Kapitel Sechsundzwanzig

Bis ich wieder zu Hause bin, ist es später Nachmittag. Als ich das Haus betrete, piept unsere neue Alarmanlage zweimal, und der Schreck fährt mir in die Glieder. Sobald ich die Tür geschlossen habe, aktiviere ich die Anlage wieder und stelle die Lautstärke auf die höchste Stufe ein. Dann sehe ich mich in meinem stillen Haus um. Trotz allem spüre ich Bert Rhodes’ Anwesenheit überall, wohin ich blicke. Seine Stimme scheint durch die Räume zu hallen, seine dunklen Augen lauern hinter jeder Ecke. Ich kann ihn sogar riechen, diesen moschusartigen Schweißgeruch, vermischt mit einem Hauch Alkohol, der ihm folgte, als er durch mein Haus schlenderte, meine Wände anfasste, meine Fenster inspizierte, sich wieder in mein Leben drängte.

Ich gehe in die Küche, setze mich an die Kücheninsel, lege meine Handtasche auf die Theke und fische das Fläschchen Xanax heraus, das ich aus dem Handschuhfach genommen hatte. Ich drehe es in den Händen, schüttele es und lausche dem Klappern der Tabletten darin. Schon seit ich heute Morgen aus dem Leichenschauhaus kam, sehne ich mich nach einer Xanax. Es liegt erst wenige Stunden zurück, dass ich im Auto saß und die Erinnerung an Laceys bläulich verfärbte Leiche die Hand mit der Tablette zittern ließ, doch seither ist so viel geschehen, dass es mir vorkommt, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Ich schraube den Deckel ab, schüttle eine Tablette in die Hand und schlucke sie trocken herunter, bevor mich ein weiterer Anruf davon abhalten kann. Dann sehe ich zum Kühlschrank, und mir geht auf, dass ich den ganzen Tag kaum etwas gegessen habe.

Also stehe ich auf, gehe zum Kühlschrank, öffne die Tür und lehne mich gegen den kalten Stahl. Schon fühle ich mich besser. Ich habe der Polizei von Bert Rhodes erzählt. Detective Thomas wirkte nicht recht überzeugt, aber ich habe getan, was ich konnte. Jetzt wird er ihn unter die Lupe nehmen. Bestimmt wird er ihn von nun an beobachten, seine Bewegungen, seine Muster. Er wird festhalten, welche Häuser er aufsucht, und falls ein weiteres Mädchen vermisst wird und aus einem dieser Häuser stammt, dann wird er es wissen. Er wird wissen, dass ich recht hatte und mich nicht mehr ansehen, als wäre ich die Verrückte hier. Als wäre ich diejenige, die etwas zu verbergen hat.

Der Lachsrest von gestern Abend fällt mir ins Auge, und ich hole den Glasbehälter heraus, nehme den Deckel ab und stelle ihn in die Mikrowelle. Gleich darauf erfüllt das Aroma der Gewürze die Luft. Für ein Mittagessen ist es zu spät, also nenne ich es ein frühes Abendessen, und das bedeutet, ich darf mir ein Glas von dem Cabernet genehmigen, der gestern Abend so gut dazu passte. Ich gehe zum Weinschrank, nehme ein Glas, schenke es randvoll und trinke einen großen Schluck. Dann leere ich die Flasche ins Glas und werfe sie in den Recyclingeimer.

Bevor ich mir einen Hocker zurechtrücken kann, klopft es an der Tür – ein lautes Klopfen mit der ganzen Faust, sodass ich mir vor Schreck die Hand auf die Brust schlage. Dann ertönt eine vertraute Stimme.

«Chlo, ich bin’s. Ich komme rein.»

Ich höre den Schlüssel im Schloss und sehe, wie der Türknauf sich dreht, da fällt mir die Alarmanlage ein.

«Nein, warte!», schreie ich und renne zur Tür. «Coop, komm nicht rein. Warte kurz.»

Es gelingt mir, rechtzeitig den Code ins Bedienfeld einzugeben. Gleich darauf öffnet sich die Tür, ich drehe mich um und sehe ins überraschte Gesicht meines Bruders.

«Du hast eine Alarmanlage?», fragt Cooper, der mit einer Flasche Wein auf der Fußmatte steht. «Wenn du deinen Schlüssel zurückhaben wolltest, hättest du es nur sagen müssen.»

