Kapitel Einunddreißig

Ich betrachte ein Foto von Aubrey auf meinem Laptop, ein Foto, das ich noch nicht kannte. Es ist klein, daher habe ich es vergrößert, und nun ist es ein wenig unscharf, aber doch scharf genug, um mir sicher zu sein. Sie ist es.

Sie sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, trägt ein weißes Kleid und wieder ihre Reitstiefel, die ihr bis zum Knie gehen, und ihre Hände ruhen auf einem makellos gepflegten Rasen. Es ist ein Familienporträt, und sie ist umgeben von ihren Eltern, Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Den Rahmen für diese Aufnahme bilden dieselben moosbewachsenen Eichen, zwischen denen ich mich bei meiner Hochzeit hindurchgehen sah; im Hintergrund führt dieselbe weiße Treppe, die ich mich mit wehendem Schleier hinabschreiten sah, zu dieser riesigen umlaufenden Veranda. Zu diesen Schaukelstühlen, die nie stillzustehen scheinen.

Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, hebe ich einen Pappbecher mit Kaffee zum Mund. Das Foto befindet sich auf der offiziellen Website der Cypress Stables, wo ich mich über die Eigentümer informiere. Das Anwesen ist tatsächlich seit Jahrhunderten in Familienbesitz: Was 1787 als Zuckerrohrplantage begann, verwandelte sich zunächst in einen Reiterhof und schließlich in eine Event Location. Sieben Generationen von Gravinos haben dort gelebt, ihr Zuckerrohrsirup gehörte zum besten, der in Louisiana produziert wurde. Als sie erkannten, dass sie auf einem sehr begehrten Stück Land saßen, renovierten sie das Wohnhaus und bauten die Scheune um. Seitdem bilden Gebäude und Außengelände die perfekte Louisiana-Kulisse für Hochzeiten, Firmen- und andere Feiern.

Auf ihrem Vermisstenplakat kam Aubrey mir vage bekannt vor, das weiß ich noch gut. Ich wurde das Gefühl nicht los, sie irgendwoher zu kennen. Und jetzt weiß ich auch, warum. Sie war dort an dem Tag, an dem wir die Cypress Stables besichtigten, uns herumführen ließen und die Location schließlich für unsere Hochzeit buchten. Ich hatte Aubrey gesehen. Daniel hatte sie gesehen.

Und jetzt ist sie tot.

Mein Blick wandert von Aubreys Gesicht zu den Gesichtern ihrer Eltern, die ich vor knapp zwei Wochen in den Nachrichten sah. Ihr Vater hatte den Kopf in den Händen vergraben und weinte. Ihre Mutter blickte eindringlich in die Kamera und flehte: Wir wollen unsere Kleine zurück. Dann betrachte ich ihre Großmutter, eben die liebenswürdige Dame, die mit ihrem Tablet kämpfte und versuchte, meine vorgeschobenen Befürchtungen mit dem Verweis auf Ventilatoren und Insektenspray zu zerstreuen. Vermutlich war irgendwann in den Nachrichten erwähnt worden, dass Aubrey Gravino aus einer in dieser Gegend namhaften Familie stammte, aber ich wusste es nicht. Seit dem Fund ihrer Leiche hörte oder las ich ganz bewusst keine Nachrichten. Ich fuhr mit ausgeschaltetem Radio durch die Stadt. Und als ihr Vermisstenplakat durch Laceys ersetzt wurde, interessierte diese Information niemanden mehr. Die Medien wandten sich anderem zu. Die Welt wandte sich anderem zu. Aubrey war nur noch irgendein vage vertrautes Gesicht in einem Meer anderer Gesichter, anderer Mädchen.

«Dr. Davis?» Es klopft, und ich blicke hoch: Melissa streckt den Kopf zur Tür herein. Sie trägt Jogging-Shorts und ein ärmelloses T-Shirt, hat das Haar zu einem Knoten aufgesteckt, und über einer Schulter hängt eine Sporttasche. Es ist sechs Uhr dreißig, der Himmel vor meiner Praxis verfärbt sich gerade erst von Schwarz zu Blau. Wenn man so früh auf ist, dass alle anderen noch zu schlafen scheinen – wenn man diejenige ist, die die Kaffeemaschine einschaltet, wenn das eigene Auto das einzige auf der Straße ist, wenn man ein menschenleeres Bürogebäude betritt und überall Licht macht –, fühlt man sich mutterseelenallein. Ich war so in Aubreys Foto vertieft, so taub von der undurchdringlichen Stille um mich herum, dass ich Melissa nicht hereinkommen hörte.

