In nicht einmal fünf Minuten bin ich zur Tür hinaus. Ich habe die Sneakers so nachlässig angezogen, dass sie an den Fersen scheuern, als ich durch die Einfahrt renne.
«Chloe!», ruft Daniel mir hinterher, fängt die Haustür auf und öffnet sie weiter. «Wo willst du hin?»
«Ich muss los», rufe ich ihm zu. «Es geht um Mom.»
«Was ist denn mit deiner Mutter?»
Jetzt kommt er auch aus dem Haus gerannt und zieht sich im Laufen ein weißes T-Shirt über den Kopf. Ich wühle in meiner Tasche nach dem Autoschlüssel, um die Tür zu entriegeln.
«Sie isst nicht mehr», sage ich. «Sie hat seit Tagen nichts gegessen. Ich muss zu ihr, ich muss –»
Ich halte inne und vergrabe den Kopf in den Händen. All die Jahre habe ich meine Mutter nicht beachtet. Ich habe sie wie einen Juckreiz behandelt, bei dem ich mich zu kratzen weigere. Vermutlich hatte ich Angst, dass es mir zu viel wird, wenn ich dem – ihr – Aufmerksamkeit schenke, und ich mich dann auf nichts anderes mehr konzentrieren kann. Wenn ich es aber nicht beachtete, würde das unangenehme Gefühl von ganz allein nachlassen. Es würde nie ganz fort sein – ich wusste, es würde noch da sein, es würde immer da sein und wieder stärker werden, sobald ich es zuließe –, aber unaufdringlicher, eher wie Hintergrundgeräusche. Störgeräusche. Ebenso wie bei meinem Vater konnte ich auch bei meiner Mutter das Wissen darum, was sie ist – was sie sich, uns angetan hat –, nicht an mich heranlassen. Ich habe sie fortgewünscht. Aber nie, nicht ein einziges Mal, habe ich darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn sie wirklich fort wäre. Wenn sie stirbt, allein in diesem muffigen Zimmer in Riverside, unfähig, ihre letzten Worte zu sprechen, ihre letzten Gedanken auszudrücken. Die Erkenntnis dessen, was ich schon immer wusste, senkt sich schwer auf mich herab, dicht und erstickend, als müsste ich durch ein nasses Handtuch atmen.
Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie ihrem Tod allein ins Auge sehen lassen.
«Chloe, warte mal», sagt Daniel. «Rede mit mir.»
«Nein.» Ich schüttle den Kopf und suche weiter nach meinem Schlüssel. «Nicht jetzt, Daniel. Ich habe keine Zeit.»
«Chloe –»
Hinter mir klirrt etwas. Ich erstarre, dann drehe ich mich langsam um. Daniel steht hinter mir und hält meine Schlüssel in die Höhe. Ich greife danach, aber er zieht sie weg, außer Reichweite.
«Ich komme mit», sagt er. «Du brauchst mich jetzt.»
«Daniel, nein. Gib mir einfach die Schlüssel –»
«Doch. Verdammt, Chloe. Das ist nicht verhandelbar. Jetzt steig ein.»
Erschrocken über diesen Wutausbruch, starre ich ihn an. Betrachte seine gerötete Haut und die hervortretenden Augen. Gleich darauf verändert sich sein Ausdruck wieder.
«Tut mir leid.» Er atmet tief durch und legt seine Hände auf meine. Ich zucke zusammen. «Chloe, tut mir leid. Aber du musst aufhören, mich wegzustoßen. Lass mich dir helfen.»
Wieder sehe ich ihn an und staune über die Verwandlung, die innerhalb von Sekunden mit seinem Gesicht vorgegangen ist. Über die Sorgenfalten, die sich jetzt tief und glänzend auf seiner Stirn zeigen. Resigniert lasse ich die Hände sinken; ich will Daniel nicht dabeihaben. Ich will ihn nicht im selben Raum haben wie meine Mutter – meine sterbende, verletzliche Mutter –, aber ich habe nicht die Kraft, mit ihm zu streiten. Ich habe nicht die Zeit , mit ihm zu streiten.
«Na schön», sage ich. «Fahr schnell.»