«Sehr witzig.» Ich lächle. «Von jetzt an musst du mich vorwarnen, wenn du vorbeikommen willst. Das Ding schickt dir die Cops auf den Hals.»

Ich klopfe auf das Bedienfeld und bedeute ihm, hereinzukommen, gehe zurück zur Kücheninsel und lehne mich an den kühlen Marmor.

«Und wenn du versuchst einzubrechen, sehe ich dich mit meinem Telefon.»

Ich hebe mein Mobiltelefon und wackele damit, dann deute ich auf die Kamera in der Ecke.

«Nimmt die wirklich gerade auf?», fragt er.

«Aber sicher.»

Ich öffne die Alarmanlagen-App auf meinem Telefon und halte es Cooper vor die Nase, sodass er sich selbst in der Mitte des Displays sehen kann.

«Hm.» Er dreht sich um und winkt in die Kamera, wendet sich wieder mir zu und grinst.

«Außerdem», sage ich, «sosehr ich mich über deine Besuche freue, aber ich bin nicht mehr die Einzige, die hier wohnt.»

«Ja, ja.» Cooper setzt sich auf den Rand eines Hockers. «Apropos: Wo ist denn dein Verlobter?»

«Unterwegs», sage ich. «Auf Dienstreise.»

«Übers Wochenende?»

«Er arbeitet viel.»

«Hm», macht Cooper und lässt die Flasche Merlot, die er mitgebracht hat, auf der Kücheninsel kreisen. Die Flüssigkeit darin glitzert im Schein der Küchenlampen und wirft blutrote Schatten an die Wand.

«Cooper, nicht», sage ich. «Nicht jetzt.»

«Ich hab nichts gesagt.»

«Aber du wolltest es.»

«Macht dir das nichts aus?» Seine Frage klingt so eindringlich, als hätte sie einfach herausgemusst. «Wie oft ist er weg? Ich meine, ich weiß nicht, Chlo. Ich habe mir dich immer mit jemandem vorgestellt, der bei dir ist und dir ein Gefühl von Sicherheit gibt. Das hast du verdient, nach allem, was du durchgemacht hast. Jemanden, der bei dir ist.»

«Daniel ist bei mir», entgegne ich, nehme mein Weinglas und trinke einen großen Schluck. «Er gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.»

«Und wozu dann die Alarmanlage?»

Ich trommle mit den Fingern auf mein Weinglas, während ich überlege, was ich antworten soll.

«Es war seine Idee», sage ich schließlich. «Siehst du? Er sorgt für meine Sicherheit, auch wenn er nicht da ist.»

«Okay, wie du meinst.» Seufzend steht Cooper auf, geht zum Schrank, holt einen Korkenzieher und öffnet den Merlot. Obwohl ich vorgewarnt bin, zucke ich zusammen, als der Korken mit einem lauten Plopp herauskommt. «Wie auch immer: Ich wollte vorschlagen, dass wir ein Glas Wein zusammen trinken, aber offenbar hast du schon angefangen.»

«Warum bist du hier, Cooper? Bist du gekommen, um wieder mit mir zu streiten?»

«Nein, ich bin hier, weil du meine Schwester bist. Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um dich mache. Ich wollte mich vergewissern, dass es dir gut geht.»

«Tja, mir geht’s gut.» Ich zucke die Achseln. «Ich weiß wirklich nicht, was ich dir sagen soll.»

«Wie kommst du mit alledem zurecht?»

«Womit?»

«Ach komm, du weißt, was ich meine.»

Ich seufze. Mein Blick zuckt zum Wohnzimmer, zur Couch, die mir mit einem Mal so gemütlich, so einladend erscheint. Ich lasse die Schultern ein bisschen sinken; sie sind total verspannt. Ich bin total verspannt.

«Es weckt Erinnerungen», sage ich und trinke noch einen Schluck. «Logisch.»

«Ja. Bei mir auch.»

«Manchmal fällt es mir schwer, zu unterscheiden, was real ist und was nicht.»

Die Worte sind heraus, ehe ich sie herunterschlucken kann. Ich schmecke es noch auf der Zunge, das Eingeständnis dessen, was ich nicht hatte wahrhaben wollen. Was ich am liebsten vergessen würde. Ich senke den Blick auf mein Weinglas, das mit einem Mal schon halbleer ist, dann sehe ich Cooper an.

«Ich meine, es ist einfach so vertraut. Da sind so viele Ähnlichkeiten. Findest du nicht auch?»