«Guten Morgen.» Ich lächle und winke sie herein. «Sie sind früh dran.»

«Dasselbe könnte ich von Ihnen sagen.» Sie kommt herein, schließt die Tür hinter sich und wischt sich eine Schweißperle von der Stirn. «Haben Sie heute einen frühen Termin?»

Ich nehme leise Panik in ihrem Blick wahr, die Angst, dass sie etwas in meinem Kalender übersehen hat und womöglich gleich in Sportkleidung einen Klienten empfangen muss.

Ich schüttle den Kopf. «Nein, ich wollte bloß ein bisschen Arbeit nachholen. Die letzte Woche war … nun ja, Sie wissen ja, wie die war. Ich war abgelenkt.»

«Ja, das waren wir beide.»

In Wahrheit konnte ich es bloß nicht ertragen, auch nur eine Minute länger als nötig mit Daniel in einem Haus zu sein. Als ich gestern im sanft schaukelnden Kajak die Cypress Stables aus der Ferne betrachtete, da ließ ich meine Angst endlich zu. Nicht bloß Argwohn – Angst. Angst vor dem Mann, der direkt hinter mir saß, der nur die Hände um meinen Hals hätte legen müssen. Angst davor, mit einem Ungeheuer unter einem Dach zu leben – mit einem Ungeheuer, das vor aller Augen lebte, doch nicht wahrgenommen wurde, wie der Alligator, den ich vom Kajak aus gesehen hatte. Jetzt quälten mein Gewissen nicht nur die Halskette im Kleiderschrank, Coopers Misstrauen und die Warnung meiner Mutter, sondern auch dies: ein weiteres totes Mädchen, von dem es eine Verbindung zu mir – zu Daniel – gab. Cooper hatte recht – wir kennen einander nicht. Wir sind verlobt. Wir leben unter einem Dach, schlafen im selben Bett. Aber wir sind einander fremd, dieser Mann und ich. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wozu er fähig ist.

«Ich bekomme ein bisschen Kopfschmerzen», sagte ich zu Daniel, und das war nicht einmal direkt gelogen. Übelkeit stieg in mir auf, während ich das alte Plantagengebäude betrachtete, die verlassenen Schaukelstühle, die von Phantombeinen in Bewegung gehalten wurden. Ich fragte mich, ob Aubrey bei unserem Besuch die Halskette getragen hatte – die Halskette, die jetzt irgendwo bei mir zu Hause versteckt war. «Können wir umkehren?»

Daniel schwieg. Ich fragte mich, was er wohl dachte. Warum hatte er mich hierhergebracht? Wollte er sehen, wie ich reagierte? War das für ihn Teil des Vergnügens – die Wahrheit vor meiner Nase baumeln zu lassen, gerade eben außer Reichweite? Wollte er mich warnen? Wusste er, dass ich es weiß? Ich musste an meine Unterhaltung mit Aaron denken, an seine These, der Cypress Cemetery sei von besonderer Bedeutung. Ich hätte den Zusammenhang früher erkennen müssen. In den Cypress Stables sah ich Aubrey zum ersten Mal, und auf dem Cypress Cemetery wurde ihre Leiche gefunden. Bisher hatte ich mir nichts dabei gedacht – der Namensteil Cypress, Zypresse, ist weit verbreitet –, aber jetzt scheint mir dieser Zufall zu viel des Guten, ebenso wie der Umstand, dass man Laceys Leiche hinter meiner Praxis fand. Zu perfekt für einen echten Zufall. Hatte Daniel gewollt, dass ich Aubrey wiedererkenne, wenn ihre Leiche gefunden wird? Oder glaubte er wirklich, er könne mir ruhig noch ein Puzzleteilchen zeigen, ohne dass ich das Gesamtbild, das sich herauszubilden begann, erkannte?

«Daniel?»

«Sicher», sagte er leise. Er klang gekränkt. «Sicher, klar, wir können umkehren. Alles in Ordnung, Chloe?»

