«Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem zornigen Betrunkenen und einem Serienmörder.»

«Vielleicht hat er sich weiter hineingesteigert», sage ich. «Fünfzehn Jahre Gewaltdelikte scheinen mir ziemlich deutlich zu zeigen, dass er zu mehr fähig ist. Er hat seiner Frau das angetan, was man auch seiner Tochter angetan hatte, Aaron. Und auf die gleiche Art wurden auch Aubrey und Lacey ermordet –»

«Okay», sagt Aaron. «Okay, wir behalten ihn im Auge. Aber wenn Ihnen das wirklich Sorgen macht, dann sollten Sie zur Polizei gehen, finde ich. Denen von unserer Theorie erzählen. Von dem Nachahmungstäter.»

«Nein.» Ich schüttle den Kopf. «Nein, noch nicht. Wir brauchen noch mehr.»

«Warum?» Aaron klingt erregt. «Chloe, das haben Sie beim letzten Mal auch schon gesagt. Das ist mehr. Warum haben Sie solche Angst vor der Polizei?»

Seine Frage lässt mich stutzen. Ich muss daran denken, dass ich Detective Thomas und Officer Doyle angelogen und ihnen Beweise vorenthalten habe. Nie habe ich es so gesehen, dass ich Angst vor der Polizei habe, aber dann erinnere ich mich ans College, an das letzte Mal, als ich in so etwas verwickelt war, und wie schlimm es endete. Wie sehr ich mich irrte.

«Ich habe keine Angst vor der Polizei», sage ich. Aaron schweigt, und ich habe das Gefühl, ich sollte fortfahren, ihm mehr erklären. Ihm gestehen: Ich habe Angst vor mir selbst. Doch ich seufze bloß.

«Ich will aus demselben Grund nicht mit der Polizei reden, aus dem ich nicht mit Ihnen reden wollte», sage ich schroffer als beabsichtigt. «Ich habe nicht darum gebeten, in all das verwickelt zu werden. In nichts davon.»

«Tja, Sie sind es aber», fährt Aaron mich ebenfalls an. Er klingt gekränkt, und noch stärker als vorhin am Fluss habe ich den Eindruck, dass unsere Beziehung allmählich nicht mehr nur die zwischen Journalist und Interviewpartner ist. Allmählich fühlt sie sich persönlich an. «Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Sie sind darin verwickelt.»

Ich blicke zum Fenster, und genau in diesem Augenblick fährt ein Auto vor. Durch die Jalousie kann ich die Umrisse erkennen. Da ich niemanden erwarte, sehe ich auf die Uhr – Daniel ist seit einer halben Stunde fort. Ich frage mich, ob er etwas vergessen hat und noch einmal umkehren musste.

«Hören Sie, Aaron, es tut mir leid», sage ich und kneife mich in die Nase. «Ich habe es nicht so gemeint. Ich weiß, Sie möchten mir helfen. Sie haben recht. Ich bin darin verwickelt, ob ich will oder nicht. Dafür hat mein Vater gesorgt.»

Er schweigt, aber die Spannungen zwischen uns ebben ab, das spüre ich.

«Ich sage ja nur, dass ich noch nicht bereit dafür bin, die Polizei wieder in meinem Leben herumschnüffeln zu lassen», fahre ich fort. «Wenn ich damit zur Polizei gehe, wenn ich denen sage, wer ich bin, dann kann ich nicht mehr zurück. Man wird mich wieder auseinanderpflücken und durchleuchten. Dies ist mein Zuhause, Aaron. Mein Leben. Hier bin ich normal … oder jedenfalls so normal, wie ich es hinbekomme. Und das mag ich.»

«Okay», sagt er schließlich. «Okay, ich verstehe. Tut mir leid, dass ich so gedrängelt habe.»

«Schon gut. Wenn wir noch weitere Beweise finden, sage ich der Polizei alles, ich schwöre es.»

Draußen höre ich eine Autotür zufallen und sehe zum Fenster. Ein Mann kommt auf mein Haus zu.

«Aber hey, ich muss Schluss machen. Ich glaube, Daniel ist wieder da. Ich rufe Sie später zurück.»

Ich lege auf, werfe das Telefon auf die Couch und gehe zur Haustür. Auf der Treppe ertönen Schritte, und ehe Daniel aufschließen kann, reiße ich die Tür auf und stemme die Hand in die Hüfte.

«Du kannst dich einfach nicht von mir fernhalten, oder?»

Dann merke ich, wer da vor mir steht, und mein Lächeln erlischt, meine neckische Miene weicht Entsetzen. Dieser Mann ist nicht Daniel. Ich lasse die Hand sinken und mustere ihn von oben bis unten, die kräftige Statur und die schmutzige Arbeitskleidung, die faltige Haut und die dunklen, toten Augen. Sie sind sogar noch dunkler als auf seinem Foto, das noch auf dem Monitor meines Laptops zu sehen ist. Mein Herz beginnt zu rasen, und eine beängstigende Sekunde lang muss ich mich am Türrahmen festhalten, um nicht ohnmächtig zu werden.

Bert Rhodes steht vor meiner Tür.