Cooper mustert mich, dann fragt er sanft: «Was für Ähnlichkeiten, Chloe?»

«Vergiss es. Es ist nichts.»

«Chloe», sagt Cooper und beugt sich zu mir, «was ist das?»

Ich folge seinem Blick zu dem Fläschchen Xanax, das noch auf der Kücheninsel steht, dem kleinen orangen Fläschchen mit dem Haufen Tabletten darin. Wieder senke ich den Blick auf mein Glas, in dem jetzt nur noch ein Finger hoch Wein ist.

«Nimmst du die?»

«Was? Nein. Nein, das sind nicht meine –»

«Hat Daniel dir die gegeben?»

«Nein, hat er nicht. Wie kommst du darauf?»

«Sein Name steht auf dem Fläschchen.»

«Weil es ihm gehört.»

«Und warum stehen sie dann offen hier herum, wenn er verreist ist?»

Schweigen senkt sich zwischen uns herab. Ich sehe aus dem Fenster, wo die Sonne allmählich untergeht. Die Abendgeräusche setzen ein: der Gesang der Zikaden und Grillen und die Geräusche all der anderen Tiere, die im Dunkeln aktiv werden. Louisiana am Abend ist laut, aber das ist mir lieber als Stille. Denn wenn es still ist, kann man alles hören. Gedämpfte Atemzüge irgendwo in der Ferne, Schritte durch raschelndes Laub. Eine Schaufel, die über die Erde schleift.

«Das macht mir schon die ganze Zeit Sorgen.» Cooper atmet aus und fährt sich mit den Händen durchs Haar. «Es ist nicht gut, dass er diese ganzen Medikamente hier ins Haus bringt, bei deiner Vorgeschichte.»

«Was meinst du mit diese ganzen Medikamente

«Er ist Pharmaberater, Chloe. Seine Aktentasche ist voll mit diesem Scheiß.»

«Na, und? Ich habe auch Zugang zu Medikamenten. Ich kann sie verschreiben.»

«Aber nicht dir selbst.»

Tränen brennen in meinen Augen. Ich finde es furchtbar, Daniel die Schuld daran in die Schuhe zu schieben, aber mir fällt keine andere Erklärung ein. Kein anderer Ausweg, ohne Cooper zu gestehen, dass ich in Daniels Namen Rezepte einlöse. Also bin ich einfach still. Und lasse Cooper in diesem Glauben. Ich lasse zu, dass sein Misstrauen gegenüber meinem Verlobten sich vertieft, immer mächtiger wird.

«Ich bin nicht hier, um mich zu streiten.» Cooper steht auf, kommt zu mir und nimmt mich in die Arme. Seine Umarmung ist fest und warm und vertraut. «Ich liebe dich, Chloe. Und ich weiß, warum du das tust. Ich wünschte bloß, du würdest damit aufhören. Such dir Hilfe.»

Ich spüre, dass mir eine Träne entkommt, über meine Wange läuft und eine salzige Spur hinterlässt. Sie landet auf Coopers Bein und hinterlässt einen kleinen dunklen Fleck. Ich beiße mir fest auf die Lippe, um die übrigen Tränen zurückzuhalten.

«Ich brauche keine Hilfe», sage ich und drücke mir die Handballen auf die Augen. «Ich kann mir selbst helfen.»

«Tut mir leid, dass ich dich aufgeregt habe», sagt Cooper. «Es ist bloß … diese Beziehung, in der du da bist … sie kommt mir nicht gesund vor.»

«Schon gut.» Ich hebe den Kopf von seiner Schulter und wische mir mit dem Handrücken über die Wange. «Aber ich denke, du solltest jetzt gehen.»

Cooper legt den Kopf schräg. Das ist das zweite Mal in einer Woche, dass ich meinem Bruder damit drohe, Daniel ihm vorzuziehen. Ich muss daran denken, wie wir bei der Verlobungsparty auf der Veranda hinterm Haus standen. An das Ultimatum, das ich ihm gestellt habe.

Ich will dich bei dieser Hochzeit dabeihaben. Aber sie findet mit dir oder ohne dich statt.

Doch jetzt erkenne ich an seinem verletzten Blick, dass er mir nicht geglaubt hatte.

«Ich sehe, dass du dir Mühe gibst. Und ich kapier’s, Cooper. Wirklich. Du willst mich schützen, du sorgst dich um mich. Aber egal, was ich sage, Daniel wird in deinen Augen niemals gut genug sein. Er ist mein Verlobter. Nächsten Monat heirate ich ihn. Falls er also nicht gut genug für dich ist, dann bin ich es wohl auch nicht.»