Als wir in Riverside auf den Parkplatz fahren, entdecke ich sofort Coopers Auto, steige aus, noch bevor Daniel auf Parken geschaltet hat, und renne durch die Automatiktür ins Gebäude. Ich höre Daniels Sneakers hinter mir über die Fliesen quietschen. Er versucht, mich einzuholen, aber ich warte nicht auf ihn. Ich wende mich nach rechts zum Flur, auf dem das Zimmer meiner Mutter liegt, und laufe an den vielen rissigen Türen, dem gedämpften Gemurmel der Fernseher, Radios und Bewohner vorbei. Als ich Moms Zimmer betrete, sehe ich als Erstes meinen Bruder, der an ihrem Bett sitzt.
«Coop.» Ich laufe zu ihm und setze mich auf das Bett meiner Mutter, während ich mich von ihm in die Arme nehmen lasse. «Wie geht es ihr?»
Ich sehe meine Mutter an. Ihre Augen sind geschlossen. Ihr ohnehin magerer Körper wirkt noch dünner, so als hätte sie in einer Woche fünf Kilo abgenommen. Ihre Handgelenke sehen aus, als könnten sie durchbrechen, ihre Wangen sind tief eingesunken, ihre Haut ist papierdünn.
«Sie müssen Chloe sein.»
Ich fahre zusammen. In einer Ecke des Zimmers steht ein Arzt in einem weißen Kittel und hält ein Klemmbrett in die Hüfte gestemmt. Ich hatte ihn übersehen.
«Mein Name ist Dr. Glenn», sagt er. «Ich bin einer der Bereitschaftsärzte in Riverside. Ich habe heute Morgen mit Cooper telefoniert, aber ich glaube, wir kennen uns noch nicht.»
«Das stimmt.» Ich mache mir nicht die Mühe, aufzustehen, sondern sehe wieder meine Mutter an, beobachte das langsame Heben und Senken ihrer Brust. «Wann ist das passiert?»
«Vor knapp einer Woche.»
«Vor einer Woche? Warum erfahren wir erst jetzt davon?»
Draußen auf dem Flur ertönt ein Geräusch, und wir sehen alle drei zur Tür: Es ist Daniel, der gegen den Türrahmen geprallt ist. Eine Schweißperle rinnt ihm über die Stirn, und er wischt sie mit dem Handrücken ab.
«Was will der hier?» Cooper will aufstehen, aber ich lege ihm die Hand aufs Bein.
«Schon gut», sage ich. «Nicht jetzt.»
«Wir sind auf solche Situationen eingerichtet. Wie Sie sich vorstellen können, kommt so etwas bei älteren Menschen recht häufig vor», erklärt der Arzt, während sein Blick zwischen Daniel und mir hin- und herwandert. «Aber wenn das noch länger anhält, müssen wir sie ins Baton Rouge General verlegen.»
«Weiß man, welche Ursache dem zugrunde liegt?»
«Körperlich ist sie bei guter Gesundheit. Wir konnten keine Krankheit feststellen, die diese Appetitlosigkeit ausgelöst haben könnte. Kurz gesagt: Wir wissen es also nicht – und in all den Jahren, die sie nun in unserer Obhut ist, hatten wir dieses Problem bei ihr noch nie.»
Ich betrachte Mom, die schlaffe Haut an ihrem Hals, die Schlüsselbeine, die wie Trommelschlägel hervorstehen.
«Es ist beinahe so, als wäre sie eines Morgens aufgewacht und hätte beschlossen, dass es Zeit ist.»
Ratsuchend sehe ich Cooper an. Mein Leben lang habe ich das, was ich gesucht habe, immer irgendwo in seinem Gesichtsausdruck gefunden. Im fast unmerklichen Zucken seiner Lippen, wenn er ein Lächeln zu unterdrücken versucht, in dem Grübchen auf seiner Wange, wenn er gedankenverloren auf der Innenseite kaut. Soweit ich mich erinnere, ist mir nur ein einziges Mal ein leerer Blick begegnet; nur ein einziges Mal habe ich mich an Cooper gewandt und voller Entsetzen erkannt, dass auch er nicht helfen konnte – dass niemand helfen konnte. Das war in unserem Wohnzimmer, wo wir im Schneidersitz auf dem Boden saßen. Das Licht des Fernsehers beleuchtete unsere Gesichter, während wir unseren Vater über seine Finsternis sprechen hörten, die Ketten an seinen Knöcheln rasselten, eine einzelne Träne einen Fleck auf seinem Notizblock hinterließ.