Ich nickte und zwang mich, den Blick vom Plantagengebäude loszureißen und etwas anderes anzusehen. Irgendetwas anderes. Daniel paddelte uns zurück zur Landestelle, dann fuhren wir schweigend nach Hause. Er hatte die Lippen aufeinandergepresst und sah stur auf die Straße; ich lehnte den Kopf ans Fenster und massierte mir die Schläfen. Als wir vor meinem Haus hielten, murmelte ich etwas von einem Nickerchen und zog mich ins Schlafzimmer zurück, schloss die Tür ab und kroch ins Bett.

«Hey, Mel», sage ich jetzt und sehe meine Assistentin an. «Kann ich Sie etwas fragen? Es geht um die Verlobungsparty.»

«Klar.» Sie lächelt und nimmt vor meinem Schreibtisch Platz.

«Um welche Uhrzeit ist Daniel nach Hause gekommen?»

Sie kaut auf der Innenseite ihrer Wange und denkt nach.

«Ehrlich gesagt, nicht viel früher als Sie. Cooper, Shannon und ich waren zuerst da. Daniel kam spät von der Arbeit, also haben wir alle hereingelassen, bis er nach Hause kam – vielleicht zwanzig Minuten vor Ihnen.»

Wieder spüre ich diesen Stich in der Brust. Cooper hat um meinetwillen seine eigenen Gefühle zurückgestellt. Er wollte für mich da sein, trotz allem – oder vielleicht sogar gerade deswegen. Ich stelle mir vor, wie er ganz hinten im Wohnzimmer stand, das Gesicht in der Menge verborgen. Er hat mitbekommen, wie ich aufschrie, die Hand in die Handtasche steckte und fieberhaft darin herumsuchte; wie Daniel mich an sich zog, mir die Hände auf die Hüften legte, alle in seinen Bann zog. Das war garantiert zu viel für Cooper. Zu beobachten, wie Daniel dieses strahlende Lächeln aufsetzte und mich so manipulierte, dass ich nachgab. Also schlüpfte er hinaus in den Garten, ehe ich ihn entdecken konnte, und wartete dort auf mich, allein mit seinem Päckchen Zigaretten. Ich begreife nicht, wieso ich das nicht früher erkannt habe – aus Sturheit wahrscheinlich. Aus Egoismus. Jetzt jedoch ist es offensichtlich: Cooper war für mich da, genau wie immer – unauffällig, im Hintergrund, genauso wie er mich damals beim Flusskrebsfest über die Köpfe seiner Freunde hinweg erblickte und sich gleich darauf von ihnen löste, um zu mir zu kommen und mich zu trösten, weil er sah, dass ich allein war.

«Okay.» Ich nicke und versuche, mich zu konzentrieren. Mich an den Tag der Party zu erinnern. Lacey verließ meine Praxis um halb sieben; ich muss eher gegen acht gegangen sein, nachdem ich meine Notizen über sie gesichert, meine Sachen zusammengepackt und Aarons Anruf entgegengenommen hatte. Unterwegs hielt ich noch an der Apotheke und kam vermutlich gegen halb neun zu Hause an. Damit hätte Daniel zwei Stunden Zeit gehabt, um Lacey vor meiner Praxis abzufangen, sie dorthin zu bringen, wo er sie gefangen hielt, ehe er ihre Leiche hinter dem Müllcontainer versteckte, und dennoch vor mir nach Hause zu kommen.

War das möglich?

«Was hat er getan, als er nach Hause kam?»

Melissa hakt einen Fuß hinter den anderen. Jetzt ist sie ein wenig angespannt; sie weiß, bei diesen Fragen geht es um etwas Persönliches.

«Er ist nach oben gegangen, um sich frisch zu machen. Ich glaube, er hat geduscht und sich umgezogen. Er sagte, er hätte den ganzen Tag im Auto gesessen. Dann kam er wieder herunter, als wir gerade Ihre Scheinwerfer in die Einfahrt schwenken sahen. Er hat ein paar Glas Wein eingeschenkt, und dann … sind Sie hereingekommen.»