Cooper tritt einen Schritt zurück und ballt die Fäuste.

«Ich versuche nur, dir zu helfen», sagt er. «Mich um dich zu kümmern. Das ist meine Aufgabe. Ich bin dein Bruder. »

«Das ist nicht deine Aufgabe. Nicht mehr. Und du musst jetzt gehen.»

Cooper sieht mich noch einen Moment an, dann zuckt sein Blick zu den Tabletten. Er streckt den Arm aus, und ich denke schon, er will die Tabletten an sich nehmen, doch stattdessen reicht er mir den Schlüsselring mit meinem Ersatzschlüssel. Sofort sehe ich die Szene vor mir, als ich ihm den Schlüssel gab – vor Jahren, als ich hier einzog, wollte ich, dass er einen Schlüssel hat. Du bist hier immer willkommen , sagte ich, während wir im Schneidersitz in meinem Schlafzimmer auf der Matratze saßen. Wir hatten gerade das Kopfteil meines Betts zusammengesetzt, und uns stand der Schweiß auf der Stirn. Auf dem Boden lagen chinesische Imbiss-Schachteln, und die fettigen Nudeln hatten Flecken auf dem Holzboden hinterlassen. Außerdem brauche ich jemanden, der meine Pflanzen gießt, wenn ich nicht da bin. Jetzt starre ich den Schlüssel an, der an seinem Zeigefinger baumelt. Ich kann mich nicht dazu überwinden, ihn zu nehmen – denn wenn ich das mache, ist es endgültig, das weiß ich. Dann kann ich ihn Cooper nicht mehr zurückgeben. Also legt er ihn sanft auf die Theke, dreht sich um und verlässt mein Haus.

Ich starre den Schlüssel an und kämpfe den Drang nieder, ihn zu nehmen, Cooper hinterherzulaufen und ihm den Schlüssel in die Hand zu drücken. Stattdessen stopfe ich Schlüssel und Xanax-Fläschchen in meine Handtasche, gehe zur Tür und aktiviere die Alarmanlage wieder. Daraufhin schnappe ich mir Coopers noch fast volle Weinflasche und schenke mir ein weiteres Glas ein, trage es zusammen mit dem jetzt wieder kalten Lachs ins Wohnzimmer, setze mich auf die Couch und schalte den Fernseher ein.

Dann denke ich über all das nach, was heute geschehen ist, und bin sofort erschöpft. Der Anblick von Laceys Leiche, das Treffen mit Aaron. Die Auseinandersetzung mit Daniel, die Begegnung mit Bert Rhodes, der Besuch bei Detective Thomas. Der Streit mit meinem Bruder; die Sorge in seinem Blick, als er die Tabletten entdeckte. Als er sah, wie ich allein an der Kücheninsel Wein trank.

Unvermittelt fühle ich mich nicht nur erschöpft, sondern einsam.

Ich nehme mein Telefon, tippe aufs Display, sodass es aufleuchtet, und überlege, ob ich Daniel anrufen soll. Doch dann stelle ich mir vor, wie er in irgendeinem italienischen Sternerestaurant beim Abendessen sitzt und gerade eine weitere Flasche bestellt. Schallendes Gelächter, als er darauf beharrt, nur noch eine zu bestellen. Wahrscheinlich ist er der Mittelpunkt des Abends – reißt Witze, packt den Leuten an die Schulter. Bei dieser Vorstellung fühle ich mich noch einsamer, und so wische ich übers Display und öffne meine Kontakte.

Und ganz oben begrüßt mich ein Name, den ich heute schon einmal angerufen habe: Aaron Jansen.

