Kapitel Siebenundzwanzig

Chloeeee.

Die Stimme vor meinem Schlafzimmer ist kaum zu hören, so laut ist die Sirene. Jemand ruft meinen Namen, aber ich kann den Blick nicht von der Schachtel in meinen Händen losreißen. Von der Schachtel, die ganz hinten im Schrank lag, der Schachtel, in der Aubrey Gravinos Halskette sorgsam drapiert ist. Mit einem Mal sind alle Geräusche um mich herum ausgeblendet, und ich bin wieder zwölf, sitze im Schlafzimmer meiner Eltern und betrachte die sich drehende Ballerina. Beinahe kann ich die Melodie hören, die mich wie ein Wiegenlied in eine Art Trance versetzte, während ich den Haufen Schmuck anstarrte, der toter Haut entrissen wurde.

CHLOE !

Ich reiße den Kopf hoch, und im selben Augenblick öffnet sich die Schlafzimmertür. Instinktiv klappe ich die Schachtel zu, schiebe sie zurück in den Schrank und häufe Kleidung darauf. Fieberhaft suche ich nach etwas, irgendetwas, womit ich mich bewaffnen kann, aber da sehe ich bereits ein Männerbein und gleich darauf den Rest des Mannes hereinkommen. Ich bin so davon überzeugt, gleich Bert Rhodes mit seinen toten Augen und ausgestreckten Armen auf mich zustürmen zu sehen, dass ich Daniels Gesicht kaum zur Kenntnis nehme, als er um die Ecke kommt und mich verblüfft anstarrt.

«Chloe, mein Gott», sagt er. «Was tust du da?»

«Daniel?» Ich springe auf und will schon zu ihm laufen, doch dann bleibe ich wie angewurzelt stehen, denn mir fällt wieder die Halskette ein. Wie zum Teufel ist die in unseren Kleiderschrank gekommen, wenn sie nicht jemand dort hineingelegt hat … und ich war das nicht. Ich zögere. «Was tust du hier?»

«Ich habe dich angerufen», brüllt er. «Wie schaltet man dieses Scheißding ab?»

Ich blinzle mehrmals, dann dränge ich mich an ihm vorbei, renne die Treppe hinunter und schalte den Alarm ab. Auf den ohrenbetäubenden Lärm folgt ohrenbetäubende Stille, und ich spüre Daniels Blick in meinem Rücken.

«Chloe, was hast du da im Schrank gemacht?»

«Ich habe nach der Pistole gesucht», flüstere ich und wage es nicht, mich umzudrehen. «Ich wusste nicht, dass du heute Abend nach Hause kommst. Du hast morgen gesagt.»

«Ich habe dich angerufen», sagt er noch einmal. «Dein Telefon war ausgestellt. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.»

Ich höre ihn die Treppe herunter- und zu mir kommen. Ich weiß, ich sollte mich umdrehen, mich ihm zuwenden. Aber im Moment kann ich ihn nicht ansehen. Ich kann mich nicht dazu überwinden, ihm ins Gesicht zu sehen, weil ich zu viel Angst vor dem habe, was ich dort sehen könnte.

«Ich wollte nicht über Nacht wegbleiben», erklärt er. «Ich wollte nach Hause zu dir.»

Er schlingt die Arme um meine Taille und drückt die Nase an meine Schulter, atmet tief ein und küsst mich in den Nacken. Ich beiße mir auf die Lippe. Er riecht … anders. Nach Schweiß, vermischt mit Honig- und Vanilleparfüm.

«Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe», sagt er. «Ich habe dich vermisst.»

Ich schlucke. Stocksteif stehe ich in seinen Armen. Die medikamentenerzeugte Gelassenheit, die ich am früheren Abend verspürt habe, hat sich in Luft aufgelöst, und ich spüre, wie mein Herz mit erstaunlicher Wucht gegen meinen Brustkorb schlägt. Daniel scheint das auch zu spüren, denn er drückt mich fester an sich.

«Ich habe dich auch vermisst», flüstere ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

«Lass uns wieder ins Bett gehen», sagt er, schiebt mir die Hand unters T-Shirt und streichelt meinen Bauch. «Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.»

«Schon gut.» Ich versuche, mich von ihm zu lösen, doch ehe mir das gelingt, dreht er mich zu sich um, schlingt die Arme noch fester um mich und drückt mir die Lippen aufs Ohr.

«Hey, du brauchst keine Angst zu haben», flüstert er, und ich spüre seinen Atem heiß an meiner Wange. Er kämmt mir mit den Fingern durchs Haar. «Ich bin ja da.»

Ich beiße die Zähne aufeinander. Genau das sagte auch mein Vater damals: Ich rannte die Schotterstraße entlang, sprang die Treppe hinauf, warf mich in seine ausgebreiteten Arme. Er drückte mich fest an sich, sein Körper ein Hort der Wärme, der Sicherheit und des Schutzes. Und er flüsterte mir ins Ohr: Ich hab dich. Ich bin ja da.

Genau das war Daniel immer für mich: Wärme, Sicherheit, Schutz, nicht nur vor der Außenwelt, sondern auch vor mir selbst. Aber als ich jetzt in seinen Armen gefangen bin und von seinem heißen Atem an meinem Hals eine Gänsehaut bekomme, während hinten in unserem Schrank die Halskette eines toten Mädchens versteckt ist, da frage ich mich, ob es an diesem Mann Seiten gibt, die mir bisher unbekannt waren. Mir fällt wieder ein, wie oft ich mich schon mit Männern eingelassen habe, bei denen ich mich irgendwann fragte: Was verheimlicht er mir? Was sagt er mir nicht?

Ich denke an meinen Bruder, an all seine Warnungen.

Wie gut kann man jemanden in einem Jahr kennenlernen?

Daniel lässt mich los, packt mich an den Schultern und lächelt mich an. Er sieht müde aus, seine Haut wirkt ungewöhnlich schlaff, und sein Haar ist teilweise zerzaust. Ich frage mich, was er heute Abend getrieben hat, warum er so aussieht. Offenbar bemerkt er meine Musterung, denn er reibt sich mit der Hand übers Gesicht und zieht dabei seine Augenlider herab.

«Langer Tag», sagt er und seufzt. «Lange Fahrt. Ich gehe duschen, und dann lass uns schlafen gehen.»

Ich nicke und sehe ihm hinterher, als er sich umdreht und die Treppe hinaufgeht. Reglos bleibe ich stehen, bis ich die Dusche höre. Erst dann atme ich aus, löse die Fäuste und folge ihm. Ich lege mich in unser gemeinsames Bett und wickle mich, so fest ich kann, in die Bettdecke. Als Daniel aus dem Bad kommt, gebe ich vor, zu schlafen, und versuche, nicht zusammenzuzucken, weil ich seine nackte Haut an meiner spüre, dann seine Hände, die mir den Nacken massieren, und bemerke, wie er nach wenigen Minuten noch einmal aufsteht und die Schranktür schließt.