Ich nicke und lächle, um ihr zu zeigen, dass ich dankbar für ihre Informationen bin, aber innerlich ist mir nach Schreien zumute. Ich erinnere mich ganz deutlich an diesen Augenblick. An den Augenblick, als Daniel zwischen den Leuten hervortrat und mit den Weingläsern in der Hand auf mich zukam, und ich erinnere mich an meine grenzenlose Erleichterung, als er mir den Arm um die Taille schlang und mich an sich zog. Er roch nach seinem würzigen Duschgel und lächelte sein Zahnpastalächeln. Ich weiß noch, wie glücklich ich war, so verdammt glücklich, in diesem Augenblick mit ihm an meiner Seite. Aber jetzt … frage ich mich unwillkürlich, was er unmittelbar davor getan hat. Ob er so intensiv nach Duschgel roch, weil er damit einen anderen Geruch überdeckt hatte. Ob sich die Kleidung, die er getragen hatte, bevor er sich umkleidete, überhaupt noch im Haus befand oder er sie irgendwo am Straßenrand entsorgt oder sogar verbrannt hatte, um jede Spur zu beseitigen, die ihn mit seinen Verbrechen in Verbindung bringen konnte. Waren an seiner Haut noch irgendwo Spuren von ihr, als wir in dieser Nacht nackt und ineinander verschlungen im Bett lagen? Eine Strähne ihres Haars, ein Tropfen ihres Bluts, ein abgerissener Fingernagel, der noch irgendwo steckte und erst noch gefunden werden musste? Dann überlege ich, was wir an dem Abend, an dem Aubrey verschwand, getan haben könnten, nachdem er heimgekommen war. War Daniel ebenso duschen gegangen, wie er es immer tat, wenn er nach einer langen, einsamen Autofahrt nach Hause kam? Habe ich an jenem Abend beschlossen, ihm dabei Gesellschaft zu leisten, und ihn entkleidet, während das Bad sich mit Wasserdampf füllte? Habe ich ihm geholfen, sie abzuwaschen?

Ich kneife mir in die Nase und schließe die Augen. Bei der bloßen Vorstellung wird mir übel.

«Chloe?», höre ich Melissa besorgt flüstern. «Alles in Ordnung?»

«Ja.» Ich hebe den Kopf und lächele matt. Die Bedeutung meiner Überlegungen senkt sich wie eine schwere Last auf meine Schultern herab. Meine mögliche Verstrickung erinnert mich an damals, vor zwanzig Jahren, als ich etwas sah, aber nicht begriff, was es bedeutete. Als ich einem Mörder unwissentlich Mädchen zuführte oder vielmehr den Mörder zu den Mädchen führte. Unwillkürlich frage ich mich: Wenn ich nicht gewesen wäre, würden sie dann noch leben? Alle?

Plötzlich bin ich müde. So unfassbar müde. Ich habe heute Nacht kaum geschlafen. Daniels Haut strahlte Hitze ab wie ein Hochofen – eine Warnung an mich, ihm nicht zu nahe zu kommen. Ich senke den Blick auf meine Schreibtischschublade, in der meine Tablettensammlung darauf wartet, aus der Dunkelheit hervorgewunken zu werden. Ich könnte Melissa freigeben. Ich könnte die Vorhänge zuziehen, all dem entfliehen. Es ist nicht einmal sieben Uhr morgens – genügend Zeit, um die heutigen Termine abzusagen. Aber das darf ich nicht. Ich weiß es.

«Wie sieht mein Terminkalender aus?»

Melissa zieht ihr Telefon aus der Tasche, ruft ihren Kalender auf und überfliegt die Termine des Tages.

«Sie sind ziemlich ausgebucht», sagt sie. «Viele verschobene Termine von letzter Woche.»

«Okay, und was ist mit morgen?»

«Morgen sind Sie bis vier Uhr ausgebucht.»

Seufzend massiere ich mir mit den Daumen die Schläfen. Ich weiß, was ich tun muss, habe nur keine Zeit, es zu tun. Ich kann nicht ständig meinen Klienten absagen, sonst habe ich bald keine mehr.

Trotzdem sehe ich vor mir, wie die Finger meiner Mutter fieberhaft über meine Handfläche tanzten.

Wie beweise ich das?

Daniel. Die Antwort lautet Daniel.

«Donnerstag ist noch ziemlich viel frei», sagt Melissa und wischt mit dem Zeigefinger über das Display. «Termine am Vormittag, aber keine nachmittags.»

«Okay.» Ich richte mich auf. «Blocken Sie mir bitte den Rest des Tages. Und Freitag auch. Ich muss verreisen.»