Ich könnte Aaron anrufen , denke ich. Ich könnte ihm berichten, was seit unserer Unterhaltung am Fluss alles geschehen ist. Sicher hat er nichts Besonderes vor, er ist ja allein in einer fremden Stadt. Vermutlich macht er sogar gerade das Gleiche wie ich – sitzt angetrunken auf einer Couch, Essensreste zwischen den ausgestreckten Beinen. Mein Finger schwebt über seinem Namen, aber bevor ich ihn antippen kann, wird das Display schwarz. Ich sitze noch eine Weile da und überlege. Mittlerweile fühle ich mich ein bisschen benebelt, so, als wäre mein Kopf in eine dicke Wolldecke gehüllt. Ich entscheide mich gegen den Anruf und lege das Telefon zur Seite, schließe die Augen und überlege, wie er reagieren könnte, wenn ich ihm erzähle, dass Bert Rhodes hier vor der Tür stand. Male mir aus, wie er mich am Telefon anschreit, wenn ich zugebe, dass ich Bert Rhodes ins Haus gelassen habe. Muss grinsen, weil ich weiß, er würde sich Sorgen machen. Sorgen um mich. Aber dann würde ich ihm erzählen, dass ich ihn wieder aus dem Haus bekommen und Detective Thomas angerufen habe, dass ich zur Polizei gegangen bin. Ich würde ihm diese Unterhaltung Wort für Wort schildern, und bei diesem Gedanken lächle ich, denn ich weiß, er wäre stolz auf mich.

Ich schlage die Augen auf und esse noch ein Stück Lachs. Der Fernseher klingt sehr weit weg, stattdessen treten meine Kaugeräusche in den Vordergrund. Das Klirren der Gabel, wenn sie auf das Glas der Schüssel trifft. Mein schwerer Atem. Das Fernsehbild wird allmählich unscharf, und da merke ich, dass meine Lider mit jedem Schluck Wein schwerer werden. Bald kribbeln meine Glieder.

Das habe ich mir verdient , denke ich und lasse mich auf der Couch nach hinten sinken. Ich verdiene es, zu schlafen. Auszuruhen. Ich bin nur erschöpft. So unglaublich erschöpft. Es war ein langer Tag. Ich schalte das Telefon aus – keine Störungen – und lege es mir auf den Bauch, dann stelle ich mein Abendessen auf den Couchtisch. Ich trinke noch einen Schluck Wein und spüre, dass mir ein paar Tropfen übers Kinn laufen. Dann schließe ich die Augen, nur für eine Sekunde, denke ich, und merke, wie ich eindöse.

Als ich wieder wach werde, ist es draußen dunkel. Zuerst bin ich desorientiert, dann stelle ich fest, dass ich auf der Couch liege und das halbleere Weinglas noch immer auf meinem Bauch festhalte. Wie durch ein Wunder habe ich nichts verschüttet. Ich setze mich auf und tippe aufs Telefon, um nach der Uhrzeit zu sehen, dann fällt mir wieder ein, dass ich es ausgeschaltet habe. Ich schiele zum Fernseher: Die Zeitangabe in der Nachrichtensendung lautet auf kurz nach zehn. Mein Wohnzimmer ist in ein unheimliches bläuliches Licht getaucht, daher nehme ich die Fernbedienung und schalte den Fernseher aus. Dann stehe ich auf, betrachte das Weinglas in meiner Hand, leere es, stelle es auf den Couchtisch, gehe nach oben und lasse mich aufs Bett fallen.

Kaum habe ich die Matratze berührt, versinke ich in einem Traum – oder vielleicht ist es ja auch eine Erinnerung. Vom Gefühl her könnte es beides sein, irgendwie fremd, aber zugleich vertraut. Ich bin zwölf Jahre alt und sitze in meiner Lesenische; in meinem Zimmer ist es stockfinster, nur das Licht meiner kleinen Leselampe beleuchtet mein Gesicht ein wenig. Mein Blick wandert über die Zeilen in meinem Buch. Ich bin völlig vertieft in die Geschichte. Da reißt mich ein Geräusch draußen aus meiner Konzentration. Ich sehe aus dem Fenster und entdecke in der Ferne eine Gestalt, die durch unseren dunklen Garten schleicht. Sie ist zwischen den Bäumen hinter unserem Grundstück hervorgekommen, zwischen den Bäumen, die den Übergang zu einem Sumpf säumen, der sich meilenweit in alle Richtungen erstreckt.

Ich kneife die Augen zusammen, und gleich darauf erkenne ich, dass die Gestalt ein Mensch ist. Ein Erwachsener. Und er zieht etwas hinter sich her. Jetzt schwebt auch ein Geräusch heran und dringt durch mein einen Spaltbreit geöffnetes Fenster herein. Ich spitze die Ohren: Metall, das über Erde scharrt.

Es ist eine Schaufel.