Aber jetzt erlebe ich es erneut. Cooper sieht mir nicht in die Augen, sondern blickt geradeaus, starrt Daniel durchdringend an; beide stehen stocksteif da.
«Natürlich kann Ihre Mutter sich nicht mitteilen», fährt Dr. Glenn fort, ohne die Spannungen im Raum zu bemerken. «Aber wir hatten gehofft, dass Sie irgendwie zu ihr durchdringen können.»
«Ja, natürlich», sage ich, reiße den Blick von Cooper los und wende mich wieder meiner Mutter zu. Ich nehme ihre Hand. Nach einer Weile spüre ich ein sanftes Klopfen auf meinem Handgelenk: Ihre Finger bewegen sich langsam. Ich betrachte diese minimale Bewegung. Ihre Augen sind noch immer geschlossen, aber ihre Finger … bewegen sich.
Ich sehe Cooper an, dann Dr. Glenn. Die beiden scheinen nichts zu bemerken.
«Kann ich einen Moment mit ihr allein sein?», frage ich, und das Herz klopft mir bis zum Hals. Meine Handflächen werden feucht, aber ich will Moms Hand nicht loslassen. «Bitte?»
Dr. Glenn nickt, geht wortlos am Bett vorbei und verlässt das Zimmer.
«Ihr auch», sage ich und sehe zuerst Daniel, dann Cooper an. «Beide.»
«Chloe», setzt Cooper an, aber ich schüttle den Kopf.
«Bitte. Nur ein paar Minuten. Ich möchte, du weißt schon … nur vorsichtshalber.»
«Klar.» Er nickt sanft, legt seine Hand auf meine und drückt sie kurz. «Was immer du brauchst.»
Dann steht er auf, drängt sich an Daniel vorbei und geht ohne ein weiteres Wort hinaus.
Jetzt bin ich mit meiner Mutter allein und muss sofort an meinen letzten Besuch bei ihr denken. Als ich ihr von den vermissten Mädchen und den merkwürdigen Parallelen zu früher erzählte. Von diesem Déjà-vu-Gefühl. Und wenn Dr. Glenns Zeitangabe stimmt, dann hat sie um diese Zeit herum aufgehört zu essen.
Ich weiß nicht, warum ich mir solche Sorgen mache , sagte ich zu ihr. Dad ist im Gefängnis. Er kann ja gar nichts damit zu tun haben.
Ihr fieberhaftes Fingerklopfen, unmittelbar bevor ich den Besuch abbrach und aus dem Zimmer stürmte. Ich habe weder Cooper noch Daniel oder sonst jemandem erzählt, dass meine Mutter meiner Meinung nach durchaus kommunizieren kann – mit sanften Fingerbewegungen, ein Klopfen bedeutet Ja, ich höre dich –, denn ich war mir ganz ehrlich nicht sicher, ob ich selbst daran glaubte. Aber jetzt gerate ich ins Grübeln.
«Mom», flüstere ich und komme mir dabei ein bisschen albern vor, doch zugleich habe ich auch Angst. «Kannst du mich hören?»
Klopf.
Ich sehe auf ihre Finger. Sie haben sich wieder bewegt – das weiß ich genau.
«Hat das hier etwas mit dem zu tun, worüber wir gesprochen haben, als ich das letzte Mal hier war?»
Klopf, klopf.
Ich atme tief durch, dann zuckt mein Blick zur Tür, die noch offen steht.
«Weißt du etwas über diese ermordeten Mädchen?»
Klopf, klopf, klopf. Klopf, klopf.
Ich reiße den Blick von der Tür los und betrachte die Finger meiner Mutter, die fieberhaft über meine Handfläche zucken. Das kann kein Zufall sein, es muss etwas zu bedeuten haben. Dann hebe ich den Blick zum Gesicht meiner Mutter und zucke zurück. Ein Adrenalinstoß durchfährt mich, und vor Schreck reiße ich meine Hand weg und schlage sie mir ungläubig auf den Mund.
Ihre Augen stehen offen, und sie blickt mich direkt an.