Die Gestalt kommt immer näher, und ich drücke das Gesicht an die Fensterscheibe, mache ein Eselsohr in mein Buch und lege es zur Seite. Es ist immer noch dunkel, und ich kann die Gesichtszüge nicht erkennen. Als sie noch näher kommt, bis sie fast direkt unter meinem Fenster ist, geht ein Scheinwerfer an, und ich kneife die Augen zusammen und halte die Hand davor, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt haben. Als ich die Hand wieder sinken lasse und die Gestalt unter meinem Fenster endlich erkennen kann, stelle ich zu meiner Verwirrung fest, dass es kein Mann ist, wie ich gedacht hatte. Es ist nicht mein Vater wie in meiner Erinnerung.

Diesmal ist es eine Frau.

Sie hebt den Kopf und sieht mich an, als wüsste sie schon die ganze Zeit, dass ich hier bin. Unsere Blicke begegnen sich. Zuerst erkenne ich sie nicht. Sie kommt mir vage bekannt vor, aber ich weiß nicht, inwiefern oder warum. Ich betrachte die einzelnen Gesichtszüge – Augen, Mund, Nase –, und da macht es endlich klick. Ich spüre, wie alles Blut aus meinem Gesicht weicht.

Die Frau unter meinem Fenster bin ich.

Panik steigt in mir auf: Mein zwölfjähriges Ich blickt meinem zwanzig Jahre älteren Ich in die Augen, die so schwarz sind wie die von Bert Rhodes. Ich blinzle mehrmals und betrachte die Schaufel in ihrer Hand. Eine rote Flüssigkeit klebt daran, von der ich instinktiv weiß, dass es Blut ist. Langsam verziehen ihre Lippen sich zu einem Lächeln, und ich stoße einen Schrei aus.

Schweißbedeckt fahre ich in die Höhe, und mein Schrei hallt immer noch durchs Haus. Dann jedoch merke ich – ich schreie gar nicht. Ich keuche, mein Mund steht offen, aber ich schreie nicht. Was ich höre, kommt von anderswoher, ein lautes, schrilles Geräusch, fast wie eine Sirene.

Das ist eine Alarmsirene. Meine Sirene. Der Alarm in meinem Haus wurde ausgelöst.

Plötzlich muss ich an Bert Rhodes denken. Ich sehe ihn hier in meinem Haus vor mir, wie er die Bruchmelder an meinen Fenstern anbrachte, seinen Bohrer auf mich richtete. Und ich muss an das denken, was er sagte.

Ich habe mich nie gefragt, wie es wäre, mein Leben zu verlieren. Ich rede davon, ein Leben zu nehmen.

Ich springe aus dem Bett und höre unten eilige Schritte. Vermutlich versucht er, die Anlage zu deaktivieren, die Sirene abzustellen, bevor er nach oben kommt und mich ebenso erwürgt, wie er diese Mädchen erwürgt hat. Ich renne zum Schrank, reiße die Tür auf und taste den Boden fieberhaft nach Daniels Waffe ab. Ich habe noch nie geschossen. Ich habe keine Ahnung, wie man das macht. Aber sie ist da, und sie ist geladen, und wenn es mir nur gelingt, sie in Händen zu halten, bevor Bert in mein Schlafzimmer kommt, dann habe ich vielleicht eine reelle Chance.

Als ich gerade die Schmutzwäsche zur Seite schleudere, höre ich Schritte auf der Treppe. Komm schon , flüstere ich. Komm schon, wo bist du? Ich öffne zwei Schuhkartons, doch sie enthalten nur Stiefel, und ich schiebe sie beiseite. Die Schritte kommen jetzt näher, sind lauter. Die Alarmsirene schrillt immer noch durchs Haus. Die Nachbarn sind garantiert wach, denke ich. Damit kommt er nicht durch. Er kann mich nicht umbringen, wenn die Sirene gellt. Trotzdem suche ich weiter, bis ich in einer Ecke eine Schachtel finde. Ich ziehe sie zu mir heran, betrachte sie. Sie sieht aus wie eine Schmuckschatulle – was soll Daniel mit einer Schmuckschatulle? Aber sie ist lang, schmal, hat genau die richtige Größe für eine Pistole, also klappe ich hastig den Deckel auf und spüre, dass jemand vor der geschlossenen Zimmertür steht.

Als ich sehe, was die Schachtel enthält, stockt mir der Atem. Es ist keine Pistole, sondern etwas viel Schrecklicheres.

Es ist eine Halskette aus Silber, mit drei kleinen Diamanten und einer einzelnen Perle daran.